KlassikWoche 39/2021
Beginnt jetzt die Zukunft der Klassik?
von Axel Brüggemann
27. September 2021
Die Frage, ob 3G- oder 2G-Regel im Konzertbetrieb, der Auftritt von Igor Levit mit Valery Gergiev, der Zoff um Nigel Kennedy
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
haben Sie noch einen Wahl-Kater, oder wird jetzt wirklich alles anders? Auf eines können Sie sich, egal wie die Koalitionsgespräche verlaufen, verlassen: Montag ist Newsletter-Tag! Und los geht‘s.
NACHHALTIGE INSTRUMENTE
Die Fridays-for-Future-Proteste sind wieder auf der Straße, und längst sind ihre Ziele auch in der Musik angekommen: Klimaneutrale Orchester und klimaneutrale Veranstaltungsorte sind im Gespräch, Tourneen werden neu überdacht, und schon seit 12 Jahren gibt es die Initiative „Orchester des Wandels“, der sich inzwischen 25 Orchester angeschlossen haben. Ihr Ziel: nachhaltiger Instrumentenbau zum Beispiel durch modifizierte einheimische Hölzer statt durch Ebenholz (siehe Foto). „Es wird ja auch höchste Zeit, dass die Kulturszene sich selber fragt, welche Ressourcen wollen wir verbrauchen. Kultur wird ja immer Ressourcen verbrauchen. Und selber mitzugestalten und den Transformationsprozess aktiv zu gestalten und nicht zuzuschauen, wie andere entscheiden, was wir noch dürfen und was wir nicht dürfen“, sagt etwa Markus Bruggaier, Hornist der Staatskapelle Berlin.
3G, IMPFUNGEN UND ANDERE OFFENE FRAGEN
Die Saison beginnt, Opern- und Konzerthäuser öffnen – und selbst das Tourneegeschäft geht wieder los. Das wirft dringende Fragen auf – zum einen: Wie gehen Intendanten, die Politik und Kolleginnen und Kollegen mit ungeimpften Musikern um? Wenn – sagen wir mal zum Beispiel – ein Blechbläser der Wiener Philharmoniker ungeimpft wäre, könnte das Tourneen des ganzen Orchesters, etwa nach Asien, wo die 2G-Regel auch hinter der Bühne gilt, gefährden; Spezial-Substitute auf diesem Spielniveau sind selten. Tatsächlich gibt es Orchester-Vorstände, die ihre Intendanten drängen, MusikerkollegInnen explizit zu einer Impfung zu bewegen.
In den USA herrschen bereits verschärfte Regeln: Da sind es die Orchestergewerkschaften selber, die sich (aus „Schutz der kollektiven Gesundheit“) für Impfungen aller Musiker einsetzen und dafür stimmen, dass ungeimpfte MusikerInnen entlassen werden können. Eine verpflichtende Impfung wie etwa für Krankenhauspersonal in Frankreich ist quasi auf dem Weg. Auf Seiten des Publikums spüren Kultureinrichtungen, dass die Politik ihre Entscheidungen in Sachen Corona-Prävention an sie durchreicht. In Deutschland sollen IntendantInnen weitgehend selber entscheiden, ob sie die 3G- oder die 2G-Variante bevorzugen. In der Klassik-Stadt Wien wird das 2G-Modell dagegen von Oktober an verpflichtend für alle Veranstaltungen über 500 Personen eingeführt, was von Stephan Pauly, dem Intendant des Musikvereins, befürwortet wird: So „kann man sich wirklich sicher fühlen. Das ist der höchste Sicherheitsstandard, den wir je hatten, und es ist auch absolut nicht mit dem Herbst des Vorjahres vergleichbar, als es noch keine Impfung gab.“
ISARPHILHARMONIE JA – ABER NEUES KONZERTHAUS WOHL KAUM
Begeistert zeigte sich Kollege Michael Schleicher im Münchner Merkur über die Pressekonferenz zur neuen Isarphilharmonie in München. Er schrieb: „Wer auch immer also auf dieser Bühne künftig musizieren wird – die Künstlerinnen und Künstler dürfen sich auf eine phänomenale Akustik an ihren Arbeitsplätzen freuen. Das gilt dann hoffentlich auch für die Gäste auf den maximal 1956 Plätzen, von denen keiner weiter als 33 Meter von der Bühne entfernt ist.“
Während Valery Gergiev sich über die neue Akustik freuen kann, scheint Simon Rattle nun doch länger auf das neue Konzerthaus in München warten zu müssen. Die Pläne des Hauses im „Werksviertel“ scheinen endgültig auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben worden zu sein, wie in der „Bauwelt“ zu lesen ist: Nachdem der CSU-Abgeordnete Josef Zellmeier, Vorsitzender des Haushaltsausschusses, festgestellt hatte, das Projekt müsse „auf die lange Bank geschoben werden“. Seine Argumentation, ähnlich wie schon beim Planungsstopp der Staatsphilharmonie in Nürnberg: die unüberschaubaren Corona-Kosten.
