KlassikWoche 03/2021

Akti­ons­künstler Nitsch in Bayreuth? Darf man über Rattle streiten oder ein Opern­haus auf der Krim bauen?

von Axel Brüggemann

18. Januar 2021

Die Ernennung von Sir Simon Rattle zum BRSO-Chefdirigenten, das neue Opernhaus auf der Krim, die Reaktionen auf die Bayreuth-Pläne von Monika Grütters

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

der Neuan­fang ist erneut verschoben! Die Zeiten wirken bleiern. Aber wir wollen leiden­schaft­lich bleiben. Deshalb schauen wir nach , nach Bayreuth, auf die Krim und hoffen auf das baldige Ende der Schlie­ßungen!

DIE RATTLE-RADIO-ORCHESTER-KONTRO­VERSE

Sir Simon Rattle, ernannt zum neuen BRSO-Chefdirigenten

Wir hatten es bereits letzte Woche an dieser Stelle vorweg­ge­nommen, am Montag­mittag wurde es dann bestä­tigt: wird zukünf­tiger Chef­di­ri­gent des Sympho­nie­or­ches­ters des Baye­ri­schen Rund­funks. Und plötz­lich wirkt alles ein biss­chen wie einst in , selbst der Slogan ist der gleiche: „Welcome Sir Simon“ (Wäre da nicht ein „Servus Simon“ etwas lustiger gewesen?). Rattle schwärmte auf der virtu­ellen Pres­se­kon­fe­renz von alten Gast­spielen des Orches­ters in Liver­pool, erklärte in flie­ßendem Englisch, dass er nun auch deut­scher Staats­bürger werden will und lobte Klang und Leute über den briti­schen Klee. Der Baye­ri­sche Rund­funk findet das alles – auch auf seinen seriösen Nach­richten-Seiten – kritiklos super! Und wer es wagt, etwas Kriti­sches zu sagen, etwa fragt, ob es wirk­lich span­nend wird, noch einen Beethoven‑, Bruckner- oder Brahms-Zyklus von Simon Rattle zu hören, wird beschimpft. Schon beim SWR scheint als Messias zu gelten, und auch beim BR scheint Kritik an Rattle so etwas wie Blas­phemie zu sein!

In der ersten Folge ertappen wir Carlos Santana: Sein „Love of my Life“ ist geklaut! Bei wem? Hören Sie selbst …

Das Krite­rium der Debatte um Kultur-Entschei­dungen und jour­na­lis­ti­sche Meinung scheint ausge­rechnet beim „huma­nis­tischsten Orchester“ (O‑Ton Rattle) nicht zu den Haupt­tu­genden zu gehören. (In diesem Zusam­men­hang lohnt sich ein Blick auf den Thread und die Reak­tionen auf meiner Face­book-Seite). Es ist gut, wenn nicht sogar exis­ten­ziell, dass Radio­sender Orchester betreiben, aber die Nach­rich­ten­re­dak­tionen sollten ihren Klang­köper, wenn möglich, mit jour­na­lis­ti­schen Krite­rien begleiten!

Machen wir uns einfach ein biss­chen locker und genießen auch diesen Sinn der Kunst, die öffent­liche Debatte! Wohl kein Zufall, dass Hartmut Welscher im VAN-Magazin diese Woche eine nicht ganz unwe­sent­liche Frage stellt. Seine Quadratur des Kreises ist etwas episch ange­legt und lässt sich viel­leicht auf die Frage herun­ter­bre­chen: „Liebe Radio-Orchester, habt Ihr eigent­lich einen Plan, warum man Euch nicht abschaffen sollte?“ Auch Klassik-Kritiker Dieter David Scholz geht hart ins Gericht mit der Klassik-Reprä­sen­ta­tion bei einem seiner ehema­ligen Rund­funk-Arbeit­geber: „… wenn der Wellen­chef eines Kultur­ra­dios mir schon vor Jahren den zyni­schen Rat gab: ‚Merken sie sich eins: Wir machen Radio für Dumme‘ muss man sich nicht wundern! Dann ist im Grunde alles verloren.“ 

DARF EUROPA EIN KRIM-OPERN­HAUS BAUEN?

