Herbert Blomstedt
Jubelstimmung und Melancholie
1. September 2021
Herbert Blomstedt dirigiert das Gewandhausorchester bei Johannes Brahms’ Zweiter Sinfonie.
Gerne schwafelt man in unserer Branche von Altersweisheit und Abgeklärtheit, wenn die Höhersemestrigen ans Pult treten. Bei Herbert Blomstedt mag das schon auch alles stimmen – aber zugleich ist es ganz anders: Er schafft es nämlich auch noch in biblischem Alter, wie der Jüngste, Aufgeweckteste auf dem Podium zu wirken, der die jeweiligen Partituren trotz enormer Erfahrung immer wieder aufs Neue zu entdecken und sich in sie zu verlieben scheint.
Im Oktober 2019 kehrte der damals 92-Jährige an eine seiner langjährigen Wirkungsstätten zurück, nach Leipzig zum Gewandhausorchester, deren Ehrendirigent er ist. Bei dieser als Liveaufnahme ausgewiesenen Produktion macht sich freilich keinerlei Publikum störend bemerkbar: In einem plastisch aufgeschlüsselten, aber doch homogenen Klangbild, das auf wunderbar sonoren Bassstimmen fußt, ereignet sich in Brahms« Zweiter Sinfonie (fast) alles zugleich – einer souveränen Ausgewogenheit verpflichtet, die niemals nach Entscheidungsschwäche oder Kompromissen riechen würde.
Fesselnde Erzählung in Tönen
Füllig und biegsam, kantig und elegant, intim und groß, überschäumend und melancholisch entfalten sich die einzelnen Sätze als fesselnde Erzählung in Tönen. Nur den Schluss des Finales legt Blomstedt bewusst nicht so brillant an, wie man es vielleicht erwartet hätte – und nährt damit sanft lächelnd die Zweifel daran, dass Brahms wirklich so sorglos und festlich-frohgestimmt war, wie es hier den Anschein hat. Das betont die zugrundeliegende Melancholie des Werks, das wie der prachtvolle Sommermorgen nach einer Gewitternacht wirkt: Deren Stürme sind noch nicht vergessen. Das kunstvolle Studentenlieder-Potpourri der Akademischen Festouvertüre ist da in pfiffig-keckem Tonfall und jugendlich wirkendem Überschwang ein willkommenes Encore.