DIE GLAUBWÜRDIGKEIT DES HUMANISTEN
Wenn ich mich irgendwo festgebissen habe, schieße ich zuweilen über das Ziel hinaus – ich weiß. Deshalb würde mich Ihre Meinung interessieren. Wie glaubhaft ist es, wenn Pianist Igor Levit – vollkommen zu Recht – so ziemlich jeden Missstand in unserer Gesellschaft anklagt, gleichzeitig aber einen großen Auftritt im Festspielhaus Baden-Baden mit Dirigent Valery Gergiev inszeniert, der nachweislich homophobe Positionen vertritt, den Einmarsch auf der Krim und das System Putin verteidigt? Ich frage mich, welche Maßstäbe an Humanität und Menschlichkeit hier gelten? Rechnen wir in der Größe eine Willkür-Gut-Levits, oder liege ich vollkommen daneben? Schreiben Sie mir gern mal Ihre Meinung.
DIRIGENTEN-DINGE DER WOCHE
Letzte Woche haben wir über die Wahl des Concertgebouworkest berichtet: Der erst 24-jährige Klaus Mäkelä soll neuer Chefdirigent werden. Aber es gibt auch das Gegenmodell: Das Chicago Symphony Orchestra hat den Vertrag des 80-jährigen Riccardo Muti bis 2023 verlängert. Dazu passt ein Interview, das Zubin Mehta der Presse gegeben hat. Er findet: „Ich dirigiere wie ein junger Mann.“ +++ Das niederländische Radiophilharmonieorchester verlängerte dagegen den Vertrag mit Karina Canellakis bis 2027. Welche Rolle Agenturen bei solchen Verpflichtungen, besonders von Joana Mallwitz in Berlin, spielen, habe ich übrigens für den Freitag aufgeschrieben.
Und noch eine Dirigenten-Personalie: Das Theater Koblenz teilte mit, dass Marcus Merkel ab der Spielzeit 2022/2023 bis zunächst zur Spielzeit 2024/2025 als Chefdirigent am Theater Koblenz tätig sein wird. +++ Es geht nicht immer um Zugänge. Auch mit diesem Newsletter hat ein „Abgang“ zu tun. Letzte Woche wurde bekannt, dass der gute Freund dieser wöchentlichen Aussendung, Wiesbadens Intendant Kai-Uwe (haha!) Laufenberg, seinen Vertrag nicht verlängern wird: Schuld sind alle außer Laufenberg! Nun gab GMD Patrick Lange bekannt, dass er keine Lust mehr habe, bis zum Vertragsende von Laufenberg mit ihm zusammenzuarbeiten und seinen Vertrag als Generalmusikdirektor „aufgrund von künstlerischen Differenzen mit dem Intendanten“ vorzeitig beende. Schade: Es geht der Falsche!
