Leonard Bernstein

Seil­tänzer

von Roland H. Dippel

23. Oktober 2021

Reich an Höhepunkten! Leonard Bernstein schuf mit Mass das Musiktheaterstück der Zeit. Das Album beschert eine Wiederbegegnung mit seiner Uraufführung unter der Leitung des Komponisten selbst.

So selten wie behauptet ist Leonard Bern­steins Mass auf Bühnen und Konzert­po­dien nicht. Allein in den letzten fünf Jahren gab es Insze­nie­rungen zum Beispiel in und Gelsen­kir­chen sowie Konzerte mit dem Frei­burger Kammer­chor und in der Tonhalle . Bern­stein-Anhänger können zwischen mehreren Einspie­lungen wählen – die jüngste kommt vom mit allen Emana­tionen der Moderne bestens erfah­renen ORF Radio-Sympho­nie­or­chester unter . Aber die Wieder­ver­öf­fent­li­chung zur 50-jährigen Wieder­kehr der Urauf­füh­rung unter der Leitung des Kompo­nisten pustet alle nach­ge­folgten Inter­pre­ta­tionen gnadenlos weg. Entstanden ist die Aufnahme dieses „Theatre Piece for Singers, Players, and Dancers“ während der Eröff­nungs­fei­er­lich­keiten für das John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington, D.C 1971.

Genau wie in den rasanten wie detail­be­ses­senen Einspie­lungen von West Side Story und Candide forderte Bern­stein seine Musiker und Chöre zu über sich selbst hinaus­wach­senden Leis­tungen heraus. In jedem Akkord, jedem Gemisch von E‑Gitarre und sinfo­ni­scher Beset­zung treibt es Lenny noch poin­tierter, trans­pa­renter, prickelnder und lust­voller als seine „ernst­haf­teren“ Kollegen. Auf indi­vi­du­elle und über­zeu­gende Weise ist Bern­stein ein Seil­tänzer zwischen „crazy“ und „sophisti­cated“. Er, der Apologet einer „unend­li­chen Viel­falt der Musik“, geniert sich weitaus weniger als andere Diri­genten seiner Werke, die eigenen Eklek­ti­zismen zuzu­geben. An einer Chor­stelle model­liert Bern­stein zum Beispiel fast exhi­bi­tio­nis­tisch, wie genau er Carmina burana studiert hat und Orffs Effekte für äußerst nach­ah­mens­wert hält. Es janá­čekt und debussyt mitunter und bleibt doch immer Bern­steins origi­näre Lust an impul­siver Power und stilis­ti­scher Diver­sität. Dabei hat dieses säku­lare Ritu­al­theater spürbar viel zu tun mit dem grif­figen Sinn­lich­keits­ap­peal von Hair und Jesus Christ Super­star. Die kleinen Vokal­soli blühen auf, die Chöre sind hoch­klassig.

Höhe­punkt der Aufnahme ist trotzdem die Beset­zung des in eine Sinn­krise stür­zenden Predi­gers mit dem jungen Alan Titus. Der Bariton hat Charisma in Rezi­tativ und Arioso. Für Gospel und Soul stellt er seine Exper­tise als Opern­sänger in den Dienst von Bern­steins sehr kanta­blem Part, für den weder Belcanto-Kompe­tenz noch Belt­stimme genug sind. Titus meis­tert jeden Ton und dahinter steckende Fragen packend wie eindrucks­voll. Seine Mezzo­piani sind betö­rend und auf indi­vi­du­elle Weise viril. So wird die lange Epistel The Word of The Lord zum abso­luten Höhe­punkt dieser an Höhe­punkten reichen Einspie­lung. Auch das Booklet mit zahl­rei­chen Fotos von den Vorbe­rei­tungen zur Urauf­füh­rung von Mass lohnt die Anschaf­fung des Albums.