KlassikWoche 50/2020

Lassen wir Moni weiter schlafen…

von Axel Brüggemann

7. Dezember 2020

Igor Levits Auftritt im Dannenröder Forst, Rolando Villazóns Statement zu Live-Streams, Streaming-Konzerte mit virtuellen Pausengesprächen.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit einem Pianisten, der uns nicht auf die Palme, wohl aber auf die Baum­krone bringt, mit aller­hand erfolg­rei­chen Orchester-Modellen, einem virtu­ellen Neujahrs-Applaus und einer ganz persön­li­chen Rück­tritts­for­de­rung. 

ROBIN VON DER DANNEN­RÖDE

Es ist wieder so ein typi­scher : „Kannste nix gegen sagen, aber irgendwie bleibt ein schaler Beigeschmack.“ Dieses Mal spielte er ein Stünd­chen-Ständ­chen im Dannen­röder Forst – für die Akti­visten, gegen die Rodung, und das alles auf Einla­dung von und gespon­sert von Green­peace. 18 Funk­laut­spre­cher haben das Konzert über­tragen (u.a. den irischen Folk­song „Danny Boy“). Aber was machte den Eich­hörn­chen am Ende mehr Angst, die im Hinter­grund sägenden Sägen oder die zahl­rei­chen Kame­ra­ver­schlüsse der eigens ange­reisten Pres­se­fo­to­grafen, die Levits neuesten Scoop in die Welt geschossen haben?

Der Dannen­röder Forst wird wohl fallen, Levits unend­li­ches Gespür für Medi­en­er­eig­nisse und die Stili­sie­rung seiner Robin-Hood-Aura sind dagegen ins Kraut geschossen. Letzte Frage: Wo waren eigent­lich Karl Lauter­bach und , um sich in luftigen Farn-Klamotten auf dem Flügel zu räkeln und von episch besungen zu werden? Wirk­lich inter­es­sant: Die Skepsis auf Levits eigener Insta­gram-Seite wächst – Genie oder Schar­la­ta­nerie?

Nach­denken? Inne­halten? Klappe halten?

Ich weiß nicht, wie als Inten­dant in Rudol­stadt ist, ich weiß nur, dass er eines jener Bücher geschrieben hat, die mich immer wieder einholen: „Scher­manns Augen“ – ein zutiefst mensch­li­cher Roman über das Unmensch­liche aus dem Gulag. Nun hat sich Menschig als Thea­ter­mann zu Wort gemeldet, kurz gesagt: Er hält nichts vom allge­meinen Lamen­tieren, findet es okay, dass die Theater schließen, schließ­lich ginge es jetzt um Menschen­leben, Kultur sei da zweit­rangig, man solle den Still­stand zur Muße und zur Selbst­be­fra­gung nutzen—ich glaube, ich bin in dieser Sache nicht seiner Meinung, aber darüber muss ich noch nach­denken. Hier sein durchaus streit­barer (und deshalb span­nender) Post.

VOLL­KOMMEN VIRTUELL?

Viel­leicht etwas verspätet, aber auch hat sich diese Woche in die Debatte um Live-Streams einge­mischt. Es sei oft groß­artig, was da gebracht werde, „aber Kultur kostet einfach viel Geld, weil alle Betei­ligten etwas verdienen müssen“, sagte der Tenor und Inten­dant der in Salz­burg dem Münchner Merkur. Tatsäch­lich tüfteln viele derzeit an Alter­na­tiven. An das Virtu­elle glaubt derweil Jasper Parrott, der mir eine Mail schrieb und mich auf sein neues Projekt aufmerksam gemacht hat, den „Virtual Circle“, auf dem er eine „Erwei­te­rung des Live-Ereig­nisses und keine Alter­na­tive zu ihm“ verspricht.

Und dann bin ich auf noch ein span­nendes Projekt gestoßen: Auf Digital Concert Expe­ri­ence expe­ri­men­tieren unter anderen der Deut­sche Musikrat und das Radi­al­system mit mode­rierten Live-Konzerten und – das ist das Beson­dere – der Möglich­keit von virtu­ellen Pausen­ge­sprä­chen. Schade, dass die Aufma­chung der Seite eher lust­fremd daher­kommt und mehr ein Wissen­schafts-Projekt als einen betö­renden Konzert­be­such verspricht.