PERSONALIEN DER WOCHE
Zoff um Nigel Kennedy. Englands Kuschel-Klassik-Sender Classic FM wollte nicht, dass Nigel Kennedy in einem Konzert des Senders Jimi Hendrix spielt – der Geiger war so sauer, dass er vorzeitig abreiste. +++ Daniel Barenboim hat gemeinsam mit der Stadt Berlin eine Musikschule in Pankow gegründet. Eines der Konzepte: Jeder Schüler bekommt dreimal die Woche 15 Minuten Einzelunterricht in einem Instrument. +++ In einer Rede vor den Fellows der American Academy kritisierte Regisseur Barrie Kosky das Stadtschloss: Kosky bezeichnete das Humboldt Forum als riesige Metapher dafür, wie man im 21. Jahrhundert eben gerade nicht mit der eigenen Geschichte und dem Kolonialismus umgehen solle. Hier laufe etwas spektakulär falsch.
Sie wollen Präsident oder Präsidentin der Salzburger Festspiele werden. Kein Problem: Die Bewerbung um die Nachfolge von Helga Rabl-Stadler ist offiziell eröffnet. Die Ausschreibungsfrist läuft bis 1. November. Im Ausschreibungstext heißt es, dass die zukünftige Stelleninhaberin bzw. der zukünftige Stelleninhaber „umfassende Kenntnisse des Kulturlebens, ein Grundverständnis für die künstlerische Leitung / Intendanz sowie die kaufmännischen Agenden mitzubringen“ habe. Angeblich wird in der Mozart-Stadt schon gemunkelt: Die alte Präsidentin könnte einen der fünf Präsidiums-Posten behalten – dann wäre es egal, wer „unter ihr“ Präsident würde.
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier: Klassik-Fans sind Naschkatzen. Eine Studie hat herausgefunden: Wer Mozart und Beethoven liebt, liebt auch Süßspeisen – Hip-Hop-Fans würden dagegen deftiges Fastfood bevorzugen. Eher nicht so positiv sind weiterhin die Auslastungszahlen an den Theatern oder in Konzerthäusern – in Wien sind sie maximal zu zwei Dritteln verkauft, in Deutschland in vielen Städten gerade mal zur Hälfte. In einem zehnseitigen Text für den aktuellen „Cicero“ habe ich mir Gedanken über die Zukunft der Klassik gemacht, die Bedeutung regionaler Verantwortung und die Infragestellung des Superstar-Kults.
Eigentlich wollte ich diesen Samstag nur meinem singenden Laufkumpel bei der Arbeit zuschauen – aber die Aufführung von „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ von Emilio de« Cavalieri am Theater an der Wien hat mich dann ziemlich umgehauen: Wie Giovanni Antonini die Musik aus dem Jahre 1600 mit seinem Ensemble Il Giardino Armonico ins heute geblasen hat: dissonant, chromatisch, packend – ohne je einen Hauch von Perm-Perversion: Genial! Wie Regie-Haudegen Robert Carsen diesen göttlichen Ringelreigen um Seele, Körper, Lust und Passion in ein enges, zum Bersten gespanntes Bewegungs-Korsett gebunden hat und wie ein Meisterklasse-Ensemble, eben, mit meinem Lauffreund, mit Anett Fritsch, Florian Boesch, Matúš Šimko oder dem großen Carlo Vistoli ein Fest der Stimmen feierte – das ist, was Oper kann. Das ist auch ein aus der Zeit gefallener und deshalb vielleicht besonders zeitgemäßer Gegenentwurf zum Opern-Einerlei: Ästhetik, Entdeckungen, Mut zum Neuen – und vor allen Dingen: volles Vertrauen in das Publikum!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de
Fotos: lennertz.de, Gasteig, Instagram, Chicago Symphony Orchestra, Theater an der Wien