Ein neues Opernhaus auf der Krim

Der Bau eines Opern­hauses auf der Krim sorgt für eine Debatte: Wird da eine Kultur-Kathe­drale im Namen Vladimir Putins errichtet? Im öster­rei­chi­schen „Stan­dard plädiert der Archi­tekt Wolf D. Prix für weniger Moral. Nicht ganz unum­stritten. Hier ein Auszug: „Nachdem aber schnell klar geworden war, dass wir keine recht­li­chen Bestim­mungen verletzt haben, verla­gerte sich die Diskus­sion von beru­fenen Kommen­ta­toren zu Archi­tektur und Politik auf die Ebene von Moral und Ethik. Coop Himmelb(l)au baut für Putin = Diktator = Unter­drü­cker der Frei­heit = Teufel. Wir bauen aber nicht für Wladimir Putin, wir bauen keine Botschaft, wir bauen kein Polit­kom­mis­sa­riat. Wir bauen eine Oper. Und diese Oper ist nicht für Putin, sondern für die Bewoh­ne­rinnen und Bewohner von Sewas­topol und der Krim. Genauso wenig wie die Wiener Oper für Kaiser Franz Joseph I. und die Univer­sität für Rudolf IV., sondern für die Wiene­rinnen und Wiener gebaut wurde.“ Mich persön­lich über­zeugt diese Argu­men­ta­tion nicht – aber die Debatte ist span­nend.

BAYREUTH-REAK­TIONEN

Hermann Nitsch vor einem seiner Schüttbilder
Wird „Blut-Künstler“ in Bayreuth „mitwirken“?

Im letzten News­letter ging es um die Wurst. Exklusiv hatte Kultur­staats­mi­nis­terin mir erklärt, dass sie – wenn der Bund sich an der millio­nen­schweren Sanie­rung des Bayreu­ther Fest­spiel­hauses betei­ligt – erwartet, dass die Stif­tung als Eigen­tü­merin das Haus an die GmbH abgibt. Zahl­reiche Zeitungen haben nach­re­cher­chiert und den Diskurs fort­ge­führt, beson­ders enga­giert der „Nord­baye­ri­sche Kurier“ (Print-Ausgabe). Der zitierte auch den Vorsit­zenden der Gesell­schaft der Freunde, Georg von Walden­fels: „Mit uns hat niemand geredet, wobei wir von den Anteilen her genau so starke Gesell­schafter sind wie Bund und Land. Wenn man meint, man müsste etwas ändern, dann redet man erst mal mit seinen Kollegen.

Und auch Katha­rina Wagner äußerte sich im „Kurier“: „Sie betont, dass sie es begrüßt, dass Frau Grüt­ters die veral­tete Stif­tungs­sat­zung auf den neuesten Stand bringen will.Die Leip­ziger Volks­zei­tung fragte auf Grund unseres News­let­ters derweil in der Oper  an und bestä­tigte unsere Nach­richt, dass Ulrich Jagels wohl als neuer Geschäfts­führer zu den Bayreu­ther Fest­spielen kommen wird. Und dann gab es von anderer Seite noch das Bayreuth-Gerücht, Blut-Künstler Hermann Nitsch solle in Bayreuth die „Walküre“ insze­nieren. Seine Ehefrau erklärte dazu in der „Presse, man sei in Gesprä­chen über eine Mitwir­kung an der geplanten „Walküre“, aber „von Insze­nieren ist keine Rede“. 

