KlassikWoche 45/2021
Kritik am Chopin-Wettbewerb, Angriff auf Philharmoniker und Gatti nach Dresden?
von Axel Brüggemann
8. November 2021
Die KlassikWoche über die Kritik von Mor Biron an den Berliner Philharmonikern, die Nachfolge von Helga Rabl-Stadler.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einem kleinen Orchester-Schwerpunkt, allerhand Personal-Spekulationen und einem Skandal-Verdacht beim Chopin-Wettbewerb.
WAS LÄUFT SCHIEF BEIM CHOPIN-WETTBEWERB?
Eigentlich war der Chopin-Wettbewerb nur eine kleine Meldung im letzten Newsletter, mit besonderem Schwerpunkt auf die Anzahl der asiatischen TeilnehmerInnen. Umso erstaunter war ich über die zahlreichen Zuschriften, in denen mir erklärt wurde, dass vieles an diesem Wettbewerb äußerst fragwürdig sei. Besonders aufgestoßen war vielen, dass in der Jury offensichtlich viele LehrerInnen der SiegerInnen sitzen. Konkret waren von den vier PreisträgerInnen drei LehrerInnen in der Wettbewerbs-Jury: Katarzyna Popowa-Zydroń, Lehrerin von Jakub Kuszlik, war sogar Vorsitzende der Jury, aber auch Dang Thai Son (von Jun Li Bui) und Piotr Paleczny (von Kyōhei Sorita) waren Jury-Mitglieder. Das ist in der Tat äußerst befremdlich!
ANGRIFF UNTER DIE GÜRTELLINIE DER BERLINER PHILHARMONIKER
Nachdem Fagottist Mor Biron bei den Berliner Philharmonikern gekündigt hat, rechnet er im VAN-Magazin mit dem Orchester ab: zu männlich, zu unengagiert, zu unleidenschaftlich. Harter Tobak! „Ich möchte mehr eine ‚weibliche‘ Seite der Kunst suchen, eine weiche, fragile Seite, mit Menschen, die Musik machen, um andere zu berühren, nicht um der Karriere willen“, sagt Mor. Dass große Orchester für viele Individualisten heute vielleicht nicht mehr zeitgemäß sind, mag sein. Eine derartige Generalabrechnung aber erscheint mir ein wenig windschief. Besonders, wenn Mor dann ausgerechnet das West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim als positiven Gegenpol vorstellt – weiblich? Gute Laune? Hmmmm….
GROßER DRUCK BEI ORCHESTERMUSIKER/INNEN
Was für ein Wochenende, ich habe meinen alten Frottee Pyjama für „Wetten, dass???“ ausgemistet und – natürlich – „Tatort“ geschaut. Letzterer spielte in Münchens Orchesterszene: Zwei MusikerInnen versuchen, ihre Leistung durch „Klarträume“ zu steigern. Vielleicht auch aus jenem Stress und Frust, von dem Mor Biron im Van-Magazin berichtet hat. Die Deutsche Orchestervereinigung sieht das Problem größer und klagt, dass zu wenig für psychische Gesundheit von MusikerInnen getan wird.
DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Die wechselseitige Kontrolle untereinander im täglichen Proben- und Aufführungsbetrieb, der Pultnachbarn untereinander, innerhalb einer Stimmgruppe, aber auch im gesamten Orchester ist sehr groß.“ Er vergleicht einen Patzer im Konzert mit einem verschossenen Elfmeter beim Fußball. „Ein nicht ganz auf den Punkt gespielter Einsatz oder ein ‚Kickser‘ bei Blechbläsern fällt auf das betreffende Orchestermitglied, die gesamte Stimmgruppe und letztlich das gesamte Orchester zurück!“ Außerdem hätte die Corona-Krise tiefe psychische Spuren hinterlassen.
POLITIK, PANDEMIE UND PROTESTE
Am Mittwoch ruft das Bündnis #rettedeintheater zu einer großen Demo in Hannover auf. KünstlerInnen protestieren gegen den Plan der niedersächsischen Landesregierung, weitere Einsparungen in der Kultur vorzunehmen. Bereits jetzt würden MitarbeiterInnen unter Mindestgagen von 2.000 Euro bei befristeten Verträgen leiden, unter geteilten Diensten, 44-Stunden-Wochen und Wochenenddiensten. Bemühungen um bessere Arbeitsbedingungen würden durch den Haushaltsplanentwurf massiv geschwächt. Die Theaterschaffenden fordern eine auskömmliche Finanzierung der Kultur und machen darauf aufmerksam, dass Niedersachsen auf dem drittletzten Platz der Pro-Kopf Ausgaben für Kultur im Ländervergleich liegt.
Eine Niederlage musste die Initiative #aufstehenfürdiekunst hinnehmen. Ihre Klage in Österreich wurde abgelehnt, gleichzeitig begrüßt sie den Plan des neu konstituierten Bundestages, die epidemische Notlage von nationaler Tragweite im November auslaufen zu lassen. Maximilian Maier moderiert heute eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema mit Barbara Mundel und Enjott Schneider.
