Herbert Blomstedt

Jubel­stim­mung und Melan­cholie

von Walter Weidringer

1. September 2021

Herbert Blomstedt dirigiert das Gewandhausorchester bei Johannes Brahms’ Zweiter Sinfonie.

Gerne schwa­felt man in unserer Branche von Alters­weis­heit und Abge­klärt­heit, wenn die Höher­se­mes­trigen ans Pult treten. Bei mag das schon auch alles stimmen – aber zugleich ist es ganz anders: Er schafft es nämlich auch noch in bibli­schem Alter, wie der Jüngste, Aufge­weck­teste auf dem Podium zu wirken, der die jewei­ligen Parti­turen trotz enormer Erfah­rung immer wieder aufs Neue zu entde­cken und sich in sie zu verlieben scheint.

Herbert Blomstedt
Herbert Blom­stedt am Pult seiner lang­jäh­rigen Wirkungs­stätte, dem
(Foto: © Martin U. K. Lenge­mann)

Im Oktober 2019 kehrte der damals 92-Jährige an eine seiner lang­jäh­rigen Wirkungs­stätten zurück, nach Leipzig zum Gewand­haus­or­chester, deren Ehren­di­ri­gent er ist. Bei dieser als Live­auf­nahme ausge­wie­senen Produk­tion macht sich frei­lich keinerlei Publikum störend bemerkbar: In einem plas­tisch aufge­schlüs­selten, aber doch homo­genen Klang­bild, das auf wunderbar sonoren Bass­stimmen fußt, ereignet sich in Brahms« Zweiter Sinfonie (fast) alles zugleich – einer souve­ränen Ausge­wo­gen­heit verpflichtet, die niemals nach Entschei­dungs­schwäche oder Kompro­missen riechen würde.

Fesselnde Erzäh­lung in Tönen

Füllig und biegsam, kantig und elegant, intim und groß, über­schäu­mend und melan­cho­lisch entfalten sich die einzelnen Sätze als fesselnde Erzäh­lung in Tönen. Nur den Schluss des Finales legt Blom­stedt bewusst nicht so bril­lant an, wie man es viel­leicht erwartet hätte – und nährt damit sanft lächelnd die Zweifel daran, dass Brahms wirk­lich so sorglos und fest­lich-froh­ge­stimmt war, wie es hier den Anschein hat. Das betont die zugrun­de­lie­gende Melan­cholie des Werks, das wie der pracht­volle Sommer­morgen nach einer Gewit­ter­nacht wirkt: Deren Stürme sind noch nicht vergessen. Das kunst­volle Studen­ten­lieder-Potpourri der Akade­mi­schen Fest­ou­ver­türe ist da in pfiffig-keckem Tonfall und jugend­lich wirkendem Über­schwang ein will­kom­menes Encore.