Kirill Serebrennikow
Und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit
von Maria Goeth
1. November 2022
Der Regisseur Kirill Serebrennikow zeichnet in dem Spielfilm »Tchaikovsky’s Wife« das Ehedrama des russischen Komponisten Peter Iljitsch Tschaikowsky nach.
„Ich heirate ohne Liebe, weil die Verhältnisse es erfordern und weil ich nicht anders handeln kann“, schreibt Peter Iljitsch Tschaikowsky 1877 an seine liebe Brieffreundin Nadeschda von Meck. Keine vier Wochen später gesteht er: „Kaum war jedoch die Trauung vollzogen, kaum war ich mit meiner Frau allein geblieben und erkannte, dass uns das Schicksal untrennbar verbunden hatte, da begriff ich plötzlich, dass ich nicht einmal Freundschaft, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Widerwillen gegen sie empfand.“ Weitere drei Monate später bekennt Tschaikowsky: „Es kamen Augenblicke, in denen ich wie ein Wahnsinniger einen derartigen Hass gegen meine unglückliche Frau empfand, dass ich sie am liebsten erwürgt hätte.“
Heirat aus Mitleid und Vertuschung
Der Geschichte von Tschaikowskys Eheleben muss nichts hinzuerfunden werden, um daraus ein veritables Filmdrama zu schmieden: Der homosexuelle und nach eigener Einschätzung krankhaft menschenscheue Komponist lässt sich vom Liebesbrief eines jungen Mädchens – Antonina Miliukowa – rühren. Um seine wahren Neigungen zu vertuschen und aus einer Art Mitleid lässt er sich auf einen Briefkontakt und schließlich auch ein Treffen mit ihr ein.
Obwohl Tschaikowsky seinen Charakter, seine Gereiztheit, seine Menschenscheu und auch seine schwierige finanzielle Situation offenbart, ihr nur eine geschwisterliche Form der Zuneigung anzubieten vermag, hält Antonina an ihrer Liebe fest. Tschaikowsky fürchtet, sie könnte sich etwas antun, und willigt in die Heirat ein – um noch am selben Tage gleichsam daran zu ersticken! Er gerät in eine Schaffenskrise, erleidet zwei Monate später einen Nervenzusammenbruch und flüchtet in die Schweiz – Antonina wird er nur noch wenige Male wiedersehen. Jahrzehntelang kommunizieren die beiden nur über Freunde und Verwandte, lassen sich aber nie offiziell scheiden. Antonina verbringt ihre letzten 20 Lebensjahre in einer Nervenheilanstalt. Sie bringt drei Kinder von unterschiedlichen Männern zur Welt, die sie alle ins Waisenhaus gibt.
Eine Stalkerin des 19. Jahrhunderts
Der Regisseur Kirill Serebrennikow, für seine Theater‑, Opern- und Filmproduktionen gefeiert, verleiht nun in Überlänge (130 Minuten) Antonina eine Stimme. Durchweg in dunklen Nebeltönen gehalten, zeichnet er in düsterer Zartheit Antoninas Einsamkeit in ihrer zerrütteten Familie nach, ihre naïve Faszination für den unnahbaren Tschaikowsky. Ihre drückende Vereinzelung macht den Weg in ihr seltsam wahnhaftes Stalkertum nachvollziehbar. In manchen Szenen wird die peinliche Unbehaglichkeit zwischen den beiden Protagonisten – großartig Aljona Michailowa als Antonina; Odin Biron als Tschaikowsky teils etwas zu glatt – regelrecht greifbar. Man mag an Erich Kästners Gedicht Kleines Solo denken, mit dem immer wiederkehrenden Vers „Einsam bist du sehr alleine – und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.“
Gegen Ende intensiviert sich filmisch verstärkt Antoninas Wahn. Die Szene, in der ein Freund Tschaikowskys sie mit einer „Fleischbeschau“ nackter Männer davon zu überzeugen versucht, sich einen anderen Ehemann zu wählen, schafft einen Moment grotesker Komik in drückender Schwere. Bei einer späten Begegnung der beiden Protagonisten entpuppt sich der den ganzen Film über herbeigesehnte Kuss als Phantasmagorie ins Leere.
Filigrane Bildsprache
In nur zwei Monaten während der Coronazeit in einem Studio in Moskau und somit ohne Tageslicht gedreht, überzeugt die Bildsprache des Films mit beinahe fotokünstlerischer Liebe zum Detail: von der nervtötend herumschwirrenden Fliege bis zum Ehering, der einfach nicht richtig über Tschaikowskys Finger passen will. Serebrennikow schafft so eine ästhetische Atmosphäre der Melancholie und leicht klaustrophobischen Schwermut, während er sich sonst sehr nahe an den historischen Fakten hält – „It’s almost the truth!“ wie er selbst sagt.
Serebrennikow verleiht Antonina jedenfalls mehr Würde, als es ihr damaliges Umfeld tat. Tschaikowsky verunglimpfte sie später nur noch als „das Reptil“, sein Bruder Modest nannte seine wohl eher schlicht und naiv veranlagte Schwägerin „verrückte Halbidiotin“.
Ein Film über Tschaikowsky ohne Musik von Tschaikowsky
Der Filmmusikkomponist Daniil Orlow hätte es für plump befunden, einen Film über Tschaikowskys Frau schlicht mit Musik von Tschaikowsky zu unterlegen. So kommt er fast ohne konkrete Zitate aus, paraphrasiert, schafft eine zeitgemäße Originalmusik, die dennoch zum Ambiente des 19. Jahrhunderts passt – eine Gratwanderung, die meistens aber nicht immer gelingt.
In Russland soll der Film übrigens nicht gezeigt werden. Offenbar fehlt den homophoben Teilen der Gesellschaft nach wie vor die Akzeptanz der sexuellen Orientierung ihres Nationalhelden.
Der Film Tchaikovsky’s Wife von Kirill Serebrennikow kommt am 23. März 2022 in die deutschen Kinos.