Jan Lisiecki

Die Macht des Zufalls

von Sina Kleinedler

21. Dezember 2019

Aus einem spontanen Einspringen wurde eine der spannendsten Aufnahmen zum Beethoven-Jahr. Jan Lisiecki nahm im Berliner Konzerthaus mit der Academy of St Martin in the Fields sämtliche Klavierkonzerte Beethovens auf.

Aus einem spon­tanen Einspringen wurde eine der span­nendsten Aufnahmen zum Beet­hoven-Jahr. nahm im Berliner Konzert­haus mit der Academy of St Martin in the Fields sämt­liche Klavier­kon­zerte von Beet­hoven auf.

Im Dezember 2018 musste aus gesund­heit­li­chen Gründen einen Zyklus der Beet­hoven-Klavier­kon­zerte absagen. Der junge Pianist Jan Lisiecki sprang spontan für ihn ein und begeis­tert jetzt mit seiner Inter­pre­ta­tion der fünf Reper­toire-Giganten.

CRESCENDO: War es eine spon­tane Idee, aus dem „Einspringer“-Zyklus eine CD-Aufnahme zu machen? 
Jan Lisiecki: Total spontan! Ich wusste erst einen Monat vorher, dass ich die Konzerte über­haupt spielen würde. Wir dachten, viel­leicht sollten wir sie aufnehmen – nur so als Erin­ne­rung, falls alles gut geht und das Zusam­men­spiel funk­tio­niert. Der Vorteil war, dass die Aufnahme dadurch ohne den Druck entstand, sie zu veröf­fent­li­chen.

Spielen Beet­hoven: Jan Lisiecki und die Academy of St Martin in the Fields im Berliner Konzert­haus

(Foto: Peter Rigaud)

CRESCENDO: Statt das Angebot anzu­nehmen, nur eines oder zwei der Konzerte auszu­wählen, haben Sie sich dazu entschlossen, den ganzen Zyklus der Klavier­kon­zerte von Beet­hoven zu spielen und sogar die von Murray Perahia ausge­wählte paar­weise Vertei­lung der Konzerte auf die einzelnen Abende über­nommen. Haben Sie die fünf Konzerte immer abruf­be­reit? 
Jan Lisiecki: Manches hat man besser in den Fingern als anderes. In der letzten Saison habe ich einige der Konzerte gespielt. Es gab also keine komplette Beet­hoven-Dürre. Aber natür­lich ist die kurz­fris­tige Vorbe­rei­tung auf eine so inten­sive Phase ein ziem­li­ches Unter­nehmen. Neben vielen Reisen und einer enormen Menge an Reper­toire.

Jan Lisiecki: »Das Über­ra­schende, Uner­war­tete kann einem viel Stress bereiten, aber auch viel Freude.« 

(Foto: Chris­toph Köstlin)

CRESCENDO: Der Beet­hoven-Zyklus war nicht Ihr einziges Enga­ge­ment in dieser Zeit… 
Jan Lisiecki: Weil es ein „Einspringer“ war, hatte ich noch viele andere Konzerte drum­herum. Ich erin­nere mich, dass ich von nach London zu den Proben geflogen bin und danach sofort weiter nach . Direkt nach dem Konzert in Lissabon ging es nach und von dort zurück nach . Dadurch entstanden komplett verrückte Situa­tionen. Wäre das ein paar Saisons früher geplant worden, wäre das sicher so niemals der Fall gewesen. Das hat ziem­lich viel Fokus gefor­dert.

Ein neuer Partner für Jan Lisiecki: die Academy of St Martin in the Fields

(Foto: Benjamin Ealovega)

CRESCENDO: Und die Academy of St Martin in the Fields war bei den Klavier­kon­zerten von Beet­hoven ein neuer Partner für Sie? 
Jan Lisiecki: Ja! Wir haben zwar eine Tour gemeinsam geplant, aber erst in der üächsten Saison. Es war also Mal, dass wir uns getroffen haben – ein weiterer Unsi­cher­heits­faktor. Wir alle sind gute Musiker, aber das heißt nicht unbe­dingt, dass wir uns auch gut verstehen und gut zusam­men­passen.

