KlassikWoche 23/2020

Domingo springt ins Leben, Thie­le­mann hüpft nach rechts – und Levit gibt den Schmer­zens­mann

von Axel Brüggemann

2. Juni 2020

Sir Simon Rattle der mutmaßliche neue Chef des BR-Symphonieorchesters, Monika Grütters weltfremdes Interview über Künstler, die unbezahlten Künstler der Metropolitan Opera.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit vielen Perso­na­lien: springt zurück ins Leben, hüpft nach rechts – und wieder zurück, und taucht ab in den Schmerz des Kunst-Erlö­sers. 

LEVIT-MARA­THON IM NAMEN ALLER

Der Schmer­zens­mann für alle – Igor Levit spielt Satie.

Haben Sie die endlose Dank­bar­keit aller von Corona betrof­fenen Musiker mitge­kriegt, für die Pianist Igor Levit seinen vermeint­lich 20-Stunden-Klavier-Mara­thon (am Ende waren es 15 Stunden und 29 Minuten) mit Erik Saties ziem­lich lang­wei­ligen „Vexa­tions“ in Szene gesetzt hat? Nein? Sie haben auch nur die große Feuil­leton-Show von Spiegel, New Yorker und Co. um Levit selber mitbe­kommen? War das poli­tisch ultra korrekte, aber eben auch abge­half­terte Bekenntnis zur Soli­da­rität mit anderen Künst­lern vor dem Konzert etwa so faden­scheinig wie einst der Aufruf von und Co. für die „nicht ganz so bekannten“ Musiker? Auf jeden Fall war in Levits Inter­view mit der New York Times dann wieder mehr von „I“ und „me“, als von „the others“ die Rede. Mal im Ernst: Was wäre denn so schlimm daran gewesen, das Satie-Projekt einfach so anzu­kün­digen: „Ich nutze die Gunst der Stunde, spiele ein Stück, das niemanden inter­es­siert und bediene mit den Bildern des musi­ka­li­schen Schmer­zens­mannes das eher sport­liche Medien-Inter­esse meiner welt­weiten -Mitte-Feuil­leton-Follower.“ 

DOMINGOS NEUES LEBEN

Plácido Domingo

War was? – Domingo wird in auftreten

Ein geschmack­loser Scherz und ein echter Schock: Auf einem falschen Twitter-Account des desi­gnierten Staats­opern-Chefs Bogdan Roščić wurde der Tod von Plácido Domingo bekannt gegeben. Schnell stellte sich die böse Absicht heraus. Und zum Glück meldete der Sänger und Diri­gent sich dann auch selber zu Wort – in einem ersten Inter­view nach seiner Corona-Erkran­kung. „Ich habe begonnen, allen Dingen den rich­tigen Wert zu geben. In jedem Land beklagt man tausende Tote, auch in meiner Heimat Spanien. Allein sterben zu müssen, ohne Ange­hö­rige an der Seite zu haben, ist der unmensch­lichste Aspekt dieses Virus.” – Das sagte Plácido Domingo dem Corriere della Sera.

Außerdem verglich er SARS-CoV‑2 mit dem 11. September: „Der 11. September war ein plötz­li­cher Messer­stich für die Welt. Diese Pandemie erstickt langsam die Welt, wie ein undurch­sich­tiger Nebel, der den Kranken die Luft nimmt und unser Leben zerstört.” Ansonsten hat Domingo das alte Leben fast wieder: Der zum Bariton „gereifte“ Tenor wird unter anderem in der Corona-Gala der Arena von Verona auftreten – war irgend­etwas anderes? 

THIE­LE­MANN SPRINGT NACH RECHTS – UND WIEDER ZURÜCK

So sieht er sich gern: Chris­tian Thie­le­mann in seinem Bild­band „Diri­gieren“

So langsam tut er einem fast schon leid. Chris­tian Thie­le­mann muss sich zu Hause so sehr lang­weilen, dass er jetzt öffent­lich­keits­wirksam nach rechts außen Sprang. Er setzte sich für Jörg Bernig ein. Der Neurechte Lyriker wurde zum Kultur­amts­leiter in ernannt, was für aller­hand Protest sorgte. Und Thie­le­mann unter­schrieb einen Brief, den Uwe Tell­kamp initi­iert hatte, und den auch der vom geschasste Rechts-Sati­riker Uwe Steimle unter­zeich­nete. Dafür kassierte der Diri­gent großen Face­book-Jubel von AfD-Musi­kern wie Matthias Moos­dorf. Doch wie schon einmal, als Thie­le­mann um Verständnis für die PEGIDA-Demons­tranten bat und später in einem Inter­view in der WELT zurück­ru­derte, ließ er nun wissen, dass er seine Unter­schrift aus dem Soli­da­ri­täts­brief zurück­ziehe. Angeb­lich sei er unzu­rei­chend infor­miert gewesen (oder ist er mit dem Füll­fe­der­halter auf dem Papier ausge­rutscht?). Die Frage ist, wer Thie­le­mann denn jetzt zurei­chend darüber infor­miert hat, dass seine Haltung in einer vom Staat bezahlten Posi­tion viel­leicht doch nicht ganz okay sein könnte. Wird Zeit, dass er endlich wieder diri­gieren darf – hätte er auch dürfen, in Wien, bei den ersten Konzerten der vor 100 Zuschauern im Musik­verein – aber Thie­le­mann gab dem Orchester einen Korb. Etwa weil eine der Bedin­gungen war, dass er, ebenso wie die Musiker, ohne Gage auftritt? 

