Klassikwoche 20/2020

Rele­vanz statt Arro­ganz!

von Axel Brüggemann

11. Mai 2020

Hilfe für die Kultur, von Angela Merkel zur Chefsache erklärt, die Suche der Orchester nach Lösungen, um spielen zu können, ein überschäumender Christian Thielemann.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

es wird allmäh­lich ernst, und deshalb versuche ich, die Themen der Woche heute etwas anders zu sortieren: als Bestands­auf­nahme und Perspek­tive. Wo steht die Welt der Klassik, was läuft gut – und was weniger? Auf geht’s!

IN DEN START­LÖ­CHERN 

Wissen­schaft, bevor es losgeht: Aerosol-Messungen der

Während einige Musiker noch immer mit Nothilfe-Formu­laren (beson­ders in Bayern soll die Situa­tion, trotz Markus Söders Ankün­di­gungen, schwer sein) kämpfen, Kanz­lerin Kultur­staats­mi­nis­terin über­holt und Hilfen für Kultur zur Chef­sache erhebt (zuvor hatten große Orchester Grüt­ters einen Brand­brief geschrieben) und Nieder­ös­ter­reichs Landes­haupt­frau Johanna Mikl-Leitner Kultur­staats­se­kre­tärin Ulrike Lunacek düpiert, scheint ein großer Teil des Klassik-Betriebes nicht länger abwarten zu wollen – die Maschinen sollen langsam wieder hoch­ge­fahren werden. 

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Groß­artig, wie aktiv einige Orchester nach Lösungen suchen: Die Bamberger Sympho­niker wollten die Wissen­schaft anstoßen und haben den Luft­aus­stoß ihrer Instru­mente vermessen. Die Ergeb­nisse stellten sie Viro­logen zur Verfü­gung. Nur einen Tag später haben Wissen­schaftler der Charité mögliche Szena­rien für Orchester veröf­fent­licht: 1,5 Meter Abstand zwischen den Strei­chern, 2 Meter zwischen den Bläsern. Gleich­zeitig soll der Kultur­be­trieb in verschie­denen Bundes­län­dern langsam aufge­nommen werden, in Hessen etwa vor bis zu 100 Zuschauern. Doch selbst die Times fragt, ob soziale Distanz gutes Theater über­haupt zulässt, und Londons West-End-Produ­zent Sir Cameron Mack­in­tosh befürchtet, dass die Theater bis nächstes Jahr geschlossen bleiben könnten. 

Wie trist Musi­zieren in Zeiten von Corona aussehen kann, hat nach den Berliner Phil­har­mo­ni­kern nun auch noch einmal die Staats­ka­pelle mit unter Beweis gestellt. Das Geis­ter­kon­zert sah ein biss­chen aus wie Mozart nach dem vierten Ader­lass. Warum zum Tag der Befreiung ausge­rechnet das Sieg­fried-Idyll auf dem Programm stand (Adolf Hitler ließ Sieg­frieds Tod zu Hinden­burgs Beer­di­gung anstimmen), ist schlei­er­haft – oder Beweis, dass nicht mal mehr diese Art von geplantem Skandal bei Corona funk­tio­niert. 

SOMMER­PLA­NUNGEN

Corona lehrt uns, dass unser Handeln von heute die Welt von morgen bestimmt. Eine Erfah­rung, die einige Inten­danten sich zu Herzen nehmen sollten. Derzeit scheint jeder ganz beson­dere Medien-Formate oder irgend­eine Art „kleines Konzert“ statt seines Sommer-Festi­vals zu planen. Markus Hinter­häuser, so ist zu hören, wartet mit den Salz­burger Fest­spielen auf Freitag, wenn Kanzler Kurz neue Regeln bekannt gibt – Konzerte mit den Wiener Phil­har­mo­ni­kern, gar eine Konzer­tante „Elektra“? Es wird geträumt oder digital geplant: der MDR-Musik­sommer verspricht – wie alle anderen Festi­vals auch – eine „Sonder­aus­gabe mit neuen Formaten“, und sicher werden sich auch die inzwi­schen abge­sagten Fest­spiele in noch etwas über­legen. Der Sinn des Ganzen ist verständ­lich: Aufmerk­sam­keit, Arbeit für die Künstler und ein Hauch von Norma­lität. Es ist derzeit sehr viel Euphorie im Spiel, sehr viel: „Es wird schon werden“. Und sehr viel: Augen zu, Haupt­sache irgendwas. Aber denkt irgend­je­mand auch an das Publikum? Wie groß wird das Inter­esse sein, wenn aller­orts (und ich meine ALLER­ORTS!) einige wenige Musiker vor einigen wenigen Zuschauern irgend­eine abge­speckte Musik aufführen? Wer trägt eigent­lich am Ende die Verant­wor­tung, sollte doch etwas passieren? Die Inten­danten? Die Politik? Klar: es muss weiter gehen. Aber kann es nicht etwas klüger weiter­gehen, als dass alle das Beson­dere planen, um im Sommer fest­zu­stellen, dass das Beson­dere eine viel­leicht nicht wirk­lich publi­kums­nahe Norma­lität ist?

