Lucas Debargue

Das Scar­latti-Projekt

von Patrick Wildermann

17. November 2019

Es mag an Besessenheit grenzen, wie der Pianist Lucas Debargue dem Werk des Barockkomponisten Domenico Scarlatti auf der Spur ist. Nun legt er das Ergebnis mit einem erstaunlichen Album vor.

Der Pianist ist dem Werk des Barock­kom­po­nisten Dome­nico Scar­latti mit Beses­sen­heit auf der Spur. Das Ergebnis legt er auf einem erstaun­li­chen Album vor.

Die Kell­nerin hat kaum den Kaffee gebracht. Das Aufnah­me­gerät ist noch nicht einge­schaltet, da spru­delt es schon aus Lucas Debargue (Foto oben: © Xiomara Bender) heraus: „Nach vier Jahren in Konzert­hallen ist dies mein erstes wirk­lich großes Projekt“, sagt er und deutet auf die Box mit vier CDs auf dem Tisch. „Scar­latti. 52 Sonatas.“

Der Pianist Lucas Debargue: »Scar­latti wieder­holt sich nie. Da ist immer eine neue, uner­war­tete Idee!«

Das Album, fährt der Pianist fort, sei nicht weniger als „eine Liebes­er­klä­rung an den Kompo­nisten“. Der hat zu Lebzeiten 555 Sonaten geschrieben. Debargue kennt sie alle, 37 Stunden Musik, fast sämt­lich , wie er findet. Seine Plat­ten­firma Sony dachte an ein Doppel­album, aber das genügte ihm nicht. Er wollte das gesamte Scar­latti-Universum auffä­chern, seinen vollen Klang­reichtum. „Scar­latti“, schwärmt Debargue, „wieder­holt sich nie. Da ist immer eine neue, uner­war­tete Idee!“

Beim Tschai­kowsky-Wett­be­werb in Moskau spal­tete Lucas Debargue die Jury.

Der bald 29-jährige Fran­zose, der 2015 den vierten Platz beim Tschai­kowsky-Wett­be­werb in Moskau belegte und dabei publi­ci­ty­wirksam die Jury spal­tete, hat schon Chopin, Liszt und Ravel aufge­nommen. Er hat für seine zweite CD mit Werken von Bach, Beet­hoven und Medtner einen als „Nach­wuchs­künstler des Jahres“ gewonnen. Aber Giuseppe Dome­nico Scar­latti, daran lässt er keine Zweifel, spielt für ihn in einer ganz eigenen Liga.

Lucas Debargue hat Scar­latti hinter­her­re­cher­chiert.

Über das Leben des Barock­kom­po­nisten aus ist nur wenig bekannt. Debargue hat ihm hinter­her­re­cher­chiert, so gründ­lich er konnte. Hat sich in das Stan­dard­werk „Dome­nico Scar­latti. Leben und Werk“ des ameri­ka­ni­schen Cemba­listen Ralph Kirk­pa­trick vergraben. Das ist aller­dings schon Anfang der 1970er-Jahre erschienen und, wie Debargue findet, stellt einige falsche Hypo­thesen auf. Zum Beispiel liegen heute in und die einzigen beiden Manu­skripte, die von Scar­lattis Sonaten exis­tieren. Aller­dings stammen sie nicht aus dessen eigener Hand. Sie datieren aus den Jahren zwischen 1752 und 1756. Dass in nur vier Jahren aber 555 Sonaten entstanden sein sollen, hält der Pianist für absurd: „Es sind Kopien, die von älteren Sonaten ange­fer­tigt wurden.“

Der Pianist Lucas Debargue: »Ein Myste­rium gibt mir Raum.«

Debargue hat anhand stilis­ti­scher Elemente versucht heraus­zu­finden, welche die frühesten sein könnten, welche Chro­no­logie sich mögli­cher­weise ergibt. Hat sich an Eckdaten entlang­ge­han­gelt, wie der Veröf­fent­li­chung von Scar­lattis 30 Esser­cizi, 1738 anläss­lich seiner Ernen­nung zum Ritter, oder dem Jahr 1752, als Padre Antonio Soler sein Schüler wurde. Er war es vermut­lich, der die Kopien anfer­tigte. Damit sind Leben und Wirken frei­lich nicht durch­drungen, vieles bleibt im Dunkeln. Und genau das reizt Debargue: „Ein Myste­rium gibt mir Raum. Im Gegen­satz zu Werken, die ständig gespielt werden, von Chopin oder Rach­ma­ninow, lassen Scar­lattis Sonaten Luft zum Atmen.“

Aufge­nommen hat Lucas Debargue das Album in nur vier Tagen. 

Aufge­nommen hat er das Album in der Berliner Jesus-­Christus-Kirche, an nur vier Tagen, in Sessions von neun Uhr morgens bis 23 Uhr abends, fast ohne Unter­bre­chung. Geschwin­dig­keit und Veraus­ga­bung sind die bestim­menden Themen im Leben dieses Musi­kers, der seit sieben Jahren „wie im Rausch“ lebt, der schnell denkt und spricht, der eine Ziga­rette aus der Packung fingert und gleich die nächste, ohne die erste ange­zündet zu haben.

