Lang Lang
„Als hätte ich im Himmel gespielt…“
von Margarete Zander
27. September 2020
Der Pianist Lang Lang hat sich intensiv mit Johann Sebastian Bach und den Goldberg-Variationen auseinandergesetzt. Geschichtsträchtig präsentiert er sie in der Leipziger Thomaskirche. Im Studio hat er das Werk auch auf CD aufgenommen.
Der Pianist Lang Lang hat sich intensiv mit Johann Sebastian Bach und den Goldberg-Variationen auseinandergesetzt. Geschichtsträchtig präsentiert er sie in der Leipziger Thomaskirche. Im Studio hat er das Werk auch auf CD aufgenommen.
CRESCENDO: Herr Lang Lang, wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in der Thomaskirche die Stufen zum Flügel hinaufgegangen sind, um die Goldberg-Variationen auf der Altarempore, direkt vor dem Grab von Johann Sebastian Bach zu spielen? Haben Sie das Publikum wahrgenommen?
Lang Lang (Titelfoto des Beitrags © Stefan Hoederath): Ich habe das Publikum gesehen. Aber ich war sehr konzentriert und hatte das Gefühl, Bach direkt neben mir zu haben, weil sein Grab genau dort ist. Das war sehr emotional.
Sie haben die Goldberg-Variationen auswendig gespielt. Die Atmosphäre im Konzert wurde immer dichter. Die Magie war im Publikum irgendwann geradezu greifbar.
Das Stück dauert ja mit allen Wiederholungen eine Stunde und 30 Minuten. Es führt einen langsam immer tiefer in die Welt von Bach. Ich spürte, wie das Publikum beim Hören tiefer und tiefer hineingeriet, besonders wenn die Kadenz wiederkehrte. Bei der Variation Nummer 13 – sie ist in gewisser Weise der erste Höhepunkt der Variationen – gelangt das Publikum in eine andere Welt. Die Reise wird noch intensiver in der Variation Nummer 25. Das ist der wichtigste Augenblick des Stückes. Danach entwickelt sich eine Art Feuerwerk. Und nach der Variation 30 folgt der Teil, den wir „Familiensong“ nennen, ein Familientreffen innerhalb der Variationen. Da schaute ich zum ersten Mal im Konzert nach links auf das Grab von Bach. Dabei standen mir Tränen in den Augen, weil das so echt war, so emotional. Und als ich am Schluss die Aria spielte, war es, als hätte ich im Himmel gespielt.
„Familientreffen“, das heißt, hier ist die Zeit um Bach präsent, seine Söhne, seine Schüler? Sind die Goldberg-Variationen für Sie eine Art Zeitreise in die Barockzeit?
Ja, eine echte Zeitreise. Schon am Tag, bevor ich nach Leipzig kam, war ich in Arnstadt. In Leipzig habe ich einen Tag mit dem wunderbaren Michael verbracht, einem „Schüler“ von Bach. (Michael Maul ist Intendant des Leipziger Musikfestes und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bach-Archivs. Anm. d. Red.) Ich habe Bachs Orgeln kennengelernt, in Arnstadt und in der Thomaskirche und darauf gespielt. In diesen Städten fühlte ich geradezu Bachs Fußstapfen, und in den Museen begegnete ich seiner Geschichte. Seine Manuskripte zu sehen und sein Wohnzimmer zu betreten – das war eine Reise in seine Zeit.
Wann haben Sie zum ersten Mal Bachs Goldberg-Variationen gespielt?
Da war ich zehn Jahre alt. Ich hörte die Aufnahme von Glenn Gould aus dem Jahr 1982. Als Kind habe ich viel Bach gespielt. Und schon damals stellte ich fest, dass die Goldberg-Variationen etwas Anderes sind und man viel mehr Hürden nehmen muss, um wirklich in sie einzudringen. Bach zeigt darin alles, was ein Pianist auf seinem Instrument zuwege bringen kann. Er hat sein gesamtes Wissen eingebracht und viele zukunftweisende Techniken der Musiktheorie ausprobiert. Als Kind konnte ich mir natürlich nicht vorstellen, wie die Stadt aussah, in der er wirkte und wie sein Leben verlief, mit den vielen Kindern, der großen Familie und der Musik. Ich hatte keine Ahnung davon, dass er zum Beispiel als Teenager einen Degen bei sich trug und eine lebensgefährliche Auseinandersetzung mit einem Menschen auf dem Markt in Arnstadt hatte. Auch über seine Persönlichkeit wusste ich nichts. Das änderte sich später durch meine Reisen nach Leipzig. 2003 bei meinem ersten Besuch in der Stadt besuchte ich sein Museum zum ersten Mal. Schon damals war ich ergriffen, als ich auf seinem Cembalo die Goldberg-Variationen aus dem Original-Manuskript spielte.