Dass Streams keine Entspre­chungen zu „normalen“ Auffüh­rungen sein können, haben inzwi­schen die meisten Orchester begriffen. Mit den Wiener Sympho­ni­kern tüftle ich selber an Konzepten: Wir sind mit unseren Wohn­zim­mer­kon­zerten (kurze Talks, kurze Stücke – viel Emotionen) in die zweite Staffel gegangen, jeden Freitag, 20:15 Uhr, u.a. mit , Tobias Wögerer und . Hier ein Einblick in unser letztes Konzert. Und, logo: Wer nicht weiß, was gerade läuft, immer einen Klick wert, die neue „Fern­seh­zei­tung für Streams“ von CRESCENDO: FOYER​.de ist der Guide durch alle span­nenden Klassik-Streams.

WENN MUSIK ANKOMMT

Wo bleibt das Gute? Hier! Eine Studie zeigt, dass die Orchester in -Würt­tem­berg mit ihren Vermitt­lungs­an­ge­boten (u.a. die Würt­tem­ber­gi­sche Phil­har­monie , das Phil­har­mo­ni­sche Orchester sowie das Würt­tem­ber­gi­schen Kammer­or­ches­ters Heil­bronn) in ihrer Arbeit konse­quent ein neues Publikum errei­chen und erschließen. Ange­sie­delt am Institut für Kultur­ma­nage­ment der Pädago­gi­schen Hoch­schule hat das Forschungs­pro­jekt fest­ge­stellt, dass mehr als zwei Drittel der Befragten bereits Vermitt­lungs­an­ge­bote der betei­ligten Orchester genutzt haben und mit den bereits genutzten Vermitt­lungs­an­ge­boten mehr­heit­lich zufrieden oder sehr zufrieden waren. In Bezug auf Gestal­tung künf­tiger Ange­bote wünschen sich die Betei­ligten unter anderem mehr Einblick in die Orga­ni­sa­tion des Orches­ters sowie mehr digi­tale Ange­bote, etwa das Programm­heft als App. Mehr zu den Ergeb­nissen dieser Studie hier

DER KLASSIK-CORONA-TICKER

Die Orgelpfeifen der Elbphilharmonie. Der Lockdown wird dazu benützt, sie zu putzen.

Es gibt unter­schied­liche Arten, mit dem Lock­down umzu­gehen: Das Konzert­haus macht es vor und verschenkt den leer­ste­henden Raum an Künstler. Der Ruf der wurde in der Corona-Zeit nicht besser: enttäuschte Künstler, Veran­stalter und Ensem­bles wurden mit Forde­rungen konfron­tiert – und auch den neuer­li­chen Lock­down nutzt man nun wenig kreativ zum Putzen: Die 4.765 Orgel­pfeifen werden gesäu­bert und gewartet. +++ Das tradi­tio­nelle Neujahrs­kon­zert der wird ohne Vor-Ort-Publikum statt­finden. Der ORF gibt bekannt: „Erst­mals wird der von Millionen Menschen in mehr als 90 Ländern welt­weit gese­hene kultu­relle Große­vent inter­aktiv zugäng­lich sein. Im Rahmen einer Koope­ra­tion mit dem Grazer Unter­nehmen Poet Audio […] wird am Ende beider Konzert­teile Live-Applaus von Tausenden Zuse­he­rinnen und Zuse­hern gene­riert und im Musik­verein einge­spielt.“ Aber wer sorgt für das rhyth­mi­sche Klat­schen, wenn den Radetzky-Marsch diri­giert?

+++ Mein neuer Freund von der Baye­ri­schen Staats­oper hat den Abschluss­be­richt zum Pilot­pro­jekt ‚Probe­weiser Betrieb der Baye­ri­schen Staats­oper mit erhöhter Zuschau­er­an­zahl« an die zustän­digen Stellen über­geben: „Unter den gege­benen Bedin­gungen des Pilot­pro­jekts (7‑Tage-Inzi­denz über­wie­gend zwischen 35 und 100 je 100.000 Einwohner) konnte keine erhöhte Infek­ti­ons­wahr­schein­lich­keit für das Publikum fest­ge­stellt werden“, teilte die Staats­oper unter Beru­fung auf zahl­reiche Experten mit. Das sollte der Politik mit ihrer Media­Markt-Öffnung ernst­haft zu denken geben.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Machen gemeinsame Sache: Rammstein-Sänger Till Lindemann und der Geiger David Garrett