CRESCENDO: Denken Sie, diese Unge­wiss­heit hat zur „Leben­dig­keit“ der Aufnahme beigetragen? 
Jan Lisiecki: Ich denke schon. Das Über­ra­schende, Uner­war­tete kann einem viel Stress bereiten, aber auch viel Freude. Hätte ich es schon Jahre im Voraus geplant, hätte ich viel­leicht eine detail­lier­tere Vorbe­rei­tungs­zeit gehabt – mehr Zeit, über Dinge nach­zu­denken. Aber manchmal braucht man eben auch das Gegen­teil: Spon­ta­neität, Energie, Impul­si­vität. Ob es dasselbe Ergebnis geworden wäre, wenn ich mich jahre­lang in der Partitur verbud­delt und auf die Aufnahme vorbe­reitet hätte? Viel­leicht wäre das Ergebnis ganz anders geworden, aber das ist okay! Es ist eben eine Moment­auf­nahme dieser Konzerte im letzten Dezember.

CRESCENDO: Schon da wurde immer wieder erwähnt, dass Sie „anstelle von“ Murray Perahia spielen. Wie stehen Sie zu solchen Einsprin­gern – Fluch oder Segen? 
Jan Lisiecki: In jedem Fall eine wirk­lich große Verpflich­tung. Beson­ders in einem Fall wie diesem. Ich verehre Murray Perahia sehr. Das sind ziem­lich große Fußstapfen, in die man da treten muss. Hätte ich Tickets für sein Konzert und jemand anderer würde spielen, wäre ich sehr enttäuscht. Für ihn einzu­springen heißt nicht, dass ich besser spielen will als er. Ich will daraus mein eigenes Konzert machen. Das Publikum, das die Tickets für Murray Perahia gekauft hat, freut sich auf das, was man von einem seiner Konzerte erwartet: einen groß­ar­tigen Auftritt, einen tollen Abend, etwas, das in Erin­ne­rung bleibt. Und ich hoffe, dass ich ihm das auch mit meinem Konzert geben kann. Das war immer meine Einstel­lung zu Einsprin­gern. Trotzdem kann es manchmal sehr belas­tend sein. Man möchte sich selbst präsen­tieren, aber gleich­zeitig auch respekt­voll gegen­über der Person sein, die man vertritt.

Jan Lisiecki: »Beet­ho­vens Klavier­kon­zerte erzählen eine Geschichte.«

(Foto: Chris­toph Köstlin)

CRESCENDO: Wie war Ihre erste Begeg­nung mit den Klavier­kon­zerten von Beet­hoven? 
Jan Lisiecki: Ich erin­nere mich, dass ich zuerst das Dritte Konzert gelernt habe. Es war eigent­lich eine natür­liche Evolu­tion vom Mozart­spielen – vor allem dem d‑Moll-Konzert – zu Beet­hoven. Ein ganz logi­scher Schritt. Es ist das „mitt­lere“ der Konzerte und kein „früher“, oder „später“ Beet­hoven, sondern irgendwo dazwi­schen. Von da aus lernte ich die anderen vier. Einige habe ich unend­lich oft auf Tour gespielt. Das Erste und Zweite sind die beiden Konzerte, die am seltensten gespielt werden, gene­rell und auch bei mir persön­lich. Ich habe sie fast ausschließ­lich im Rahmen solcher Beet­hoven-Zyklen gespielt. Ich möchte die beiden in Zukunft aber auch einzeln spielen – sie verdienen ihre Zeit im Rampen­licht!

CRESCENDO: Wie empfinden Sie das Verhältnis der fünf Klavier­kon­zerte von Beet­hoven zuein­ander? 
Jan Lisiecki: Ich denke, jedes hat seinen Platz, und man fühlt immer diese Beet­hoven-Textur. Aber was ich wirk­lich an ihnen liebe, ist, dass sie so wunderbar zusammen funk­tio­nieren. Sie erzählen eine Geschichte: Beet­ho­vens Reise, die Art, in der er seinen Stil verän­dert und weiter­ent­wi­ckelt. Er hat das Klavier­kon­zert in seiner Defi­ni­tion komplett verän­dert. Vom tradi­tio­nellen Stil ausge­hend hat er immer unge­wöhn­li­chere Ideen hinzu­ge­fügt. So offen­sicht­liche Dinge wie die Kadenz wegzu­lassen oder dass das Klavier allein beginnt. Ich denke, der Anfang des Vierten Konzertes ist der stres­sigste, unge­wöhn­lichste und ergrei­fend-schönste aller Konzerte, die für das Klavier geschrieben worden sind.

Jan Lisiecki: »Ab und zu ist es wichtig, den histo­ri­schen Kontext zu vergessen.«

(Foto: Chris­toph Köstlin)

CRESCENDO: Das Cover zeigt Sie sehr ernst. Eine Beet­hoven-Anspie­lung? 
Jan Lisiecki: Das Foto ist noch vom Shoo­ting für mein Mendels­sohn-Album. Damals hatte ich über­haupt keine Ahnung, dass ich in diesem Jahr auch noch eine Beet­hoven-CD aufnehmen würde. Ich dachte einfach, dass es gut passt. Es ist wirk­lich sehr ernst, aber es gibt ja auch keinen Grund, auf einem Beet­hoven-Cover breit zu grinsen.

