Marionetten, Stabpuppen u.a.
Kleine Wesen, große Gefühle
9. Oktober 2017
Vom antiken Griechenland über das mittelalterliche China bis zur Moderne – Puppenspiele gab es zu jeder Zeit an jedem Ort.
Da springt er leibhaftig auf die Bühne des kleinen Art- Déco-Theaters: Wolfgang Amadeus Mozart, fast in Lebensgröße im barocken Jabot-Hemd und Weste. Chaotisch fuchtelt er herum mit verrutschter Perücke, prüft die einzelnen Stimmen, die aus der Lautsprecherbox kommen, schüttelt resigniert den Kopf und verbeugt sich vor dem Publikum: Die Ouvertüre zum Don Giovanni soll nun beginnen – im Prager Nationaltheater für Marionetten.
Die meisten Menschen halten Marionetten für Kinderkram oder Kasperletheater, erinnern sich bestenfalls an Kater Mikesch, Jim Knopf, vielleicht noch Pinocchio. Nur wenige wissen, dass bereits in der Antike die Menschen die Puppen tanzen ließen, vermutlich zuerst in Persien. Griechische Philosophen waren von den „sich selbst bewegenden Erscheinungen“ (Aristoteles) aus Ton, Holz, Elfenbein und Wachs fasziniert, Platon sah in der an Fäden gezogenen Puppe das Symbol für den Menschen in der Hand der Götter. In China liebte man seit der Tang-Dynastie (7. bis 10. Jahrhundert n. u. Z.) alle Varianten des Puppentheaters: vom Stockpuppenspiel – der Puppenkopf sitzt auf einem starren Stock – über das Schattentheater bis hin zu Handpuppen.
Nach Deutschland fanden die Puppen vermutlich durch römische Wanderkomödianten im Gefolge der römischen Heere. Fahrende Spielleute und Schauspieler gehörten ohnehin zum Bild mittelalterlicher Märkte. Im schwarzen Mantel und Hut mit Krempe traten sie selbst oder mit Puppen und einem kleinen Gehäuse auf, das im Spätmittelalter in Deutschland als „Himmelreich“ bezeichnet wurde. Die Stoffe, die sie boten, handelten von Archaischem und Mythischem wie Himmel und Hölle, Gut und Böse. Besonders beliebt wurde das Drama „vom erschröcklichen Erzzauberer Johannes Fausten, seinem Seelenhandel mit dem Teufel und seiner schließlichen Höllenfahrt“. 1587 erstmals literarisch dargestellt, avancierte es zum beliebtesten Puppenspiel und wird Goethe, der als Kind leidenschaftlich mit dem Marionettentheater spielte, Jahrhunderte später zu seinem Faust inspirieren.
Zur gleichen Zeit im 16. Jahrhundert erlebt in Italien die Commedia dell’arte ihren Höhepunkt: Theater aus dem Stegreif, Liebes- und Verwechslungskomödien vom Feinsten, die das Hoftheater revolutionierten. Da die Dialoge schriftlich nicht fixiert wurden – tatsächlich war dies auch in den Zünften deutscher Wanderkomödianten so geregelt –, konnten die Komödianten Gesellschaftskritik üben, ohne gleich mit Zensur rechnen zu müssen. Hinter Masken aus Leder oder Holz taten sie dies auch, sei es als „fantoccini“, also als Puppen, oder als Menschen. In Monologen und Pantomimen repräsentierten und karikierten sie alle sozialen Schichten. Von der koketten Magd, die meist Columbina hieß, über den opportunistischen Brighella und den Schelm Arlecchino, der kein Fettnäpfchen auslässt, bis hin zum geizigen und reichen Kaufmann Pantalone und dem Phrasen dreschenden Dottore – in der Regel ein Jurist. Zwischen diesen Figuren bewegten sich die jungen Liebenden (Amorosi), die sich nach etlichen Komplikationen am Ende kriegen. Die Kostüme waren standardisiert, das Publikum erkannte seine Helden sofort.
