Les essences
Der Wille zum Konzentrat
von Anke Demirsoy
17. Februar 2023
Ton für Ton auf den Grund gehen: Das Essener Kammerorchester »Les essences« stellt sich dem Anspruch, Musik so auf die Bühne bringen, wie und wofür sie gedacht war. Historische, kulturelle und politische Aspekte inbegriffen.
Mit seinem Sinn für Humor sorgt der Cellist Diego Hernandez Suarez oft dafür, dass trotz harter Arbeit auch gelacht wird bei den Proben des Kammerorchesters „Les essences“. Dessen Gründer und Leiter, den deutsch-türkischen Geiger Önder Baloglu, hatte er bereits beim Orchester der KlangVerwaltung kennengelernt. Was der Spanier seinerzeit als „gemeinsamen Spleen“ erkannte, müsste man nach Abzug der Selbstironie eine künstlerische Vision nennen: die Fokussierung auf musikalische Ziele, die sich nicht in ein gefühliges Ungefähr hüllen. Was er meint, ist das ständige Streben nach Interpretationen, die klar konturiert sind und jeder kritischen Betrachtung standhalten.
So gesehen sind wohl auch alle anderen Mitglieder des Kammerorchesters „Les essences“ ein wenig besessen. Sie verfolgen den Anspruch, jeden Ton zu begründen, den sie spielen. Stets rechtfertigen zu können, warum sie eine Melodie so und nicht anders gestalten. Hinzu kommt der Ehrgeiz, sich jugendlichen Schwung und Frische im Spiel zu bewahren. Auch deshalb tritt „Les essences“ gern im Stehen auf – es ermöglicht mehr Bewegungsfreiheit und körperlich gelöstes Musizieren, das die Interaktion begünstigt.
Der Wille zum Konzentrat, zur Essenz trug ebenso zur Namensgebung bei wie der Name der Stadt Essen als Hauptsitz des Orchesters. Hervorgegangen ist das Ensemble aus dem immer größer werdenden Freundeskreis des Streichquartetts „Quart.essence“, das Önder Baloglu im Jahr 2009 gründete. Durch Konzerte mit diversen Gästen erweiterte sich das Quartett allmählich. Doch bis heute ist die Viererformation der feste Kern des Streichorchesters: Er trifft sich zu den ersten Proben allein und erarbeitet das Gerüst der Interpretation.
Insgesamt sind „Les essences“ aber inzwischen etwa 18 Mitglieder aus 15 verschiedenen Ländern: Orchesterprofis, junge Virtuosen und ausgewählte Élite-Studenten, die ohne Dirigent musizieren. Das verschworene Kollektiv ist nicht nur auf der Suche nach dem Wesentlichen in der Musik: „Unsere Idee ist, auch den geschichtlichen, soziokulturellen und politischen Zuständen unserer Gesellschaft nachzuspüren. Hochspannung und Dramatik sind da eigentlich garantiert“, sagt Önder Baloglu.
Ein wichtiger Mentor war der in Wien geborene Geiger Andreas Reiner, der einst bei Itzhak Perlman studierte und als Konzertmeister Erfahrung in vielen hoch angesehenen Orchestern sammeln konnte, unter anderem auch bei den Münchner Philharmonikern, wo er unter dem legendären Dirigenten Sergiu Celibidache spielte. Zudem war er Gründer des inzwischen aufgelösten Rosamunde Quartetts. An der Folkwang Universität der Künste in Essen unterrichtete Reiner viele Mitglieder von „Les essences“ im Fach Kammermusik.
Auch Önder Baloglu, 1988 im türkischen Adana geboren, zählte einst zu seinen Schülern. Bis heute spricht er mit höchstem Respekt von seinem Mentor, der „Les essences“ immer dazu animiert hat, möglichst oft aufzutreten. Weil Vieles erst auf der Bühne passiert und sich Interpretationen ohne Zuhörer nicht weiterentwickeln. Von den Folgen der Pandemie und der Explosion der Online-Formate waren die Musiker deshalb oft frustriert. Dennoch feilen sie fleißig an neuen Projekten, entwickeln Programme mit durchdachtem Konzept, das Zusammenhänge zwischen den Stücken erkennbar macht.
Seit 2021 wird „Les essences“ durch das Land Nordrhein-Westfalen gefördert. Das Orchester hat bereits ein Projekt mit dem ChorWerk Ruhr realisiert, ist im Konzerthaus Dortmund aufgetreten, in der Mercatorhalle Duisburg und in der Cemal Reşit Rey Concert Hall von Istanbul. Derzeit bereitet es unter anderem einen Abend mit dem international erfolgreichen Pianisten Fazil Say vor. Mit neuen, kreativen Konzertreihen will sich die Formation noch tiefer in der Kulturlandschaft verankern. Wichtig ist Önder Baloglu dabei eine Synthese von Raum und Klang. „Wir möchten die Musik an genau den Orten erklingen lassen, für die sie ursprünglich gedacht war – also Serenaden unter freiem Himmel, geistliche Werke in Kirchen, Kammermusik in Salons“, erklärt der Geiger, der heute selbst an der Folkwang Universität der Künste und am Königlichen Konservatorium in Den Haag unterrichtet und in den Konzerten von „Les essences“ gerne auch moderiert.
Was es bedeutet, sich in der Musikwelt zu etablieren, zeigen einige fröhlich klingende Anekdoten: von einer im Zug liegen gebliebenen Oboe zum Beispiel, der ein Orchestermitglied – erfolgreich! – mit dem Auto hinterherjagte. Von Önder Baloglu, dessen privates Zuhause immer wieder zur Herberge mit Schlafplatz für Musiker wird. Von zahllosen Corona-Tests und der Notwendigkeit, sich vom Stimmmaterial bis zu den Notenständern alles selbst beschaffen zu müssen. Harte Arbeit einerseits, ein fröhliches Miteinander andererseits: Für diesen Ensemblegeist ist Diego Suarez, der heute oft zwischen Essen und seiner Heimatstadt Bilbao pendelt, ein guter Repräsentant.
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Orchester „Les essences“ auf: lesessences.net