KlassikWoche 08/2023
Der Krieg, der Opernball und Dackel Gustav
von Axel Brüggemann
20. Februar 2023
Der Umgang mit der Hundekacke-Attacke von Marco Goecke, die Musikauswahl zur Krönung von Charles III., die Nachfolge von Kent Nagano als GMD in Hamburg.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einem neuen GMD für Hamburg, ein bisschen Sigmund-Freud-Therapie, begeisternden Aufführungen auf unseren Bühnen und einer Klassik-Bilanz nach einem Jahr Ukrainekrieg.
Die Hundekacke-Rezeption
Okay, ich gebe der Kollegin Hannah Schmidt vom VAN-Magazin recht. In ihrem Text findet sie, dass ich die Hundekacke-Attacke von Hannovers Ballett-Chef Marco Goecke auf FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster als „peinlich“ abgetan hätte, sei verharmlosend. Tatsächlich wäre es wohl richtiger gewesen, von einem „nicht hinnehmbaren Akt“ zu sprechen, oder von einer „nicht zu tolerierenden Grenzüberschreitung“. Aber ich bleibe dabei, dass ich die Aufregung im Feuilleton für überdimensioniert halte. Sigmund Freud hätte seine wahre Freude an den heftigen Reaktionen auf die Ka-Ka-Attacke von Hannover und daran, auf welche Reflexionsflächen und fertigen Muster diese Aktion gestoßen ist: Angriff auf Pressefreiheit, Beweis des toxischen Klimas an unseren Theatern oder – und da, liebe Hannah Schmidt, finde ich, gehen Sie etwas sehr weit – Vorstufe zum „Femizid“, also der Auslöschung der Frauen! Ist nach dem Ausraster nicht alles ziemlich richtig gelaufen? Haben nicht alle Systeme funktioniert? Das Haus hat sich entschuldigt, sich von Goecke getrennt, Strafanzeige wurde gestellt – der Staatsanwalt übernimmt. Das Theatersystem, die Öffentlichkeit und die Justiz funktionieren.
Was mich wirklich ärgert, ist, dass hinter dem Übergriff eines Menschen, der sich offensichtlich nicht im Griff hat, die vielen täglichen Versuche (besonders von Intendanten), kritischen Journalismus mundtot machen zu wollen, verschwinden. Da fliegt zwar keine Kacke, aber besser ist das auch nicht. Der Intendant internationaler Festspiele zieht mit Lügengeschichten über Journalisten durch die Gegend, Alpha-Intendanten rufen in Chefredaktionen an und fordern, dass bestimmte JournalistInnen nicht mehr schreiben, Kritikern werden Pressekarten verwehrt, oder sie werden als „Parasiten“ beschimpft. DAS sind alltägliche Macht-Kämpfe, die meist im Schatten unseres Theatersystems stattfinden. DAS sind Angriffe auf eine kritische Presse von Führungspersonen, die in ihren Theater-Kontexten offenbar Kritik verlernt haben. DAS sind Alltäglichkeiten, liebe Hannah Schmidt, die wir vielleicht gemeinsam viel öfter thematisieren sollten. Oben im Bild übrigens der Besuch von Kacke-Dackel Gustav an der Wiener Staatsoper vor einigen Jahren.
Musik für den König
Das wird eine große Sause am 6. Mai 2023. Zwölf neue Stücke werden zur Krönung von Charles III. gespielt. Der Buckingham Palast erklärte, dass unter anderem Andrew Lloyd Webber dem König eine neue Hymne widmen wird – komponiert für den Chor der Westminster Abbey. Außerdem wird es neue Stücke der Hofkomponistin Judith Weir geben, von Paul Mealor, Shirley J. Thompson und Debbie Wiseman.
Am Gottesdienst werden SängerInnen wie Sir Bryn Terfel, die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende und der britische Bariton Roderick Williams auftreten. Das Krönungsorchester wird von Antonio Pappano geleitet werden. Vor dem eigentlichen Gottesdienst wird Sir John Eliot Gardiner im „Vorprogramm“ dirigieren – Musik von William Byrd, Georg Friedrich Händel, Edward Elgar, Hubert Parry und Sir Karl Jenkins. Immerhin: Charles meint es mit seiner Klassik-Liebe ernst. Und all das ganz ohne Elton John!