AUSGE­STREAMT?

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Wir sind treue Fans: geht weiter mit der „Fleder­maus“

Bei den Streams sind die Ermü­dungs­er­schei­nungen bereits einge­treten. 52 Haus­kon­zerte hat der Pianist gegeben – und nun erst mal auf die Pausen­taste gedrückt (das hat er verdient!). Auf nicht ganz so viele Auftritte, aber immerhin auf 2,5 Millionen Streams ist Geiger mit seinen Gästen bei gekommen – auch er will sein Wohn­zimmer nun aller­dings wieder für sich haben. An den virtu­ellen Bühnen großer Häuser wird es ruhiger (immerhin: das Ensemble der Mailänder Scala hat einen hübschen Simon Bocca­negra auf YouTube aufge­nommen), und die in empfängt am Montag unter anderem . Nach wie vor sehens­wert: Unsere Freunde aus den ersten Corona-Stunden, die OPER rund um, gehen mit ihrer „Fledermaus“-Version ins Finale und werden immer ausge­buffter. Andere Fami­lien wie jene des Bremer Konzert­meis­ters wollen lieber real spielen: Eltern, drei Kinder und Aupair-Mädchen haben die gesamte „Zauber­flöte“ im eigenen Fenster insze­niert. Bravo!

DER GANZ NORMALE WAHN­SINN

Wenn die Lange­weile drückt, greift er zum Telefon:

In den letzten Wochen hat sich der Wahn­sinn, den die Verschie­bung der allge­meinen Aufmerk­sam­keits­öko­nomie durch Corona hervor­ge­rufen hat, beson­ders in den Führungs­etagen der großen Häuser gezeigt. Um Kevin-Justin, äh, Kai-Uwe Laufen­berg, ist es stiller geworden (immerhin: die FAZ hat unsere Debatte noch mal aufge­nommen), und ich bin inzwi­schen drauf und dran, wieder dem Team beizu­treten. Beson­ders, nachdem Öster­reichs Alpha-Klassik-Kronen-News-ORF-Jour­na­list Heinz Sichrovsky vor lauter Stolz nicht mehr wusste, wohin er schreien sollte, als sein Telefon plötz­lich klin­gelte und der Leib­haf­tige dran war: ein gelang­weilter Chris­tian Thie­le­mann. Sichrovsky verrät nicht, ob er seinen Text für „News“ im Knien geschrieben hat (auf einen Link wird an dieser Stelle bewusst verzichtet), aber er berichtet brüh­warm, was der Maestro ihm im Vertrauen erzählt hat, zum Beispiel alles über den angeb­li­chen Gesund­heits­zu­stand von Katha­rina Wagner. Thie­le­mann quatschte darüber, dass er im Sommer vorhabe, allein im Bayreu­ther Orches­ter­graben zu sitzen und erklärte, dass seine aktu­ellen finan­zi­ellen Verluste „enorm“ seien. Am Ende wütete Sichrovsky dann noch im voraus­ei­lenden Gehorsam gegen den „Mob aus Provinz­po­li­ti­kern und Schar­la­tanen“, die seinen Chris­tian aus Salz­burg vertrieben hätten. Dass Thie­le­mann in Zukunft wohl auch in Bayreuth ohne fixen Job als Musik­di­rektor ist, darüber schweigt Sichrovsky. Wer weiß, viel­leicht dispo­niert Thie­le­mann seinen Sommerjob in Bayreuth ja doch noch zum Finale des Salz­burger Impro-Fest­spiel-Sommers um – je nachdem, wer das in Wahr­heit das Sagen hat: die Phil­har­mo­niker oder der Inten­dant …

UND NUN?

Mehr Rele­vanz – das ist das Gebot der Stunde.