Seither ist viel passiert. Zu Ihren wichtigsten musikalischen Momenten gehört wohl die Aufnahme der Klavierkonzerte von Mozart mit Nikolaus Harnoncourt (Nr. 17 G‑Dur KV 453 und Nr. 24 c‑Moll KV 491). Danach haben Sie geschwärmt, Maestro Harnoncourt habe Ihr Weltbild in Bezug auf die Aufführung der klassischen Musik stark verändert. Er hatte Sie zu sich nach Hause ins Attergau eingeladen. Haben Sie bei Ihrem Besuch mit ihm auch über Bach?
Absolut! Ich spielte Bach bei Harnoncourt nicht auf dem Cembalo, sondern auf dem Hammerklavier, weil er die historischen Instrumente für Mozart hatte. Er lud mich ein, für ihn die Goldberg-Variationen zu spielen. Ich spielte die Aria, die Variationen 13, 25 und 15. Daraufhin forderte er mich auf, echte Kunst auf dem Hammerklavier daraus zu machen „und nicht nur eine Übung von einem sehr trockenen, farblosen Bach“. Dadurch wurde mir bewusst, dass das, was ich in Bach gefunden hatte, zu akademisch war. Ich hatte meinem Herzen und meinem Verstand einen engen Rahmen gesetzt, immer versucht, weniger Pedal zu nehmen, weniger Rubato, weniger Farbe, weniger – alles weniger. Mit seinem Blick befreite Harnoncourt meine Gedanken darüber, was barocke Gestaltung ist. Er ermutigte mich, mit den Charakteren zu spielen: die Einsamkeit in seiner Aria zu fühlen und den unglaublich expressiven Gefühlen im Adagio und in der Variation 13 Raum zu geben. Die Musik sollte herausströmen und nicht in meinem Herzen verborgen bleiben. Auf diese Weise bereitete es mir wahnsinnig Freude, Bach zu spielen.
Nikolaus Harnoncourt ist im März 2016 gestorben. Als Sie etwa vor einem Jahr die Goldberg-Variationen wieder ins Programm nahmen, gingen Sie regelmäßig zu Andreas Staier, um mit ihm zu studieren. Der Spezialist für verschiedene Tasteninstrumente hat selbst die Goldberg-Variationen in einer fantastischen Interpretation auf dem Cembalo veröffentlicht. In seinem Studio besitzt er eine Sammlung von Cembali und Hammerklavieren, auf denen er spielt, und einen modernen Flügel. Was wollten Sie von ihm lernen?
Ich arbeite grundsätzlich gern mit großartigen Musikern an Bach. In diesem Fall brauchte ich einige spezielle Lektionen. Barockmusik ist anders als die Musik der Klassik oder die Musik der Romantik. Es gingen mir viele Fragen durch den Kopf, und Andreas ist ein wunderbarer Musiker. Er spielt nicht nur gut, sondern kann auch sehr gut erklären. Von ihm habe ich erfahren, was zur französischen Verzierungstechnik gehört und was zur italienischen, was diese Septime im barocken Stil bedeutet und wie jene Passage zu verstehen ist. Wir sprachen über die Frage der Phrasierungen, ob man mehr oder weniger Pedal nehmen soll und wie man all dies auf den modernen Flügel wiedergeben kann. Andreas ein sehr guter Pianist, der Cembalo und Klavier spielt. Für das Cembalo braucht man eine vollkommen andere Technik, die vielleicht für einen Pianisten gar nicht funktioniert. Also war der Besuch bei ihm sehr aufschlussreich. Er zeigte mir auch die verschiedenen Notenausgaben und erklärte mir seine persönliche Strategie, wie er seinen Geschmack im Umgang mit der Barockmusik entwickelt und wie er mit dieser speziellen Art der singenden Linien in der Barockmusik umgeht. Ich sammle diese Lektionen wie einen Schatz, denn dieses Wissen kann ich von keinem gewöhnlichen Pianisten bekommen.