CORONA-KLASSIK-TICKER

Es ist das Hick-Hack, das andau­ernde Hin und Her, das die Kultur­ver­ant­wort­li­chen zermürbt. Dass Kultur keine sonder­liche Rolle in der poli­ti­schen Corona-Planung spielt, haben wir verstanden, dass selbst die besten Sicher­heits­kon­zepte nicht umge­setzt werden, weil Kultur­ein­rich­tungen offen­sicht­lich einfach nicht öffnen SOLLEN, wird nur langsam verstanden. Es ist schwer, immer wieder Kraft zu finden, um an neue Locke­rungen und die Möglich­keit von Öffnungen zu glauben. In hat das dazu geführt, dass ein Groß­teil der Häuser ange­kün­digt hat, bis Februar (sehr viele sogar bis März) komplett zu schließen. In Öster­reich gibt man sich dagegen noch kämp­fe­risch. Auch wenn an einigen Häusern wie der Volks­oper bereits über das Ende der szeni­schen Proben­ar­beit nach­ge­dacht und musi­ka­li­sche Proben nur noch mit Begrün­dung der Notwen­dig­keit zuge­lassen werden, haben sich Öster­reichs Inten­dan­tInnen (unter ihnen Roland Geyer, Markus Hinter­häuser, Martin Kušej, Robert Meyer oder Matthias Naske) in einem weiteren Brand­brief an Vize­kanzler Werner Kogler und Staats­se­kre­tärin Andrea Mayer gewandt. Sie betonen, „dass wir einen Beitrag dazu leisten (möchten), dass der Kultur­be­trieb sowohl künst­le­risch als auch ökono­misch verant­wor­tungs­voll durch die kommenden Monate geführt wird“. Wichtig sei, die Gültig­keit der bestehenden Präven­ti­ons­kon­zepte, ein Stufen­plan für die Wieder­eröff­nung der Kultur­in­sti­tu­tionen, die maxi­malen Zuschau­er­zahlen sollten von der Größe des Hauses abhängen, die Möglich­keit von Proben, ein Kosten­er­satz sowie keine Schlech­ter­stel­lung gegen­über der Gastro­nomie. Während Museen in Öster­reich am 8. Februar wieder öffnen dürfen, sollen Theater und Konzert­säle weiterhin geschlossen bleiben – vom „Eintrittstesten“ ist erst einmal keine Rede mehr. Öster­reichs Veran­stalter wollen den Dialog mit der Regie­rung inten­si­vieren und favo­ri­sieren das Tragen von FFP2-Masken während der Veran­stal­tungen. +++ In diesem Zusam­men­hang dürfte auch die Aerosol- und CO2-Studie des Konzert­hauses in folgenlos bleiben. Das Fraun­hofer Hein­rich-Hertz-Institut erklärt, warum einer Wieder­eröff­nung nichts entge­gen­stünde. Allein, wir wissen heute: Dafür fehlt grund­sätz­lich der poli­ti­sche Wille. 

UND SONST, HERR BRÜG­GE­MANN?

Sonst scheint mir die Stim­mung gerade mal wieder sehr brisant zu sein. macht sich nach einem Konzert im Teatro Real Sorgen um die Kolle­gInnen während der Pandemie-Schlie­ßungen: „Ich kenne eine ziem­lich hohe Selbst­mord­rate in unserer Musi­ker­fa­milie, weil sie keine Zukunft sehen und es wirk­lich, wirk­lich schreck­lich ist.” Und ich bekam letzte Woche eben­falls eine Mail, in der ich beschimpft wurde, dass in dieser Zeit doch niemand Inter­esse an den hätte. Die November-Hilfen (und damit alle anderen Hilfen) für Solo­selbst­stän­dige würden nicht funk­tio­nieren, und, ja, dieser zweite, andau­ernd verlän­gerte Lock­down zermürbt. All das kratzt an der nackten Exis­tenz vieler und zehrt an den Nerven. Da ist es schwer, im Auge zu behalten, warum wir eigent­lich alle noch immer an die Musik glauben: Weil wir sie lieben, weil sie uns zu dem macht, was wir sind, weil sie größer ist als vieles, was wir selber sein können. Was Musik für die Sängerin bedeutet, habe ich sie in meinem Podcast „Brüg­ge­manns Begeg­nungen“ gefragt. Andert­halb Stunden über die Leiden­schaft, über gleich­be­rech­tigte Bildungs­chancen, musi­ka­li­sche Gänse­haut-Erleb­nisse, über schwe­di­sche Pop-Zeit­schriften und finni­sche Saunen. Eine, wie ich finde, unter­halt­same Ablen­kung und gleichsam Fokus­sie­rung auf das, worum es geht. 

So, und nun noch schnell ein Glück­wunsch an , der diese Woche bereits zum geschätzt dritten Mal 🙂 seinen 80. Geburtstag feiert! Forever young. 

Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

 

brueggemann@​crescendo.​de