Gunter Herbig

Tönende Bilder

von Roland H. Dippel

27. Juli 2021

Kultureller Schmelztiegel! Gunter Herbig hat Kompositionen von Heitor Villa-Lobos für E-Gitarre transkribiert und unter dem Titel „Tristorosa“ ein Album aufgenommen.

Wenn der inter­kul­tu­relle Musik­wan­derer Gunter Herbig ein Album mit Werken von veröf­fent­licht, ist das im Vergleich zu seinen letzten Projekten ‚Main­stream‘. Voraus­ge­gangen waren eine mehr­tei­lige Antho­logie mit neusee­län­di­scher Gitar­ren­musik der Moderne und Klavier­tran­skrip­tionen des arme­ni­schen Multi­ar­tisten George Ivano­vich Gurd­jeff in Arran­ge­ments für E‑Gitarre. Diesem von Herbig in letzter Zeit offenbar bevor­zugten Instru­ment schreibt der in Brasi­lien gebo­rene, in und aufge­wach­sene und heute in lebende Inter­pret und Pädagoge eine philo­so­phi­sche Dimen­sion zu. Während die tradi­tio­nelle, einfache Gitarre mit ihrem im Volumen begrenzten Spek­trum für die Vergan­gen­heit und die Gegen­wart stehe, sei die E‑Gitarre mit ihren Möglich­keiten der dauernden Ausdeh­nung und arti­fi­zi­ellen Beein­fluss­bar­keit von Tönen nach deren Erzeu­gung das Instru­ment der Zukunft. Arran­ge­ments für E‑Gitarre sind demzu­folge eine Inves­ti­tion für die musi­ka­li­sche Bestands­si­che­rung.

Ästhe­tisch und künst­le­risch ist bei Heitor Villa-Lobos gegen diese Trans­for­ma­tion nichts einzu­wenden. Denn sogar Experten sind unsi­cher in der Krite­ri­en­de­fi­ni­tion dafür, wo im Schaffen von Villa-Lobos die Grenzen zwischen origi­nären Kompo­si­tionen und Bear­bei­tungen anzu­setzen seien. Zudem gehören dessen in Paris und nach einer inten­siven Ausein­an­der­set­zung mit entstan­denen Kompo­si­tionen zu seinen bekann­testen und belieb­testen. Bach ist der Gegenpol zur den von brasi­lia­ni­scher Folk­lore beein­flussten Werken. Aber die Gitarre bedeu­tete für den Brasi­lianer Villa-Lobos auch Mate­rial gewor­denes Symbol für den kultu­rellen Schmelz­tiegel der Straßen sowie deren faszi­nie­rendes Erleb­nis­po­ten­zial – sinn­lich wie unvoll­kommen.

In den Tonschlangen, Akkorden, Zäsuren und Motiv­frag­menten der Suite popu­laire brési­li­enne implan­tierte Villa-Lobos die akus­ti­sche Begrenzt­heit der tradi­tio­nellen Gitarre genau wie Bach im Falle jene der ihm im 18. Jahr­hun­dert zur Verfü­gung gestan­denen Cembali. Das barocke Musik­genie und der brasi­lia­ni­sche Natio­nal­kom­po­nist kämpften also an der glei­chen Front mit Tempo­vor­stel­lungen und explizit hoher Spiel­ge­schwin­dig­keit gegen die ‚Unzu­läng­lich­keiten‘ ihrer Instru­mente. Deren klang­liche Kapa­zi­täten bestimmten demzu­folge den musi­ka­li­schen Gehalt der Kompo­si­tionen. Durch die E‑Gitarre enthe­belt Herbig diese Verflech­tung von Kompo­si­tionen und deren vom Kompo­nisten berück­sich­tigter Klang­ge­stalt. Obwohl die Kinder­jahre seines Instru­ments, das in der Neuen Musik wie beim Münchener Festival aDevantgarde.16 einen Trend­schub erlebt, vorbei sind, bleiben Herbigs tönende Bilder noch immer Stra­ßen­musik. Aller­dings in einem gentri­fi­zierten Quar­tier mit gerei­nigten Trot­toirs, Hunde­kot­säck­chen-Boxen und leeren Avenidas, auf denen es nur selten zu elek­tri­sie­renden Begeg­nungen kommt, weil alle im Auto oder auf dem Velo ihre ziel­ori­en­tierten Wege nehmen.

Fotos: Diana Ruth