NÜRNBERGER OPER IM NS-KOMPLEX IN DER KRITIK
An dieser Stelle haben wir immer wieder über die Idee berichtet, dass die Nürnberger Oper für die Sanierungsmaßnahmen-Jahre in den Innenhof der ehemaligen NS-Kongresshalle auf dem Reichsparteitagsgelände umziehen soll. Nun wird die Kritik – zu Recht! – immer lauter: Historiker Bernd Windsheimer vom Verein Geschichte für Alle, sagt, dass der Gebäudetorso bis heute als Lern- und Mahnort diene. Weil er „mit seiner Granit-Blendfassade für die Programmatik und die Ideologie der Nationalsozialisten steht. Diejenigen, die nicht Teil dieser Volksgemeinschaft sein sollten, waren ausgesperrt.“ Sein Verein sei nicht in die Diskussion einbezogen worden, obwohl man seit vielen Jahren Bildungsarbeit auf dem Gelände mache. „Wir bestreiten, dass dieses Gebäude allein durch Kunst und Kultur transformiert werden könnte, so wie es postuliert wird. Weil nie begründet wurde, wie das genau geschehen soll. Wenn man das Gebäude als Wunde in der Stadt sieht, die immer wieder zurückverweist auf die unselige NS-Zeit, dann ist es eine Wunde, die offen bleiben sollte. Das ist unsere Ansicht.“
PERSONALIEN DER WOCHE
Schändung! Aus Wiesbaden erreichen mich schockierende Bilder: Nachdem der Freundeskreis von Wagner-Tenor Andreas Schager Weltesche, Wald und Schwert-Denkmal für seinen Star errichten ließ, wurde das Sänger-Mal nun geschändet: Nothung ist über Nacht verschwunden! Es wird gefahndet. Wie heißt es nochmal ungefähr: „Die Wunde schließt das Schwert nur, das sie schuf!“ +++ Ansonsten gab es viele Spekulationen in dieser Woche. Christian Berzins ist sich in der Aargauer Zeitung ziemlich sicher, dass eine Frau Andreas Homoki als Intendantin in Zürich nachfolgen wird. Seine Favoritinnen: Sophie de Lint (aber wird sie schon jetzt von der Niederländischen Nationaloper nach Zürich zurückkehren?), Elisabeth Sobotka (die von Bregenz vielleicht auch Ambitionen auf andere größere Häuser hegt) oder Susanne Moser (die allerdings nun gerade an der Komischen Oper in Berlin aufgestiegen ist).
Spekulationen auch bei den Salzburger Festspielen. Zunächst hat Noch-Präsidentin Helga Rabl-Stadler bekannt gegeben, dass der Umbau der Salzburger Festspielhäuser bis 2030 vollständig abgeschlossen sein soll. Die größere Frage aber ist, wer wird der scheidenden Präsidentin Rabl-Stadler nachfolgen? Im Gespräch sind all die Namen, die auch an dieser Stelle bereits gefallen sind: Landeshauptmann Wilfried Haslauer, Wirtschaftsanwalt Johannes Honsig-Erlenburg oder Bald-ORF-Ex-Intendant Alexander Wrabetz. Zudem stehen Europaministerin Karoline Edtstadler, Sängerin Angelika Kirchschlager, Elisabeth Resmann und die frühere Außenministerin Ursula Plassnik im Raum. Und was, wenn doch alles ganz anders kommt? Statt eines Präsidenten könnte auch ein Kuratorium aus mehreren Personen übernehmen, zu dem dann vielleicht auch wieder Helga Rabl Stadler gehören könnte – ist doch egal, wer „unter ihr“ Präsident wird und sich ums Sponsoring kümmert. Tu felix Austria! +++ In Dresden werden die Spekulationen immer lauter, dass der Pendel unter den MusikerInnen der Staatskapelle in Richtung Daniele Gatti schlägt. +++ Nachdem Russland angekündigt hatte, die vakante Villa von Rachmaninow in Luzern zu kaufen, aber nicht gehandelt hat, ist nun der Kanton Luzern mit 16 Millionen Franken eingesprungen, um die „Villa Senar“ zu retten. +++ Und es gibt noch die Chronistenpflicht, das Ableben eines wirklich großen Musikers zu dokumentieren: Nelson Freire ist im Alter von 77 Jahren in Rio de Janeiro verstorben.
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BÜRGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier? Die neue Isarphilharmonie hat mir ein Video geschickt: In der Vogelperspektive über das neue Haus – vielleicht ein bisschen kitschige PR, aber auch ein Zeichen des Aufbruches! Und dann ist meine anderthalbwöchige Kino-Reise für meinen neuen Wagner-Film (Er läuft auch ohne mich in den Kinos!) nun auch vorbei. Einen Zwischenstopp habe ich – auf Einladung von Dirigent Marcus Bosch – eingelegt, als Gast der Konferenz der Generalmusikdirektoren. Es ging um Perspektiven für die Klassik. Kurz gesagt: Mehr Vor-Ort-Initiative, ein tägliches Bewusstwerden, „warum mache ich heute genau dieses Programm mit diesem Orchester vor diesem Publikum“, keine Angst vor kontroversen Debatten (Orchester können selber zu Medien ihrer Relevanz werden) und allen voran: Qualität, Qualität, Qualität! Einen etwas objektiveren Bericht zur GMD-Konferenz hat Kollege Michael Kuhlmann für den MDR verfasst (was meint er nur mit „Muppet Show“?!?)
Und sonst? Der MDR hat bei Spotify nachgeschaut und eine Top 7 der meist gestreamten Komponisten erstellt: Auf den Plätzen sieben bis vier liegen Schubert (2,8 Mio.), Händel (2,9), Debussy (4,3) und Chopin (5,1) – Mozart (5,7) erreicht Platz drei, Beethoven (6,1) Platz zwei, und auch in der Digitalen Welt behauptet sich Bach (7,2) als Gott von eh allem!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de
FOTOS: Chopin-Wettbewerb / Czarek Sokolowski/AP, Berliner Philharmoniker, ARD, Privater Informand :-), Brüggemann