Hidalgo
Das Lied als Revolution
von Maria Goeth
14. Dezember 2021
Hidalgo zählt zu den spannendsten jungen und innovativen Klassikfestivals mit Schwerpunkt Lied weltweit. Ein Gespräch mit dem Gründer und künstlerischen Leiter Tom Wilmersdörffer
CRESCENDO: Herr Wilmersdörffer, von Schubert-Liedern als RaumKlang-Installation in einem Münchner Pop-up-Hotel bis hin zur Kombination von düsterer Musik Schostakowitschs mit Statements von aktuellen Umweltaktivisten – der Ideenreichtum von Hidalgo ist gewaltig. Was waren Ihre persönlichen Highlights in der fünfjährigen Geschichte des Festivals?
Tom Wilmersdörffer: Tatsächlich gab es bei den bisher vier Festivalausgaben eine wahnsinnige Varianz an Formaten. Letztes Jahr inszenierten wir zum Thema „Scheitern“ in unserem „Box-Salon“ Lieder von John Dowland und Kurt Weill als Geschichte einer Boxerin, die den Kampf ihres Lebens verloren hat und sich durch die fünf Trauerphasen zurück ins Leben kämpft. In der Mitte der Inszenierung gab es einen echten Boxkampf. Dieses Konzept ging wahnsinnig gut auf. Die Produktion wird nun auch im Schwarzwald und beim Mozartfest Augsburg gastieren. Dieses Jahr lag mir die Produktion „Rape & Culture“ sehr am Herzen, ein Musiktheater über eine Sängerin, die von ihrem Mentor vergewaltigt wird. Die Fiktion wird durch echte Interviews mit Betroffenen aufgebrochen. Außerdem wird der Abend über Machtmissbrauch und Abhängigkeiten von einem vierköpfigen Tanzensemble flankiert. Mit diesem Projekt haben wir ein sehr wichtiges und notwendiges politisches Zeichen gesetzt und uns auch innerhalb der Szene positioniert: Wir wollen nicht nur „L’art pour l’art“ machen, sondern uns künstlerisch mit brennenden Themen auseinandersetzen.
»Uns geht es darum, mit den Mitteln der Kunst die Gesellschaft zu reflektieren und uns mit der Welt auseinanderzusetzen, in der wir leben.«
Im Credo von Hidalgo heißt es: „Wir kämpfen mit dem Lied, der Musik und allen Künsten gegen sexualisierte Gewalt, gegen gefährlichen Rassismus und gegen das verantwortungslose Nichtstun angesichts des Klimawandels“. Überschätzen Sie die Macht der Kunst nicht doch ein wenig?
Das ist natürlich zugespitzt formuliert. Uns geht es darum, mit den Mitteln der Kunst die Gesellschaft zu reflektieren und uns mit der Welt auseinanderzusetzen, in der wir leben. Im Theater und in der bildenden Kunst ist das viel üblicher als in der klassischen Musik. Früher war es auch dort gang und gäbe: Die Musik hat die Zeit beeinflusst und die Zeit die Musik. Dass klassische Musik als Fenster nur in die Vergangenheit behandelt wird, ohne den Anspruch, die Gegenwart zu reflektieren, ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Ob man etwas verändern kann, ob Kunst revolutionäres Potenzial hat, ist ein riesiges Thema. Uns geht es darum, eine Debatte anzustoßen und am Laufen zu halten.
Erreicht man im Konzert nicht die falschen Menschen, nämlich solche, die vermutlich ohnehin schon im Diskurs stehen?
Das würde ich verneinen! Gerade Hidalgo bringt so viele unterschiedliche Publikumssphären zusammen: ein Staatsopern-AboPublikum ebenso wie eine interessierte Clubszene. Allein dadurch bewegen wir uns außerhalb bestimmter Blasen beziehungsweise erzeugen Begegnungen abseits jener Blasen. Zum Thema sexualisierte Gewalt haben wir bereits im Vor- und Umfeld Diskussionen angestoßen, Dinge hinterfragt, einen Diskurs in Bereiche getragen, die sonst vielleicht nicht so zugänglich dafür sind. Das Klassikpublikum bewegt sich nicht zwingend in einer linksalternativen Blase, sondern ist oft sehr konservativ. Dadurch hat man interessante Diskussionspunkte. Es geht nicht darum, eine Haltung oder feste Meinung zu transplantieren, sondern Diskursformen zu öffnen. Das ist das, was Kunst kann!
»Wir müssen, auf den Schultern von Riesen stehend, immer wieder neue Antworten finden, neue Wege und Blickwinkel, um alte, aber ewige Geschichten und Gefühle zu erzählen.«
Ein Liederabend ist vielleicht das simpelste funktionsfähige Kulturformat. Braucht es da „Geschmacksverstärker“ durch weitere Darstellungsebenen? Läuft man da nicht Gefahr einer Eventisierung?