RATTLE ZUM BR?

Sir : Er diri­giert Konzert des BR – wird das Orchester seine neue Heimat?

Am Donnerstag lohnt sich das Einschalten bei . Diri­giert dann viel­leicht der desi­gnierte Chef des BR-Sympho­nie­or­ches­ters das erste Geis­ter­kon­zert des Ensem­bles nach Corona? Auf jeden Fall fällt der Name Simon Rattle immer öfter, wenn über den Nach­folger von speku­liert wird (eben­falls regel­mäßig zu hören: ). Seit zehn Jahren ist Rattle dem Sympho­nie­or­chester freund­schaft­lich verbunden, nun bringt er ein Programm mit Werken von und mit – all das natür­lich auch im kosten­losen Live­stream.

INTEN­DANTEN UND POLITIK – WO BLEIBT DIE EMPA­THIE? 

Hat bis zur nächsten Wahl nur wenig zu befürchten:

Ich höre immer von immer mehr Sänge­rinnen und Sängern, Bühnen­bild­ne­rinnen und Regis­seuren, dass viele ihrer Vorstel­lungen abge­sagt werden – oft per Mail, in der Regel ohne einen Anruf der Inten­danten, ohne Perspek­tiven. Nach meiner persön­li­chen Statistik scheinen beson­ders jene Thea­ter­leiter, die sich in diesen Tage gern selber in Szene setzen (und dabei auf große Sänger-Namen setzen), beson­ders schlecht darin zu sein, Kommu­ni­ka­tion mit jenen Künst­lern zu pflegen, die sie nicht mehr beschäf­tigen können. Wie wirkt unter diesen unem­pa­thi­schen Voraus­set­zungen der Brief, den 20 Inten­danten und Schau­spiel­di­rek­toren an geschickt haben? Vielen Thea­tern und Künst­lern „steht das Wasser bis zum Hals“, heißt es da, „sowohl kurz­fristig als auch und vor allem in der weiteren Perspek­tive“. Empa­thie fehlte nach wie vor auch Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grüt­ters in ihrem Inter­view bei „aspekte“. Selten spre­chen Poli­tiker derart welt­fremd von Menschen, deren Lobby sie eigent­lich sein sollten: in diesem Fall von den Künst­lern. „Das Problem mit Grüt­ters ist“, so heißt es hinter vorge­hal­tener Hand von Partei­kol­legen, „dass wir im Grunde schon vor der nächsten Bundes­tags­wahl stehen – und da kommt es nicht gut, derar­tige Ämter auszu­wech­seln. Das wird dann wohl erst nach der Wahl passieren.“ 

MELDUNGEN DER WOCHE

Stephan Pauly: von nach Wien

Keine guten Nach­richten von der MET in New York: Künstler werden nicht bezahlt, und das Haus soll nun, wie die New York Times schreibt, bis Neujahr geschlossen bleiben. +++ Beson­ders hart von den Corona-Schlie­ßungen und Probe­ver­boten betroffen sind die Kinder­chöre. Darauf machten nun die Knaben­chöre aus , , , und aufmerksam: „Schon in normalen Zeiten belegen die tradi­ti­ons­rei­chen Ensem­bles eine kleine aber feine Nische inner­halb der Klas­sik­branche. Jetzt in der Krise zeigt sich deut­lich, wie zerbrech­lich dieses jahr­hun­der­te­alte Kulturgut ist.“ Die Chöre befürchten, dass durch Stimm­bruch und auch Schul­ab­schlüsse nach der langen Proben­pause die Chöre nahezu voll­ständig neu wieder aufge­baut werden müssten. +++ So richtig rund lief es im Landtag nicht, als es um den Neubau des Münchner Konzert­saals ging. Er habe den Eindruck, dass mit dem Wechsel von Horst Seehofer auf die Euphorie für das Konzert­haus im Werks­viertel verflogen sei, sagte der ehema­lige Kunst­mi­nister und gegen­wär­tige Land­tags­vi­ze­prä­si­dent und FDP-Abge­ord­nete Wolf­gang Heubisch. Rücken­de­ckung dagegen von Susanne Hermanski in der Süddeut­schen: „Das war immer als Leucht­turm gedacht. Weithin soll dieser künden vom Anspruch des Kultur­staats und der Bedeu­tung von dessen Landes­haupt­stadt für die Klas­sik­welt, die mit ihren vielen Spit­zen­or­ches­tern einzig­artig ist. Jetzt könnte dieses Konzert­haus noch eine ganz andere Funk­tion erfüllen: Es könnte als Zeichen dafür erstrahlen, wie schön es ist, etwas Mitein­ander aufzu­bauen, entgegen aller Widrig­keiten.“ +++ Vor einem halben Jahr haben wir an dieser Stelle exklusiv vermeldet, dass Stephan Pauly die Alte Oper in Frank­furt verlässt und Chef des Musik­ver­eins Wien wird. Nun ist es so weit, und die Frank­furter Allge­meine und die Frank­furter Rund­schau rufen ihm nach und würdigen seine Arbeit. Konklusio: „Pauly wird jetzt in eine völlig andere Sphäre eintau­chen, ‚die sehr tradi­ti­ons­be­laden daher­kommt und gerade deshalb eine Heraus­for­de­rung darstellt‘, eben den Wiener Musik­verein mit seinem Goldenen Saal aus dem 19. Jahr­hun­dert. Er wird auch hier versu­chen, die Türen zu öffnen.“

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Ennevi / Arena di Verona