Sie haben die Goldberg-Variationen im Studio aufgenommen, sich jedoch gewünscht, dass die Aufnahme aus der Thomaskirche ebenfalls veröffentlicht wird. Ist die Live-Aufnahme mehr auf das Publikum hin ausgerichtet und vielleicht unterhaltsamer, während die Studio-Aufnahme eher ein intellektuelles Spiel mit den Möglichkeiten ist?
Die Studioaufnahme ist etwas intellektueller. Nach meinem Konzert in Leipzig habe ich die Goldberg-Variationen noch weiter studiert. Ich habe einige Aufnahmen großer Pianisten der Vergangenheit gehört und dann im Studio Einiges ausprobiert. Als unterhaltsam würde ich die Live-Aufnahme nicht betrachten. Denn für mich ist das keine Unterhaltungsmusik. Aber das Live-Konzert ist spontaner interpretiert. Was ich an der Live-Aufnahme besonders mag, ist die Geschlossenheit des Stückes. Im Studio wiederum konnte ich den Klang differenzierter gestalten, ihn dunkler färben und trockener. Ich konnte auch das Tempo leicht variieren und die Kontrastwirkung im Raum verstärken. Vier Tage konnte ich im Studio arbeiten, und diese Zeit habe ich mir auch genommen. So hat die Studio-Aufnahme ebenfalls etwas sehr Interessantes zu erzählen.
Auf dem Cover der CD sieht man Sie noch in der Partitur der Goldberg-Variationen blättern. Was wollen Sie uns damit sagen?
Das zeigt, dass man nie aufhört, die Goldberg-Variationen zu studieren! Auch wenn die Aufnahme fertig ist, dieses Werk öffnet mir jedes Mal so viele Türen, dass ich immer noch mehr wissen möchte!
Gibt es ein bestimmtes Ritual, einen Talisman, etwas, das Sie an die Situation in der Thomaskirche in Leipzig erinnert, wenn Sie die Goldberg-Variationen in anderen Konzertsälen aufführen?
Nein, aber ich kann eine Erfahrung weitergeben: Zuvor nicht zu viel Wasser zu trinken. Denn es gibt keine Pause, und so ein Problem möchte man nicht bekommen. Als Kind habe ich immer versucht, Fotos oder irgendetwas von großen Komponisten mitzunehmen. Aber jetzt, da ich so viel unterwegs bin, ist das viel weniger geworden. An meinem letzten Geburtstag habe ich die Kopie des Manuskriptes der gesamten Goldberg-Variationen bekommen.
Hören Sie sich heute noch die Aufnahme von Glenn Gould aus dem Jahr 1982 an?
Ja, ich habe sie mir häufig angehört, in verschiedenen Phasen meiner Beschäftigung mit Bach. Ich höre sie etwa einmal im Jahr, und immer finde ich etwas Interessantes darin.
Würden Sie Glenn Gould gern einmal treffen, um mit ihm über seine Interpretation zu sprechen?
Ich habe mir häufig seine Radiosendungen angehört. Er hatte eine richtige Dokumentation über das Werk produziert. Und wenn ich es jetzt sorgfältig anschaue, weiß ich seine Antworten schon. Aber natürlich würde ich ihn gern treffen. Wenn ich allerdings die Wahl hätte, würde ich noch lieber Johann Sebastian Bach treffen!
Der Film „Lang Langs Goldberg-Variationen“ von Andreas Morell ist in der ZDF-Mediathek bis 11. Dezember 2020 in Deutschland, Österreich und der Schweiz verfügbar: www.zdf.de
Mehr über den Film auf dem digitalen Kulturportal von CRESCENDO: www.foyer.de
Die Sendung „Unterwegs mit Lang Lang und den Goldberg Variationen“ von Margarete Sander läuft am 04.09.2020 von 13-14 Uhr und 19-20 Uhr auf NDR. Dort ist es auch online nachzuhören.