KlassikWoche 13/2021

Zeit, dem Publikum zu danken! Und: Berliner Projekt ausge­setzt

von Axel Brüggemann

29. März 2021

Die Spendenbereitschaft des Publikums, das Pilotprojekt der Berliner Philharmoniker, die Verhandlungen von Covent Garden mit Plácido Domingo

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit der ganzen Größe und Bedeu­tung des Publi­kums und einer exklu­siven Umfrage, die sagt: Zuschaue­rInnen lieben ihre Häuser und helfen den Kultur­schaf­fenden, so gut sie können. Und sonst? Opti­mismus nach Pilot-Projekt in , Netrebko übt Elisa­beth, und Domingo will zurück nach Covent Garden.

EXKLUSIV: DAS SPEN­DABLE PUBLIKUM

Die Zeiten sind nicht leicht, und immer wieder werden Horror­sze­na­rien an die Wand gemalt. Ich habe diese Woche nach opti­mis­ti­schen Nach­richten gesucht und einen Brief geschrieben – an die großen deut­schen Konzert­häuser. Meine Frage: „Wie viele Zuschaue­rInnen haben eigent­lich auf die Rück­erstat­tung von Tickets verzichtet und damit Häuser und Künst­le­rInnen unter­stützt?“ Die Antworten haben gezeigt: Das Publikum in Deutsch­land liebt seine Konzert­säle und seine Künst­le­rInnen und ist sehr wohl bereit, groß­zügig zu helfen. Das Publikum von nur vier Häusern orga­ni­sierte mehr als zwei Millionen Spenden-Euro! Eine Summe, die zeigt, wie enga­giert das Publikum ist und dass die Politik die gesell­schaft­liche Bedeu­tung kultu­reller Insti­tu­tionen nicht unter­schätzen sollte. 

Die Kölner Phil­har­monie erklärte mir, wie schwer der Umgang mit Tickets, Rück­erstat­tungen und Schen­kungen sei, da viele Auffüh­rungen offi­ziell nur „verschoben“ würden und die Karten somit Gültig­keit behalten. Ein tägli­cher, admi­nis­tra­tiver Jonglage-Akt. Dennoch hat die Kölner Phil­har­monie derzeit einen Gegen­wert von 180.000 Euro an nicht erstat­teten Eintritts­gel­dern. Das Geld wird als Basis für die Zahlung von Ausfall­ho­no­raren genutzt, die seit 12 Monaten an freie, nicht subven­tio­nierte Künst­le­rInnen und Ensem­bles geleistet werden. Die wenigsten der Spender verlangten eine Spen­den­quit­tung.

Auch an der hat das Publikum massiv geholfen: 6.750 Karten­käu­fe­rInnen haben auf die Rück­erstat­tung ihrer Tickets verzichtet. So kamen 450.000 Euro zusammen. Zusätz­lich erhielt der Elbphil­har­monie Hilfs­fonds 440.000 Euro an Spenden und Zuwen­dungen. Die 890.000 Euro des Elbphil­har­monie Hilfs­fonds kamen ausschließ­lich frei­be­ruf­li­chen Musi­ke­rInnen sowie Bühnen­künst­le­rInnen zugute und unter ihnen nur solchen, die verein­barte Enga­ge­ments in der Elbphil­har­monie und/​oder der Laeiszhalle nicht wahr­nehmen konnten, weil die Häuser wegen Corona schließen mussten und die betref­fenden Konzerte abge­sagt wurden.

Die meldet, dass bisher 1.309 KundInnen auf die Rück­erstat­tung von Karten verzichtet haben. Insge­samt sind 250.000 Euro aus Spenden einge­gangen. Die Tonhalle stellte ihren Konzert­gästen frei, sich die Ticket­kosten erstatten oder den Betrag in die Musik fließen zu lassen. Im letz­teren Fall hatten sie die Wahl zwischen einer Spende für künst­le­ri­sche Projekte der Tonhalle Düssel­dorf oder einer Unter­stüt­zung der frei­schaf­fenden Künst­le­rInnen, die an den ausge­fal­lenen Konzerten betei­ligt gewesen wären und keine Gagen erhalten haben. Rund 180.000 Euro wurden der Tonhalle gespendet (sie war dadurch in der Lage, zwischen April und Juni vier Konzerte zu finan­zieren), 70.000 Euro fielen den frei­schaf­fenden Musi­ke­rInnen zu. Die Tonhalle zahlte den Künst­le­rInnen das Geld in der Sommer­pause aus.

