Hermann Nitsch

»In der Ehrlich­keit der Zeit«

von Ruth Renée Reif

2. Juni 2023

Im Sommer 2022 begann auf Schloss Prinzendorf das erste Sechs-Tage-Spiel des Orgien Mysterien Theaters ohne seinen Begründer Hermann Nitsch. Er war am 18. April 2022 verstorben. Ein Doppelalbum dokumentiert die Musik der beiden Aufführungstage.

Aus Geräu­schen erhebt sich ein Klang. Er tönt fort und fort, chan­giert nur ein wenig in seinen Klang­farben. Allmäh­lich stei­gert er sich in seiner Inten­sität und Laut­stärke, um mit seiner Wucht alle Geräu­sche zu über­tönen. Abrupt bricht er ab, bis auf einen zarten Bläserton. Die Geräu­sche werden wieder hörbar. Man vernimmt Gespräche, Geklapper und ferne Rufe. Dann ertönt der Pfiff einer Tril­ler­pfeife. Damit pflegte das Signal zum Beginn der Aktion zu geben. Über einem Aktio­nisten, der mit verbun­denen Augen an ein kreuz­för­miges Holz­ge­stell gefes­selt war, wurde der Kadaver eines Tieres ausge­weidet. Als der Klang aber­mals abbricht, sind die Gespräche und Geräu­sche verstummt. Man vernimmt nur einen schwa­chen singenden Klang.

Hermann Nitsch
Schöpfer des Orgien Myste­rien Thea­ters: Hermann Nitsch (1938–2022)

Das Orgien Myste­rien Theater ist Hermann Nitschs Lebens­werks. Entworfen bereits während seines Studiums, führte er es 1998 mit dem ersten Sechs-Tage-Spiel zur Voll­endung. Und es war sein Wunsch, dieses Sechs-Tage-Spiel Jahr für Jahr auf seinem nieder­ös­ter­rei­chi­schen Schloss Prin­zen­dorf aufzu­führen. Diese Tradi­tion sollte auch nach seinem Tod fort­ge­setzt werden. In einem Gesprächs­band mit Dani­elle Spera wünschte er sich, dass sein Theater so tief „in der Ehrlich­keit der Zeit“ stehe, dass es bleibe. Aufge­schrieben hat er dafür eine 2700-seitige Partitur. 2022 war es zum ersten Mal so weit, dass die Auffüh­rung seines Thea­ters ohne ihn statt­finden musste. Am 18. April 2022 war Hermann Nitsch gestorben. Im Sommer darauf wurde zwei Tage lang gespielt. Die Musik für den Morgen des ersten Tages und das Finale des zweiten Abends sind auf dem Doppel­album zu hören.

Zur Nota­tion verwen­dete Nitsch nicht das tradi­tio­nelle System. Die Art seiner Nota­tion verän­derte sich mit jeder Auffüh­rung. Von 1966 bis 1977 habe er bei seinen Aktionen die Musiker nur lärmen lassen. Für das Sechs-Tage-Spiel legte er detail­lierte Parti­turen auf Milli­me­ter­pa­pier vor. Nitsch bezeich­nete sie als Struk­tur­par­ti­turen. In die Hori­zon­tale trug er die Dauer ein, wobei ein Milli­meter für eine Sekunde steht, die Breite der jewei­ligen Linien gibt die Inten­sität an und zwar sowohl was die Laut­stärke als auch die Zahl der Instru­mente betrifft. Ein An- und Absteigen der Linien verweist auf Verän­de­rungen. Tonhöhen und Harmo­nien gab Nitsch nicht vor.

Der Musik kam in Nitschs Theater eine wich­tige Rolle zu. Denn es war sein Anliegen, dass sein Theater als Gesamt­kunst­werk über alle Sinne rezi­piert wurde. Bei einer Aktion in London 1966, bei der auch anwe­send war, brachte er zum ersten Mal ein Orchester zum Einsatz. Sein Ideal war es, „aus dem Orchester eine riesige Orgel aufzu­bauen“. Befasst hat er sich bereits seit seiner Jugend mit klas­si­scher Musik. Und bei seinen Aktionen setzte er früh den Schrei ein, der für ihn neben dem Lärm die Wurzel aller Musik darstellte und dem er eine „psycho­ana­ly­ti­sche Funk­tion“ zuschrieb. Sein Orgien Myste­rien Theater mit Musik auszu­statten, war ihm eben­falls ein frühes Anliegen. Aller­dings sollte die Musik keine illus­trie­rende und auch nicht beglei­tende Aufgabe erhalten, sondern mit den Aktionen in Wech­sel­wir­kung treten. Dem Doppel­album kommt daher vor allem ein doku­men­ta­ri­scher Wert zu.

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Weitere Informationen zu Hermann Nitsch und seinem Orgien Mysterien Theater auf der Website der Nitsch Foundation: www.nitsch-foundation.com

Weitere Informationen zu Ausstellungen und Aufführungen im Hermann Nitsch Museum in Mistelbach auf: www.nitschmuseum.at

Fotos: Booklet des Albums / Daniel Feyerl, Trost Records