Die ersten Marionetten-Opern in Venedig
Als im 17. Jahrhundert die Oper erfunden wurde, erlernten die Puppen bald auch das Singen. Es ist die Stunde des Filippo Acciaiuoli (1637–1700). Ab 1679 veranstaltete der Impresario, Librettist und Erfinder von Theatermaschinen und Tausendsassa die ersten Marionetten-Opern in Venedig. 15 kleine und acht große Theater zählte der Theaterbetrieb in Venedig im späten 17. und 18. Jahrhundert, die alle auf ihre Klientel zugeschnitten waren: San Moisè auf Opera buffa, San Luca und San Angelo auf Opera seria. Und das Marionettentheater, das Melodrama en miniature, fand im Casino des Abate Antonio Labia in der Pfarrei von San Girolamo de Cannaregio statt. Meist imitierte man hier die große Oper, die nebenan in „echt“ aufgeführt wurde. Ein Erlebnis für Groß und Klein, und kostenlos dazu. Denn Familie Labia sparte weder an Erfrischungen noch an üppigen Dekorationen oder an den prächtigen Kostümen für die bis zu 1,5 Meter hohen Figuren aus Holz oder Wachs; die Inszenierungen folgten detailliert den Aufführungen der Opera seria, verfügten übrigens auch über eine ähnliche Theatermechanik inklusive Schnürboden und Kulissenschub. Die Zwergenwelt faszinierte über die Grenzen hinaus: Adolf Hasse, seinerzeit an der Dresdner Hofoper engagiert, ließ in San Girolamo 1746 seine Oper Lo starnuto d’Ercole aufführen. Was nach erhabener Tragödie klingt, war eine Posse für Jung und Alt: Das Niesen des Herkules eben.
Am Teatro San Moisè in Venedig betrat 1746 ein damals 22-jähriger Altkastrat aus Padua die Bühne, der noch viel von sich reden machen sollte: Gaetano Guadagni. 1762 übernahm er die Titelpartie von Glucks Orfeo ed Euridice in der Uraufführung in Wien. Sein Gesang und die ergreifende Darstellung wurden allgemein bewundert. Im Alter kehrte er als wohlhabender Mann nach Padua zurück und richtete in seinem Anwesen ein Marionettentheater ein. Bei freiem Eintritt konnte man ihn dort in der Rolle seines Lebens hören, als Miniatur-Orfeo aus Holz. Sänger und Orchester standen hinter der Bühne.
Von Italien aus über ganz Europa
Wie die große Oper verbreitete sich auch die Oper en miniature von Italien aus über ganz Europa. In Frankreich hatte man allerdings wenig Humor. Die königliche Opéra in Paris besaß das Privileg für alle Musiktheateraufführungen. Keiner wagte es, den Intendanten Jean-Baptiste Lully (1632–1687), der sich vom florentinischen Müllersohn und Küchenjungen zu einem der mächtigsten Männer am Hof von Ludwig XIV. in Paris hochgearbeitet hatte, zu umgehen. Als ein Sänger der Opéra versuchte, 1675 Marionettenparodien von Lullys Opern herauszubringen, bekam er es gleich mit den Mächtigen zu tun. Das Unternehmen wurde vom Sonnenkönig verboten. Dem Spott konnte Lully dennoch nicht entgehen. 40 Jahre nach seinem Tod waren seine Tragédies en musique sehr beliebt bei Marionettenspielern auf den Pariser Jahrmärkten. Und auch die italienischen fantoccino-Truppen, die nun in London auftraten, hatten oft Satiren auf heroische französische Tragödien im Gepäck, als wollten sie sich dafür rächen, dass der Sonnenkönig sie 1697 aus Paris vertrieben hatte. „Punch’s theatre“ wurden sie in England genannt.
In Wien liebte man bereits im 17. Jahrhundert die Puppen. 1667 eröffnete der Italiener Peter Resonier das erste Marionettentheater deutscher Sprache und sein Pulcinella-Spieler Jogis Hilverding begründete eine regelrechte österreichische Puppenspieler-Dynastie. 100 Jahre später regierte Kaiserin Maria Theresia. „Wenn ich eine gute Oper hören will, komme ich nach Esterháza“, soll sie gesagt haben. Sie wusste, wovon sie sprach. Bei Fürst Nikolaus I. Esterházy, den man den „Prachtliebenden“ nannte, war finanziell nichts von Puppenformat. Das neue Marionettentheater, das er 1773 in Auftrag gab, war ausgestattet mit einer fantastischen Wassergrotte, deren Wände mit Diamanten und künstlichen Schnecken besetzt waren. Joseph Haydn, der in Diensten des Fürsten stand, übernahm die Leitung. Eröffnet wurde es mit seiner ersten Oper für Marionetten Philemon und Baucis, in Anwesenheit der Kaiserin. Das Werk gefiel Maria Theresia so gut, dass sie die ganze Marionettentruppe nach Schönbrunn einlud (das übrigens seit 1994 über eine eigene Bühne verfügt). Haydn lieferte weitere Werke für das Marionettentheater, darunter Hexenschabbas (1773), Die Feuersbrunst (1775–78), Genovevens vierter Theil (1777), Didone abbandonata (1778) und Die bestrafte Rachbegierde (1779). Und auch sein Schüler Ignaz Joseph Pleyel gab 1776 seine Marionettenoper Die Fee Urgèle oder: Was den Damen gefällt hier heraus.