Der Schweizer Julien Chavaz wurde vom Stadtrat der Landes­haupt­stadt zum neuen Gene­ral­inten­danten des Vier­spar­ten­hauses gewählt. Damit tritt der 38-Jährige zur Spiel­zeit 2022/2023 die Nach­folge von Karen Stone an, die nunmehr in der elften Spiel­zeit die Geschicke des Thea­ters Magde­burg mit Erfolg leitet. +++ Ramm­stein-Rocker und Geiger (Foto) machen mit dem Song „Alle Tage ist kein Sonntag“ gemein­same Sache – und kombi­nieren Schlager, Rock und Klassik. Veröf­fent­licht wird am 11. Dezember, und, ganz ehrlich: Das klingt so sehr nach Crash, dass es durchaus gut werden könnte. +++ Die kultur­po­li­ti­sche Spre­cherin der CDU, , hat 40 Millionen Euro Bundes­gelder für die Sanie­rung des Konzert­hauses Die Glocke in beim Bund frei­ge­macht – und bekommt dafür in ihrer (und meiner) Heimat einen auf den Deckel. Müsse man das Geld nicht für notlei­dende Künstler ausgeben? Ich habe Motsch­mann ange­rufen: „Es ist gerade in dieser Zeit wichtig“, sagt sie, „sowohl die akute Not von Künst­le­rinnen und Künst­lern, aber auch von Ensem­bles und Veran­stal­tern zu lindern. Gleich­zeitig müssen wir aber auch anti­zy­klisch in die Zukunft großer kultu­reller Leucht­türme wie die oder die Glocke in Bremen inves­tieren. Machen wir das jetzt nicht, wird es irgend­wann viel­leicht zu spät sein.“ +++ Die Archi­tekten Kilian Kada und Gerhard Witt­feld haben im Tages­spiegel neue Einblicke in die Zukunft der Komi­schen Oper in Berlin gegeben. +++ Der ehema­lige Chef des Wiener Staats­opern­bal­letts, Manuel Lengris, geht an die Mailänder Scala zu seinem früheren Chef, Inten­dant . +++ Gibt es eigent­lich ein Haus, das derzeit keinen digi­talen Advents­ka­lender betreibt? Umso schöner, dass es auch die selbst­ge­bas­telte Vari­ante gibt: Der Sänger Rafael Fingerlos hat seine Seite eigent­lich für Fami­li­en­mit­glieder und Freunde „gebas­telt“ und betreibt – viel­leicht auch deshalb – einen der natür­lichsten, erfri­schendsten und unaf­fek­tier­testen Advents­ka­lender. +++ Am 13. Dezember über­trägt die Lohen­grin-Première der Staats­oper Unter den Linden – in der Titel­rolle . Ich habe mit ihm über sein neues Album und über sein Debüt gespro­chen

UND SONST, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ich weiß, man sollte sich an Dingen nicht fest­beißen. Aber, um es mit den Worten unserer Kultur­staats­se­kre­tärin zu sagen, es lässt mich einfach nicht mehr schlafen. Was? Na, sie: . Ich lese von wich­tigen Aktionen, wie jener des Diri­genten und der Sänger und , die derzeit juris­tisch versu­chen, sich gegen die Schlie­ßung von Kultur­in­sti­tu­tionen aufzu­bäumen. Gut so! Das erlaubt unser Rechts­staat. Und, selbst wenn die Aussicht auf Erfolg gering ist, ist es wichtig, dass Menschen und Künstler recht­liche Schritte gehen und die Lage prüfen lassen. Ich frage mich aller­dings, warum wir ein anderes demo­kra­ti­sches Mittel nicht viel klarer nutzen: Das öffent­liche Miss­trauen gegen einen Volks­ver­treter auszu­spre­chen. Warum gibt es so wenige Stimmen, die den Rück­tritt von Monika Grüt­ters fordern? Weil ihre Rolle längst egal geworden ist? Weil sie selber es geschafft hat, ihre Wich­tig­keit zu demon­tieren? Könnte sein! Aber ist der öffent­liche Druck auf Poli­tiker zuweilen nicht auch ein legi­times und zutiefst demo­kra­ti­sches Mittel? Viel­leicht stehe ich mit dieser Über­zeu­gung ja allein da. Aber als ich Monika Grüt­ters neulich im Morgen­ma­gazin gesehen habe, konnte man schon ein wenig Mitleid mit ihr bekommen, dass die arme und offen­sicht­lich amts­müde und hand­lungs­un­fä­hige Frau ihr Amt noch immer jeden Tag ausfüllen muss. Gönnen wir ihr doch eine Pause und ihr Recht auf gesunden Schlaf.

Okay – wir wollen nicht in Moll enden. Kommen wir noch zu etwas ganz anderem: Liebe Hunde­halter und Musik-Lieb­haber, dieser Text der Süddeut­schen ist ein Muss für Euch – viel­leicht doch mehr Reggae als Rhein­gold?

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

brueggemann@​crescendo.​de

P.S.: Ich weiß nicht, wie die Kollegen so schnell über dieses 1000-Seiten Buch schreiben können, ich lese noch, glaube aber, es ist ziem­lich genial!