CRESCENDO: Finden Sie es wichtig, sich mit den histo­ri­schen und biogra­fi­schen Hinter­gründen eines Stückes ausein­an­der­zu­setzen? 
Jan Lisiecki: Hm, darauf gibt es keine leichte Antwort. Ich denke, es ist schon wichtig zu wissen, was passiert ist, und sich zu bilden. Ande­rer­seits denke ich nicht, dass Musik zwin­gend histo­ri­sche Werte enthalten muss. Wenn man sich andere Kunst­formen anguckt, ist es, glaube ich, sehr ähnlich. Manchmal hilft das Wissen, manchmal verän­dert es die Sicht­weise – oft bin ich nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. Wir denken Emotionen für Kompo­nisten nach. Aber sind die Stücke immer eine Refle­xion? Okay, Beet­hoven war taub, als er das Fünfte Konzert kompo­nierte, er konnte es nicht mehr selbst aufführen – aber was bedeutet das? Hat es eine Rele­vanz für dieses Meis­ter­werk? Ab und zu ist es genauso wichtig, den histo­ri­schen Kontext zu vergessen.

CRESCENDO: Sie haben, auch ohne für jemanden einzu­springen, einen sehr vollen Termin­ka­lender. Woher nehmen Sie diese Energie?
Jan Lisiecki: Das gehört einfach zu meiner Person. Da habe ich Glück: Die Energie kommt von innen. Man muss konti­nu­ier­lich Inspi­ra­tion finden. Auch wenn ich mal müde bin, habe ich meis­tens kein Problem damit, jeden Tag mit einem Lächeln aufzu­wa­chen.

CRESCENDO: Ziem­lich hilf­reich ist sicher, dass Sie gern reisen. Anders als Beet­hoven muss man heute ja nicht mehr die Kutsche nehmen… 
Jan Lisiecki: Zum Glück nicht!

Jan Lisiecki: »An irgend­einem Punkt meines Leben möchte ich alle Länder gesehen haben.«

(Foto: Chris­toph Köstlin)

CRESCENDO: Zu seiner Zeit war man noch „gut bewan­dert“, weil man auf den langen Reisen viel sehen und lernen konnte. Ist es beim heutigen Reise­tempo noch möglich, eine Stadt richtig kennen­zu­lernen, wenn man für ein Konzert nur wenige Tage dort ist? 
Jan Lisiecki: Ich würde sagen, das ist ziem­lich subjektiv. Die allge­meine Annahme ist ja, dass Künstler nichts von den Städten sehen. Ich kenne wirk­lich einige Kollegen, die sehr zufrieden damit sind, vom Hotel­zimmer zum Konzertort zu fahren, aufzu­treten, zurück ins Hotel­zimmer zu gehen und dann weiter­zu­fliegen. Für mich wäre das unvor­stellbar. Ich muss raus­gehen, mir Sachen ansehen. Ich bin, wie gesagt, eine ener­gie­ge­la­dene Person. Für mich ist es ähnlich wie in der Musik: Eine Stadt verän­dert sich dauernd, ständig passiert etwas Neues, man wird sie nie zu 100 Prozent kennen. So ist es auch mit den Stücken von Mozart, Chopin oder Beet­hoven. Egal wie oft man sie geübt und analy­siert hat, man kann sie niemals komplett verstehen.

CRESCENDO: Sie waren bereits in 85 Ländern. Gibt es Orte, die Sie unbe­dingt noch sehen wollen? 
Jan Lisiecki: An irgend­einem Punkt meines Lebens möchte ich alle Länder gesehen haben, aber eben auch einige genauer kennen­lernen. Ich habe das Gefühl, ich kenne ganz gut, aber gleich­zeitig habe ich fest­ge­stellt, dass ich zum Beispiel noch nie im Saar­land war. Selbst in Deutsch­land, wo ich fast jeden Monat bin, gibt es Sachen, die ich noch sehen muss.

CRESCENDO: Hören Sie auf Ihren Reisen Musik? 
Jan Lisiecki: Ich habe immer ziem­lich viel Musik gehört. Da ich mitt­ler­weile aber viel unter­wegs bin, bin ich manchmal mehr als zufrieden, auch mal etwas Ruhe zu haben. Norma­ler­weise spielt ohnehin immer etwas in meinem Kopf. So ein kleines biss­chen Ruhe schadet also über­haupt nicht.

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