Genauso könnte man fragen, ob ein Gedicht den „Geschmacksverstärker“ der Musik braucht. Lied lädt zu einer Öffnung ein, weil es schon in sich eine zusammengesetzte Form aus Text- und musikalischer Ebene ist. Es geht nicht um Event, es geht um Erleben! Idealerweise schaffen wir künstlerische Erlebnisse, die uns sowohl emotional als auch intellektuell tief berühren. Für mich ist künstlerische Maßgabe, dass am Ende etwas entsteht, bei dem die Rezipienten eine neue Perspektive bekommen, sei es intellektuell, emotional oder anders – etwas, das so noch nie da gewesen ist, evoziert durch einen Bruch oder einfach eine andere Art von Erlebnis. Der traditionelle Liederabend hat seine Berechtigung und ist ein wertvolles Stück Kulturgut. Aber – und das macht zeitgenössische Kunst aus – wir müssen, auf den Schultern dieser Riesen stehend, immer wieder neue Antworten finden, neue Wege und Blickwinkel, um alte, aber ewige Geschichten und Gefühle zu erzählen. Unsere Mission ist zu fragen: Was ist das Kunstlied des 21. Jahrhunderts? Und da denken wir in zusammengesetzten Formen: Lyrik, Musik und was noch? Wir leben nun mal in einem visuellen Zeitalter.
Wie kam es zur Gründung von Hidalgo?
Vor fünf Jahren saß ich in einem klassischen Konzert im Brunnenhof der Münchner Residenz. Es war schön, aber es legte einen Schalter in mir um. In München gibt es mit der Bayerischen Staatsoper, der Philharmonie im Gasteig etc. sehr viel Hochkultur, aber wenig Lied! Und auf der anderen Seite die immer weiter wachsende junge Szene mit Orten wie dem alternativen Kulturzentrum Bahnwärter Thiel. Das Bindeglied zwischen diesen Welten fehlte. Und mir war klar: Da muss man was machen! Also saß ich zwei Nächte und schrieb Konzepte für Formate, die man ausprobieren könnte. Damit ging ich zu meinem Netzwerk. Von Anfang an war wichtig: Es muss interdisziplinär sein. Im November des gleichen Jahres gründeten wir unseren Trägerverein.
Der „Hidalgo“ ist ein niederer spanischer Adliger, ein Freidenker und Draufgänger…
Im Studium stolperte ich über das gleichnamige Lied von Robert Schumann. Den Spirit dieses Liedes fand ich toll, weil es nicht so typisch nach innen gerichtet ist, sondern Vorwärtsdrang, Streitlust und Mut zur Konfrontation ausstrahlte. So war der Name schnell gefunden.
Haben Sie das Lied schon aufgeführt?
Dieses Jahr haben wir einen „Art Song Battle“ veranstaltet, bei dem wir verschiedene Nachwuchs-Lied-Duos im Stil der Poetry Slams gegeneinander antreten ließen. In der riesigen Halle des ehemaligen Betonwerks Sugar Mountain positionierten wir die Duos verstreut. Zum Abschluss des Wettstreits sangen wir alle zusammen den Hidalgo – ein sehr cooles Erlebnis!
Hidalgo spielte schon in einer Kletterhalle und einem Friseursalon, in einem Parkhaus und einer Disco. Kreative Orte in allen Ehren, aber bringt das nicht auch eine Menge akustische und logistische Probleme mit sich?
Man kann auch an sehr ungewöhnlichen Orten tolle Akustik finden! Und es eröffnet neue Erfahrungsweisen. Wir wollen zeigen: Kunstlied und klassische Musik funktionieren für sich. Sie sind nicht gebunden an den Ort Konzertsaal, nicht gebunden an die Etikette, die dort vorherrscht. So führen wir das Musikerlebnis im Grunde wieder auf sich selbst zurück. Außerdem entsteht ein zusätzlicher Perspektivwechsel, um Dinge zu hinterfragen und aufzubrechen. Wir gehen immer inhaltlich auf die Orte ein, setzen uns künstlerisch damit auseinander. Der Ort wird Teil des Gesamterlebens. In der bildenden Kunst ist es selbstverständlich, dass die Wirkung eines Bildes an einem bestimmten Ort mitgedacht wird.
»Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts hat Lyrik und Musik dekonstruiert. Unsere Aufgabe ist es, aus den formalen Scherben spartenübergreifend neue Formen zu schaffen.«
„Alles ist erlaubt, was sich zu etwas Größerem zusammenfügt“, ist Ihr Credo. Gibt es auch eine Grenze, die nicht überschritten werden darf?
Alles muss einen künstlerischen Mehrwert haben. Und die musikalische Qualität steht ganz oben. Wenn diese leidet, wäre das für mich eine nicht diskutable Grenzüberschreitung. Ansonsten gibt es kaum etwas, bei dem ich von vornherein sagen würde: „Das geht nicht.“ Die Frage ist: Braucht es das, und kann man es zu etwas künstlerisch Wertvollem verbinden?
Ihr Wunsch für die Zukunft?
Eine institutionelle Förderung zu bekommen, um dann auch ganzjährig spielen und uns vollständig in der europäischen Kulturlandschaft etablieren zu können! Dafür sind wir beispielsweise auch schon mit einem großen skandinavischen Opernhaus im Gespräch. Unser Thema für nächstes Jahr ist übrigens „Mensch und Maschine“. Das wollen wir ausloten, um möglichst organische und spannende Kunstwerke zu schaffen. Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts hat Lyrik und Musik dekonstruiert. Unsere Aufgabe ist es, aus den formalen Scherben, die uns das vergangene Jahrhundert hinterlassen hat, spartenübergreifend neue Formen zu schaffen.
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Festival Hidalgo unter: hidalgofestival.de
Hier finden Sie mehr zur Geschichte des Minnesangs