KlassikWoche 50/2022
Salzburger Burnout und andere Nockerl
von Axel Brüggemann
12. Dezember 2022
Die angekündigte Rückkehr von Daniel Barenboim ans Pult, neue Konzepte für die Ticketpreise an den Opernhäusern, Cyberattacken auf den Musikverein und die Met.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute haben wir viel vor: Braucht die Klassik neue Kartenpreise? Wen wollten die Reichsbürger zum Kulturminister machen? Regiert das Burnout die Salzburger Festspiele? Und kommt Daniel Barenboim wirklich zurück? So viele wichtige Fragen, dass wir uns heute gar nicht um unser Wiener Lieblings-Reindeer kümmern können.
Dirigenten-Geschichten I
So viele Dirigenten-Geschichten haben diese KlassikWoche bestimmt. Die beste zuerst: Daniel Barenboim will pünktlich zu den Neujahrs- und Silvester-Konzerten der Berliner Staatskapelle wieder am Pult stehen, erklärte die Pressestelle der Oper. Wir drücken die Daumen. Christian Thielemann hatte gerade noch die Asien-Tour für Barenboim übernommen und kehrte beschwingt zurück. „Die Chemie stimmt“, erklärte er gegenüber der DPA über seine neue Liebe zu den Berlinern, aber natürlich wolle er seinen Dresdenern bis zum letzten Tag seines Vertrages 2024 treu bleiben („Pacta sunt servanda“).
Ach ja, und Teodor Currentzis wurde bei seinen Konzerten mit dem SWR Symphonieorchester offenbar gefeiert, Sender und Publikum scheint seine politische Indifferenz (und sein Schweigen zu den Vorfällen in seinem Orchester musicAeterna) noch immer nicht zu stören. Allerdings erklärte SWR Artist in Residence, der Perkussionist Martin Grubinger, in einem Interview mit Georg Rudiger für u.a. die Salzburger Nachrichten mit Blick auf Currentzis: „Man kann Toscanini sein oder Karajan. (…) Toscanini hat sich, was sein Verhalten gegenüber den Nazis oder dem faschistischen Régime in Italien angeht, besser in den Spiegel schauen können. Ich ziehe es vor, mit Künstlern in Austausch zu treten, die lieber Arturo Toscanini sein wollen als Herbert von Karajan. Oder anders gesagt – Opportunisten und Wendehälse sind so gar nicht mein Ding.“
Das Salzburger Burnout
Mensch, Markus Hinterhäuser: Wie beratungsresistent muss man denn sein? Das Presse-Echo zum Programm der nächsten Salzburger Festspiele hätte man vorhersehen können: „Große Namen, vertraute Namen, aber kaum Frauen in künstlerischer Verantwortung“, schreibt Tobias Stosiek im BR, „das ist eine richtig peinliche Nummer!“ Der BR fragt, ob man zum Thema „Die Zeit ist aus den Fugen“ nicht das eigene Sponsoring hätte hinterfragen oder neue Akzente setzen sollen, denn in der Tat wurde da ein Programm vorgestellt, das sich sehr nach Burnout anhört, nach dem Ewiggleichen: Franz Welser-Möst mit Asmik Grigorian (Verdis Macbeth), Ingo Metzmacher mit Christoph Marthaler (Verdis Falstaff), Raphaël Pichon und Martin Kušej (mit Mozarts Figaro), und in den Konzerten mal wieder Igor Levit, Grigory Sokolov, András Schiff oder Martha Argerich. Seinen Freund Teodor Currentzis wollte Hinterhäuser nicht absägen und hat ihn (dieses Mal mit Red-Bull-Orchester Utopia) so halbherzig versteckt wie meine Tochter sich mit sechs Jahren unter dem Wohnzimmersofa (kurzer Einschub: Unsere aktuellen Recherchen über das Orchester, seinen eigentlichen Sitz, seine offizielle (und inoffizielle) Finanzierung und seine zum Teil identischen Mitglieder wie bei musicAeterna werden uns im nächsten Jahr wieder beschäftigen, und Markus Hinterhäuser wird noch einmal viele Fragen beantworten müssen. Aber jetzt gönnen wir uns erst mal eine kleine Pause!).
Provinziell ist, wenn man nichts wagt, im eigenen Saft brodelt, nicht schaut, was da draußen sonst so los ist und jede Kritik als persönlichen Angriff versteht. In diesem Sinne haben wir es wohl mit den provinziellsten und unneugierigsten Salzburger Festspielen der letzten 30 Jahre zu tun. Man kann sich schon heute die Stimmung vorstellen, wenn Martin Kušej, der gerade am Burgtheater abgesägt wird, mit Markus Hinterhäuser im Triangel sitzt und bösen Bloggern ihre schlechte Laune in die Schuhe schiebt. Ob man Hinterhäusers Vertrag über 2026 hinaus verlängert – nach diesem ignoranten „Weiter so“ eher unwahrscheinlich.
Dirigenten-Geschichten II
Den Salzburger Festspielen wird – zu Recht – das Festhalten am Ewiggleichen ausgerechnet in Zeiten des Umbruches vorgeworfen. Umso spannender wird es sein, wer 2024 das neue Jahr im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins einläuten wird (am 1. Januar 2023 wird Franz Welser-Möst ein Programm mit vielen erstmals gespielten Werken präsentieren).
Spannende Kandidaten gäbe es ja allerhand: Nathalie Stutzmann, die in Bayreuth debütieren wird (und gerade in Philadelphia gefeiert wurde), oder andere vielversprechende Frauen wie Marie Jacquot oder Karina Canellakis (allerdings dirigiert keine von ihnen irgendein Konzert der Wiener Philharmoniker), spannend auch ein Wien-Besuch von Kirill Petrenko, oder zumindest einer der beiden aktuellen Shooting-Stars, Jakub Hrůša oder Klaus Mäkelä (die nun immerhin bei Konzerten der Philharmoniker zu hören sein werden) aber am Ende – so hört man es im Imperial flüstern – wird es dann wohl doch wieder: Christian Thielemann.