Der Pianist Lucas Debargue: »Ich will auf keinen Fall die Tiefe verlieren.«

In nur vier Jahren hat sich Debargue die tech­ni­schen Fertig­keiten für den Tschai­kowsky-Wett­be­werb drauf­ge­schafft und sich gleich danach in den Strom des Konzert­le­bens gestürzt. „Ich will mich schnell entwi­ckeln, schnell verbes­sern“, erklärt er, „aber auf keinen Fall die Tiefe verlieren.“
Die 52 Sonatas, mit stau­nens­wertem Nuan­cen­reichtum und mitrei­ßenden Stim­mungs­um­schwüngen auf vier CDs verteilt wie ein Zyklus der Jahres­zeiten, beweisen, dass er sich dies­be­züg­lich vorerst keine Sorgen machen muss. Er hat sich auch vorge­nommen, bald einen Gang herun­ter­zu­schalten. „Aber jetzt noch nicht.“

Der Pianist Lucas Debargue: »Ich fühlte mich wie in Trance, wie in einem luziden Traum, in dem man alles sieht und am liebsten jedes Detail notieren möchte.«

Lucas Debargue war zehn Jahre alt, als ihm Scar­latti zum ersten Mal begeg­nete, in der fran­zö­si­schen Zeit­schrift Pianiste. Die Sonate K431 war darin abge­druckt, die kürzeste von allen, nur 16 Takte, 50 Sekunden lang. Aber „ich war faszi­niert von der Fülle der Infor­ma­tionen in diesem kleinen Stück“. Viel später, 2017, kaufte sich Debargue die elfbän­dige Gesamt­aus­gabe der Sonaten. Nahm sich eine Woche frei, um die Parti­turen zweimal, dreimal zu lesen, sie schließ­lich komplett zu spielen. „Danach fühlte ich mich wie in Trance“, sagt er. „Wie in einem luziden Traum, in dem man alles sieht und am liebsten jedes Detail notieren möchte.“

Der Pianist Lucas Debargue: »Scar­lattis Sonaten lösen unser Bewusst­sein von Zeit und Raum auf.«

Die Brücke zwischen Traum und Realität, sagt er, sei jetzt die Scar­latti-Aufnahme. Aus der Viel­zahl der Sonaten hat er zunächst 70 in die engere Wahl genommen, mit Asso­zia­tionen markiert, die er beim Spielen hatte: „Katze“, „wütend“, „gelb“. Für Debargue, das ist ihm wichtig, sind die Stücke keine „Minia­turen“. „Manche sind episch, manche wie Opern, wieder andere wie eine Toccata.“ Gemeinsam sei ihnen, „dass sie unser Bewusst­sein von Zeit und Raum auflösen. Viel­leicht dauert es fünf Minuten, eine Sonate zu spielen, aber es kann sich anfühlen wie Stunden“.

Der Pianist Lucas Debargue ist dem Werk des Barockkomponisten Domenico Scarlatti mit Besessenheit auf der Spur.

Der Pianist Lucas Debargue: „Nach vier Jahren in Konzert­hallen ist dies mein erstes wirk­lich großes Projekt.“
(Foto: © Xiomara Bender)

Vor die 30 Esser­cizi hat der Kompo­nist selbst die Warnung gesetzt: „Erwarte in diesen Werken keine Tief­grün­dig­keit, sondern eher geist­rei­chen Spaß an der Kunst.“ Soll man Scar­latti da ernst nehmen? Debargue lacht. Der Mann, erklärt er, sei ein Spieler gewesen. Einer, der viel Geld beim Karten­spiel verpul­verte, ständig Schulden hatte – aber eben auch wusste, wie man mit psycho­lo­gi­scher Raffi­nesse zockt. „Der Satz meint eigent­lich das Gegen­teil“, ist Debargue über­zeugt. „Es sagt uns: Da ist mehr. Warum sonst sollte er die angeb­lich fehlende Tiefe betonen?“

Der Pianist Lucas Debargue: »Nicht das Instru­ment gibt die Befehle, sondern die Musik.«

Geschrieben sind die Sonaten für das Cembalo. Was Debargue mit seinem präzisen Spiel voll­ständig vergessen macht. Und der trotzdem sagt: „Das Klavier als solches inter­es­siert mich nicht.“ Was er meint: „Nicht das Instru­ment gibt die Befehle, sondern die Musik.“ Über Kompo­si­tionen, die nur darauf zielen, die Finger möglichst verrückt über die Tasten toben zu lassen, um Virtuo­sität zu demons­trieren, rümpft er verächt­lich die Nase. Er habe kürz­lich einen engli­schen Ausdruck gehört, der dazu passe: „dick swin­ging“.

Ein leiden­schaft­li­cher Musiker, der sich nicht nur für Dome­nico Scar­latti begeis­tern kann

Debargue ist in den vielen Porträts seit dem Tschai­kowsky-Wett­be­werb gern als Außen­seiter des Klas­sik­be­triebs beschrieben worden, als genia­li­scher Auto­di­dakt und vorma­liger Super­markt­kas­sierer, als Frei­geist einer Pariser Jazz­for­ma­tion oder arro­ganter Schnösel, der sich über die „vielen kleinen Affen“ im Konzert­be­trieb mokierte. Was er zwei­fellos ist: ein leiden­schaft­li­cher Musiker – und selbst Kompo­nist –, der sich nicht nur für Dome­nico Scar­latti, den „Mystery Man“, sondern auch für die Kunst­fer­tig­keit eines Peter ­Gabriel begeis­tern kann. „Es gibt nur gute oder schlechte Musik“, sagt Debargue.

Dome­nico Scar­latti: „52 Sonaten“, Lucas Debargue (Sony)
www​.amazon​.de

Weitere Infor­ma­tionen und Auftritts­ter­mine: www​.lucas​de​bargue​.com

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