Etwas anders, aber nicht minder effekt­voll, operierte das Fest­spiel­haus . Hier verzich­teten rund 1.400 Besu­che­rInnen auf eine Rück­erstat­tung, mehrere tausend Besu­che­rInnen haben ihre Eintritts­karten in Gutscheine umge­wan­delt. Insge­samt kam man auf rund 600.000 Euro Ticket-Spenden, mit denen das Haus die enormen Umsatz-Verluste (über 80 Prozent allein 2020) dämpfte und die laufenden Kosten bezahlte. Alle Spenden tragen hier direkt zur Rettung des Fest­spiel­hauses und der Fest­spiele bei. Der Freun­des­kreis Fest­spiel­haus -Baden e.V. verzeich­nete einen Zuwachs auf nun fast 1.600 Mitglieder, und einige Spender von Eintritts­karten wurden neue Mitglieder im Freun­des­kreis. Privat­spenden (insge­samt rund sechs Mio. Euro, davon eben zehn Prozent Ticket-Spenden) und eine Landes-Nothilfe von vier Mio. Euro retteten Fest­spiel­haus und die Fest­spiele 2020. Für 2021 kann das Haus noch nicht absehen, wie es weiter­geht, da die Umsatz­ver­luste anhalten.

CORONA-KLASSIK-TICKER

Isabelle Huppert und Benoît Magimel  in Michael Hanekes Verfilmung des Romans "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek

Das wissen­schaft­lich beglei­tete Pilot­pro­jekt der , vor 1.000 Zuschaue­rInnen zu spielen, war ein großer Erfolg und könnte nach Auswer­tung der ersten Ergeb­nisse als Vorbild auch für andere Insti­tu­tionen dienen. Projekt­lei­terin Susanna Kunz erklärte: „Nach der Hälfte der Veran­stal­tungen können wir fest­stellen, dass die geplanten Prozesse gut funk­tio­nieren, insbe­son­dere mit Blick auf die Sicher­heit aller Besu­che­rInnen. Nun gilt es, die Abläufe vor allem an der Schnitt­stelle Ticke­ting – dezen­tralen Test­mög­lich­keiten – Umset­zung vor Ort zu opti­mieren.“ Dummer­weise hat Berlins Regie­render Bürger­meister Michael Müller die Fort­set­zung des Projektes zunächst auf Grund der hohen Inzi­denzen ausge­setzt. +++

Wir fokus­sieren uns oft ja nur auf die große Klassik. Mindes­tens genau so wichtig ist aber die Laien­musik und die musi­ka­li­sche Bildung. Und da gab es nun einen juris­ti­schen Erfolg einer privaten Klavier­leh­rerin gegen die Corona-Maßnahmen. Ein Treffen zu zweit ist in erlaubt. Musi­zieren zu zweit eben­falls. Aber eine Klavier­leh­rerin durfte in Präsenz­form keinen Einzel­un­ter­richt geben. So war es bis Freitag. Da urteilte das Nieder­säch­si­sche Ober­ver­wal­tungs­ge­richt gegen diesen Passus in der Corona-Verord­nung des Landes Nieder­sachsen. Eine neue Statistik vom Netz­werk Promo­ting Crea­tive Indus­tries (PCI) und dem Bundes­ver­band der Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft Deutsch­land zeigt, wie schwer Corona beson­ders die Krea­tiv­wirt­schaft trifft: 83 Prozent haben ange­geben, dass 2020 nega­tive Auswir­kungen auf ihre Selbst­stän­dig­keit hatte, 42 Prozent verzeichnen Rück­gänge um über 70 Prozent. Beson­ders stark betroffen sind die Darstel­lenden Künste und die Musik­wirt­schaft. +++ In , und -Roßlau können wieder Veran­stal­tungen geplant werden. Es geht um soge­nannte Modell­pro­jekte in der Kultur. Die drei kreis­freien Städte bekommen die Möglich­keit für Veran­stal­tungen mit jeweils 100 Zuschauern pro Tag. +++