Fassen wir zusammen: So richtig sinn­lich werden die Konzerte, die uns erwarten, nicht. So richtig Lust auf Streams haben inzwi­schen weder Künstler, noch Publikum. Viele Musiker reden sich gerade um Kopf und Kragen und beweisen, dass sie genau gar kein Verständnis für die Situa­tion ihres Publi­kums haben – sondern kreisen lieber um sich selber. Was man von Strei­te­reien zwischen ange­stellten und freien Künst­lern, Sängern und Diri­genten im Umfeld der von Öster­reichs Fett­näpf­chen-Kultur-Poli­ti­kerin Ulrike Lunacek geplanten Runden Tische hört, ist eine fatale Soap-Opera! Große Orchester und Theater fahren längst Miese ein – an der wird allein für diese Saison mit über 23 Mio weniger Einnahmen gerechnet. Gleich­zeitig sehen wir aller­orts Poli­tiker, die für Kultur nur wenig Sinn haben. Stell­ver­tre­tend für sie alle, sagte Uwe Becker, Bürger­meister und Kämmerer von am Main, im „heute-journal“: „Es zählen für den Rotstift die Bereiche, die nicht zwin­gend sind, und da fallen natür­lich Bereiche wie Kultur, Frei­zeit und Erho­lung darunter.“ 

Fakt ist, dass die Zeit gekommen ist, an die Zeit nach Corona zu denken. Einen sehr lesens­werten Text dazu hat die Agentur-Leiterin Sonia Simmen­auer in „Van“ verfasst. Sicher ist: Die finan­zi­ellen Spiel­räume der Kommunen, der Länder und des Bundes – aber auch die vieler Spon­soren – werden nach der Krise mehr als eng sein. Künstler, die sich derzeit von Luft­hansa, Mercedes oder VW über­vor­teilt fühlen, sollten mal auf die Rück­seite ihrer Programm­hefte schauen. Auch hier gilt: Nur gemeinsam kann es weiter­gehen! 

Corona hat die Musik-Branche als erstes getroffen, sie wird als letztes wieder aufstehen. Und ihre größten Probleme werden erst kommen, wenn Poli­tiker nach der gefühlten Rele­vanz der Musik fragen. Nicht nach der selbst­wahr­ge­nom­menen Rele­vanz von Musi­kern, sondern nach dem Bild, das die Klassik vor Corona abge­geben hat und dem Bild, das sie in Zeiten von Corona abgibt. Dieser Gedanke erlaubt nur einen Schluss: Wir sind eine verschwin­dend kleine Minder­heit, die es sich nicht leisten kann, über­ein­ander herzu­fallen. Mir gefällt nicht, was dieser Kai-Uwe Laufen­berg da in treibt, und die Eitel­keit von Niko­laus Bachler ist mindes­tens so groß wie meine eigene, viel­leicht ist ein Nicht-Diri­gier-Stau dafür verant­wort­lich, dass Chris­tian Thie­le­mann über­schäumt, und es mag verwun­dern, wenn einige Musiker das schlecht­ge­launte Dauer­par­lando von „wir sind system­re­le­vant“ anstimmen, meckern, fordern und vergessen zu begeis­tern. Aber: Am Ende gehören eben alle zu unserer Minder­heit der Klassik. Und unsere Kämpfe sind die Begleit­musik. Aber viel­leicht ist es noch nicht zu spät für das kollek­tive Motto: RELE­VANZ STATT ARRO­GANZ. Wir können leiden­schaft­lich mitein­ander streiten, aber wenn es um die Rolle der Klassik geht, müssen wir auch leiden­schaft­lich mitein­ander trom­meln, begeis­tern, kreativ werden und unsere Rele­vanz ins Schau­fenster stellen.

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif.

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

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jetzt auf CRESCENDO​.DE

Der Pianist Rudolf Buchbinder

Rudolf Buch­binder: »In den Diabelli-Varia­tionen spie­gelt sich Beet­ho­vens gesamtes Leben wider.«

Lesen Sie das Porträt des Pianisten auf CRESCENDO​.DE

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NACH­SCHLAG OHNE CORONA

Chor­leiter Norbert Balatsch bekommt ein Ständ­chen auf der Wart­burg

Er war in meinen ersten Bayreuth-Jahren omni­prä­sent, Teil jeder Auffüh­rung: Chor­di­rektor Norbert Balatsch. Er wurde 1928 in Wien geboren, wurde 1968 Chor­di­rektor der Wiener Staats­oper und hatte diese Funk­tion bis 1983 inne. Nun ist Balatsch im Alter von 92 Jahren gestorben. +++ Es wird ernst für den wegen sexu­eller Delikte verur­teilten Ex-Präsi­denten der Münchner Musik­hoch­schule. Sieg­fried Mauser zögerte den Antritt seiner Haft in immer wieder hinaus – inzwi­schen hat er eine öster­rei­chi­sche Straf­voll­stre­ckung bekommen. Das bedeutet: Mauser hat 14 Tage Zeit, seine Haft von zwei Jahren und neun Monaten bezie­hungs­weise 1004 Tagen anzu­treten. +++ Wie letzte Woche an dieser Stelle exklusiv vorab berichtet, wurde der Vertrag von Nike Wagner beim Beet­ho­ven­fest in Bonn auf 2021 verlän­gert – danach über­nimmt der junge Musik­ma­nager Steven Walter.