Die Klassik ein Jahr nach Kriegsausbruch
Ein Jahr, viel zu viele Tote – und noch immer: kein Ende in Sicht. Russlands brutale Annexion der Ukraine hat die Welt grundlegend verändert. Auch die Welt der Klassik. Manche Konsequenzen wurden schnell gezogen: Valery Gergiev musste als Chef der Münchner Philharmoniker gehen, in Sachen Teodor Currentzis und musicAeterna konnte man lernen, wie ein eng an Wladimir Putin, Gazprom, VTB Bank und Staatspolitik gekoppeltes Ensemble durch Schweigen zum Propaganda-Werkzeug wird. Und in Wiesbaden tobt derzeit noch immer ein Kampf um Anna Netrebko. Nachdem das Ukrainische Nationalorchester die Mitwirkung an den Maifestspielen abgesagt hatte, will nun auch der Ersatz, die Band Pussy Riot, nicht an der Seite von Netrebko auftreten. Aus der ansonsten gern besserwisserischen Pressestelle in Wiesbaden dröhnt nun: Schweigen. Pussy Riot habe offiziell noch nicht abgesagt. Deshalb: kein Kommentar.
In Wiesbaden kann man bestens beobachten, wie Kai Uwe Laufenberg als einzelner Mensch den Konflikt für sein eigenes Ego benutzt – und dadurch wohl das erreicht, was Putin freut: eine tiefe Spaltung der westlichen Klassik-Szene. Auch hier bleibt es eine Frage des Journalismus, warum wir uns so lange an der eher naiven Sängerin Anna Netrebko abarbeiten (klar: Glamour verkauft sich besser als Polit-Recherche!) und nicht genauer dorthin schauen, wo Putins Kulturpropaganda in der Tiefe wirkt: Etwa bei Currentzis, der sich als Chef von musicAeterna noch immer nicht für die Ausfälle seiner MusikerInnen beim Deutschland-Gastspiel (Kriegslieder für Putin, Polemik gegen Deutschland und seine Presse) entschuldigt hat und stattdessen versucht, mit Utopia ein neues Orchester zu etablieren, über das sich seine Mitbegründer ins Schweigen hüllen und das ebenso intransparent bleibt wie seine Finanzierung, die zur Hälfte von der Red Bull nahen Dietrich Mateschitz Privatstiftung kommen soll – sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang der Podcast Inside Austria, der über die Red-Bull-Geschäfte in Russland auch nach dem Ausbruch des Krieges berichtet und die Verstrickung österreichischer Unternehmen mit dem System Putin aufdröselt. Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Der Westen lässt sich nicht vereinnahmen, spielt – und das ist gut so! – weiter Tschaikowski und Prokofjew, an Stadttheatern treten KünstlerInnen aus der Ukraine und Russland nebeneinander auf. Und dort, wo Kultur zur Propaganda wird, streiten wir inzwischen weitgehend offen über unsere unterschiedlichen Blickwinkel – man könnte auch sagen: Unsere demokratische und offene Gesellschaft funktioniert!
Auf unseren Bühnen
Einen großen Erfolg legte das Gärtnerplatztheater in München mit Massenets Oper Werther hin. Die Oper wurde „in der Regie von Herbert Föttinger ein hochspannendes und beklemmendes Porträt von Menschen, die die offenen Türen nicht durchschreiten, die nicht ins Ungewisse aufbrechen, statt auf wilde Romantik zu setzen die biedere Konvention wählen“, schrieb Peter Jungblut beim BR.
„Fulminant, wie Lucian Krasznec in der Titelrolle den traurigen Helden gibt. In anderen Rollen wirkt er mitunter zu gehemmt, zu passiv, hier ist dieser Charakterzug ideal. Werther traut sich nicht, er fügt sich. Auch stimmlich ein ganz großer Auftritt, der Krasznec da gelungen ist. Das gilt auch für Sophie Rennert als Charlotte.“
Ich persönlich war diese Woche gleich zwei Mal im Musikverein in Wien: Die französische Dirigentin Marie Jacquot hat mit den Wiener Symphonikern – besonders bei Sibelius – gezeigt, wie Klugheit Emotionen organisieren kann. Und dann war da noch Schönbergs Verklärte Nacht – eine wahre Offenbarung der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann. Jeder Übergang vom kammermusikalischen Schönklang zum großen Sinnlichkeits-Sog wurde mit bestechender Selbstverständlichkeit und unglaublicher Streicher-Schönheit in Szene gesetzt: nie Selbstzweck, stets in tiefen Gedanken verästelt – so hört man dieses Stück derzeit wohl nur in Wien. Richard Strauss« Alpensinfonie blieb dagegen eher ein betont wuchtiges Testosteron-Gebirge, etwas zu groß für den Saal des Musikvereins.