MISS­BRAUCHT DIE TOTEN NICHT

Cembalist François Grenier

An dieser Stelle wird es etwas heikel. Die psychi­schen Belas­tungen der aktu­ellen Situa­tion betreffen viele Menschen: Schü­le­rInnen, Unter­neh­me­rInnen oder Künst­le­rInnen – und es wäre fatal, sie nicht ernst zu nehmen. In Frank­reich sorgte nun ein Fall für großes Aufsehen und zahl­reiche Artikel: Der Freitod des Cemba­listen Fran­çois Grenier wird in der Öffent­lich­keit als emotio­nales Mittel benutzt, um die Corona-Politik anzu­klagen. „Er konnte die Konzert­ab­sagen nicht mehr ertragen“, erklärte seine Kollegin, die Cellistin Claire Lamquet. Finan­ziell und mora­lisch, so die Zeitung „Tele-Loisir“, würden die Künstler an den Rand des Erträg­li­chen gebracht. Lamquet sprach, wie auch der BR berichtet, von einem „Ozean der Stille“, der schier nicht auszu­halten sei.

Tatsäch­lich verschärft die aktu­elle Situa­tion Emotionen, aber ein Freitod hat oft mehr als nur einen Anlass. Ich frage mich, ob es im Sinne kranker Menschen ist, ihr Ableben für poli­ti­sche Zwecke – welche auch immer – zu nutzen. Über ähnliche Fragen mache ich mir übri­gens auch ausführ­lich im aktu­ellen Cicero (Print-Ausgabe) Gedanken, wenn ich über Leben und Tod von Wagner-Erklärer Stefan Mickisch schreibe. (Abspann: Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Spre­chen Sie mit anderen Menschen darüber. Hier finden Sie – auch anonyme – Hilfs­an­ge­bote in vermeint­lich ausweg­losen Lebens­lagen. Per Telefon, Chat, E‑Mail oder im persön­li­chen Gespräch.)

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Die Sopranistin Camilla Nylund

Die Sängerin ist Artist in Resi­dence und Patronin eines neuen Klassik-Festi­vals, das diesen Sommer in statt­finden wird: Die Brixen Clas­sics verbinden Kuli­narik, Natur, Konzerte und Nach­wuchs­ar­beit, unter anderem mit , Daniel Geiß, (und, ja, ich werde auch dabei sein). Festi­val­leiter sind Tim Decker und Markus Latsch. +++ Hat nicht jeder alles über Beet­hoven gesagt? Diri­gent zeigt im Gespräch mit Markus Thiel, dass dem nicht so ist. Ein span­nender Talk über den Meister aus : „Beet­hoven hasste Priester – wie Mozart. Und er inter­es­sierte sich für andere Reli­gionen. Abge­sehen davon hat er die Missa Solemnis nicht für den litur­gi­schen Gebrauch kompo­niert, sonst hätte er womög­lich auch Probleme mit der Kirche bekommen.“ +++ Nun hat auch noch mal erklärt, warum Musik in diesen Tagen wichtig ist. +++ zeigt auf Face­book, wie es sich anhört, wenn sie an der Rolle der Elisa­beth aus Wagners „Tann­häuser“ probt – nun ja… +++ Ist was? War was? Covent Garden verhan­delt offen­sicht­lich gerade über neue Verpflich­tungen von . Inno­vativ und konse­quent ist irgendwie anders. +++ Ältere Thomaner sollen gegen die Beru­fung von Andreas Reize als neuen Thomas­kantor protes­tieren. Ich schließe mich in dieser Debatte mit meinem Kommentar wohl auch der Meinung von Claus Fischer an: „Es wäre zu hoffen, dass es dem neuen Thomas­kantor durch eine Charme­of­fen­sive auch gelingen wird, die älteren Chor­mit­glieder für sich einzu­nehmen.“ +++ Der Wiener Musik­verein hat erst­mals in seiner Geschichte auch eine kauf­män­ni­sche Geschäfts­füh­rung. Renate Futter­knecht, zuletzt im Theater an der tätig, hat mit Monats­be­ginn diese Posi­tion über­nommen

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo verdammt bleibt es? Unter­haltsam ist eine Statistik von Classic-FM. Der Sender zeigt, welche Stimmen den größeren Tonum­fang haben: David Bowie oder ? Anna Netrebko oder Mariah Carey? Antworten gibt es hier. Und dann bin ich beim Netz-Surfen noch auf die wirk­lich groß­ar­tige Seite der Öster­rei­chi­schen Media­thek gestoßen, die aktuell eine Online-Ausstel­lung anbietet, in der Original-Tonauf­nahmen aus der Zeit von als Wiener Opern­chef zu hören sind. 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

P.S.: Die nächste Klas­sik­Woche kommt am Dienstag nächster Woche, bis dahin wünsche ich Ihnen schöne Ostern.