Den intellektuellen Zeitgenossen der Aufklärung war das oft deftige, sinnliche Puppen-Volkstheater suspekt. Sie wünschten sich ein rationales bürgerliches Aufklärungstheater. Dennoch erkannten sie die erzieherische, gesellschaftliche und literarische Bedeutung des Puppentheaters. Großbürgerliche Familien hielten ihren Nachwuchs dazu an, im Marionetten- oder Papiertheater klassische Schauspiele oder berühmte Opern wie Carl Maria von Webers Freischütz nachzuspielen. Auch Goethe wird seinem Sohn August ein Figurentheater schenken mit selbst gemalten Dekorationen. Der eigentliche Kasper überlebte die Theaterreform der deutschen Aufklärung und Klassik vorerst nur in den Vorstadttheatern Wiens und auf der Puppenbühne. Und in Köln. 1802 eröffnete der Schneidergeselle Johann Christoph Winters das „Hänneschen“, das es bis heute noch gibt. Richtig populär wurde es mit den Stücken von Franz Graf von Pocci, den man „Kasperlgraf“ nannte. Die derbe hölzerne Komödie schien also für den mittleren biedermeierlichen Stand vorerst gerettet.
Die Puppen selbst aber wurden zum symbolischen Topos deutscher Dichter, zum Leitmotiv der schwarzen Romantik, etwa bei Brentano, Novalis, Mörike, Tieck und vielen anderen. Fasziniert waren die Poeten von der Anmut, dem Geheimnis, der Dämonie eines sich mechanisch bewegenden Objekts, von der Vorstellung, als Mensch ihm Leben einhauchen zu können. Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater geht in die Theatergeschichte ein. E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann regte Jacques Offenbach zu seiner fantastischen Oper Les contes d’Hoffmann an, die 1881 in der Opéra-Comique Paris uraufgeführte wurde. Im Mittelpunkt: Olympia, eine lebensgroße, bezaubernd aussehende mechanische Puppe, die fast perfekte Schöpfung des Physikers Spalanzani. Nur die Augen sind starr und tot. Spalanzani will die Puppe erwecken mithilfe eines optischen Geräts, das er beim mysteriösen Coppelius kauft. Hoffmanns Erzählung inspirierte auch Léo Delibes zu seinem Ballett Coppélia.
In den 1920er-Jahren kehrten die Puppen selbst auf die Opernbühne zurück: Auf Anregung des Dichters Federico García Lorca, der leidenschaftlich mit Marionetten experimentierte, komponierte Manuel de Falla den Marionetten-Einakter El retablo de maese Pedro nach einer Episode aus Cervantes« Don Quichotte (siehe auch S. 99). Das Werk wurde 1923 im Salon der Princesse de Polignac uraufgeführt, wo auch Picasso und Strawinsky verkehrten. Beim Komponieren seines Balletts Pétrouchka, sagte dieser, habe er das Bild einer Puppe vor Augen gehabt, die lebendig werde und am Ende traurig und kläglich zusammenbreche. Arthur Honegger komponierte Vérité? Mensonge? (1920) als Musik für ein Ballet de marionnettes. Ein Faible für Marionetten entwickelte auch Ottorino Respighi. Im Gegensatz zum Menschen empfand er sie als „die idealen Schauspieler“, weshalb er ihnen 1921 die Märchenoper La bella addormentata nel bosco komponierte. Auf Puppenbühnen ist das Werk heute allerdings kaum zu finden und auch nicht Saties Schattentheaterstück Geneviève de Brabant von 1900. Marionettentheater adaptieren lieber Singspiele von Mozart, Gluck, Rossini, Offenbach. Aber auch eine Ring-Kurzfassung gibt es.
Zurück also zu unserem leidgeprüften Mozart in Prag, mehr noch, zu seinem noch leidgeprüfteren Puppenspieler, der am Spielkreuz die schwere Figur führen muss. Sein Leid wäre noch größer in Vietnam. Dort stehen die Spieler bis zur Hüfte im Wasser, um die Puppen mithilfe eines sehr langen Stocks unsichtbar unter Wasser zu führen.