Finnland nutzt VR für Regiekonzepte
In einem spannenden Text im Online-Magazin Fast Company werden die digitalen Möglichkeiten für das Theater der Zukunft beschrieben. Dazu wurde die Finnische Nationaloper vermessen, mit VR-Brille können RegisseurInnen und BühnenbildnerInnen so genau abschätzen, wie ihre Konzepte in Aktion wirken. Der digitale Zwilling der Finnischen Nationaloper wurde zum ersten Mal für eine Aufführung von Puccinis Turandot genutzt.
Personalien der Woche
Daniel Barenboim erklärte in einem Interview für abc-News, dass er nicht zulassen wolle, dass seine Krankheit sein Leben verändere. „Unwichtiges ist immer noch unwichtig. Ich kann nicht sagen, dass ich mich perfekt fühle, aber gut genug, um morgen zu dirigieren, und Donnerstag und Sonntag – und dann werden wir weiter sehen.“ +++ Sir Simon Rattle sprach in der Münchner Abendzeitung über die Konzerthaus-Situation in München: „Das einzige, was mich in München wirklich überrascht, ist der außergewöhnliche Mangel an Erkenntnis von Notwendigkeit, zu echten Lösungen zu kommen. Das macht wirklich sprachlos. Wir müssen aber eine Lösung finden, und das berührt auch den Gasteig. Selbst der Beginn der Sanierungsarbeiten wäre sehr willkommen. Die fehlende Dringlichkeit ist wirklich absolut besorgniserregend. Es ist ein langes Spiel, was wir spielen.“ +++ Das NDR Elbphilharmonie Orchester verlängerte den Vertrag von Chefdirigent Alan Gilbert.
Es war ein wenig trist: Ich habe mir den Wiener Opernball heuer im Fernsehen angeschaut. Und sinnbildlich war das Gespräch mit Intendant Bogdan Roščić am Ende. Er hatte offensichtlich wenig Lust auf diesen Ball – und ließ das auch jeden wissen. Ein Grund vielleicht, warum die Bilder hauptsächlich gelangweilte Gesichter in einem verlorenen Raum zeigten und ein ORF-Reporter-Team, das selber nicht zu wissen schien, was es da eigentlich sollte. Der Opernball: ein ausgehöhltes Trauer-Ritual wie die 14. Staffel des Dschungelcamps. Könnte man das Ganze nicht mal ein bisschen neu denken. +++ Der Komponist Friedrich Cerha ist gestorben: Was für ein Leben. Für die Musik. Die Dunkelheit des Humors. Den Nachwuchs. Die Gerechtigkeit. Die Klangsuche. Die Freude am Klang. Ein würdiger Nachruf von Daniel Ender im Standard.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? In Wahrheit hatten wir in diesem Newsletter heute schon vieles Gute. Besonders die spannenden Aufführungen auf unseren Bühnen. Und da bahnt sich eine weitere Nachricht an – ob sie gut ist, wird an der Hamburgischen Staatsoper derzeit intern wohl heftig debattiert. Viele im Ensemble blicken eher verhalten auf die ersten Schritte des designierten Intendanten Tobias Kratzer. Dass das Orchester unter Kent Nagano weitgehend abgebaut hat, ist kein Geheimnis. Umso spannender der Name, der derzeit überall als Nachfolger gehandelt wird: Omer Meir Wellber, noch Musikdirektor an der Wiener Volksoper, soll es wohl in den Norden ziehen, heißt es überall. Mehr dazu, aber auch zu anderen Themen der KlassikWoche, zum Wiener Opernball, zu Dackel Gustav oder zu anderem Gossip gibt es wie immer in der Update-Folge des Podcasts Alles klar, Klassik? mit Dorothea Gregor und mir.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de