Kreative Ticket-Preise: Rettung oder Dumping?
Der Intendant der Staatsoper München, Serge Dorny, hatte an dieser Stelle vor einigen Wochen gefordert, dass die Ticketpreise an deutschen Theatern grundsätzlich überdacht werden müssten, da die Teilhabe aller Menschen an Kultur kaum noch gewährleistet sei. Andere Häuser sammeln bereits Erfahrungen mit neuen Bezahlmodellen. Im aktuellen Podcast „Alles klar, Klassik?“ (hier für alle Podcast-Player nachzuhören) berichtet die Erfinderin des 9‑Euro-Tickets, Mareike Hujo vom Theater Hagen, von großen Erfolgen: „In der strukturschwachen Region Hagen beobachten wir seit Einführung des Tickets eine wachsende Karten-Nachfrage, besonders von Menschen, die zuvor noch nie im Theater waren.“ Derzeit arbeite man an einem Konzept, wie man das neue Publikum auch in Zukunft an das Haus binden könne. Auch Christoph Drescher von den Thüringer Bachwochen macht positive Erfahrungen mit einem solidarischen Pay-what-you-can-Modell.
Dem Generalsekretär des Deutschen Musikrates, Christian Höppner, geht der 200-Euro-KulturPass für 18-Jährige von Kulturstaatsministerin Claudia Roth derweil nicht weit genug. „Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Höppner. Die Idee setze zu spät an, und der Kauf von Noten würde nicht gefördert. Der 200-Euro-KulturPass könne „das katastrophale Versagen der Kultusministerkonferenz, was die musikalische Bildung in Deutschland betrifft, nicht ausgleichen“. Höppner findet es „einen Skandal, dass allein an unseren Hauptschulen 74 Prozent des Musikunterrichts ausfallen. Wir müssen leider feststellen, dass die Kultusministerkonferenz mit dem Tempo einer griechischen Landschildkröte arbeitet.“
Gehackte Seiten in Wien und New York
Gleich zwei große Klassik-Institutionen hatten diese Woche massive Computer-Probleme und konnten keine Karten-Buchungen mehr verwalten. Die MET-Opera in New York meldete, dass sie Opfer einer Cyberattacke geworden sei und musste den Kartenverkauf einstellen. Ebenso erging es diese Woche dem Musikverein in Wien – auch hier konnten zeitweise keine Online-Buchungen vorgenommen werden, Kartenbestellungen wurden telefonisch bearbeitet. Ärgerlich, ausgerechnet im Vorweihnachtsgeschäft.
Der Tenor als Reichs-Kulturminister?
Es schien ein wenig wie eine schlechte Operette, was wir letzte Woche verfolgt haben: Reichsbürger um den Adeligen Heinrich XIII. Prinz Reuß haben wohl einen bewaffneten Aufstand geplant und wollten die deutsche Regierung durch ein Schattenkabinett ersetzen. In einer Spiegel-Recherche hieß es zunächst, ein Tenor war als Kulturminister im Gespräch. Später meldete die Bild, es handle sich um den Sänger René Reiling, der hier mit Time to Say Goodbye zu hören ist.
Personalien der Woche
Wir hatten es bereits berichtet, nun ist es auch offiziell: Der Regisseur Tobias Kratzer wird von 2025 an die Staatsoper Hamburg leiten. Wer auf Chefdirigent Kent Nagano folgt, ist noch unklar. +++ Philippe Jordan triumphierte bei den Wiener Meistersingern (wir haben nicht berichtet :-)) – der Applaus für ihn war wohl auch Publikums-Protest gegen unser kleines Reindeer-Roščić, glaubt Reinhard Kager in der FAZ. +++ Die britische Agentur Askonas Holt wurde offensichtlich zu 100 Prozent an das San Francisco Conservatory of Music (SFCM) verkauft. Das berichtet der Journalist Norman Lebrecht auf seiner Seite Slipped Disc. SFCM betreibt bereits die Agentur Opus3 und das Label Pentatone. +++ Gerade haben wir seinen Geburtstag gefeiert, jetzt hat er der BZ ein Interview gegeben: „Singen ist bei mir zu Hause verboten“, sagt René Kollo. +++ Wladimir Putin hat gerade ein Gesetz gegen LGBTQ-„Propaganda“ unterschrieben – wird in Russland nun auch Tschaikowski verboten? +++ Der italienische Kultur-Staatssekretär Vittorio Sgarbi setzt Scala-Intendant Dominique Meyer unter Druck. Sgarbi, der seit Ende Oktober als parteiloser Staatssekretär Mitglied der Regierung um Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist, mahnt Meyer, sich für die Rückkehr des Stardirigenten Riccardo Muti an die Scala einzusetzen und will, dass mehr italienisches Repertoire gespielt wird.
Wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier: Es ist bald Weihnachten. 12 Tage noch. Letzte Woche haben wir uns an dieser Stelle schon über Jonas Kaufmann gefreut, für den SWR habe ich noch mal in einer kleinen Weihnachtsgeschichte erzählt, was mein Geigenspiel von seinem Singen unterscheidet (habe mich wirklich sehr über all die Reaktionen gefreut!) … wir waren gestern als Familie in Hänsel und Gretel – und: Ja, die Vorweihnachtszeit ist auch die Zeit der Musik. Der Musik in unserer Nähe, in unseren Kirchen, in unseren Theatern – und bei uns zu Hause. Ich wünsche Ihnen eine besinnliche Adventszeit.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de