Luchino Visconti
Große Oper in allen Belangen
22. Juli 2022
Mit Bernard Haitink am Pult inszenierte Luchino Visconti 1985 am Royal Opera House London die nahezu komplette Fassung von Giuseppe Verdis »Don Carlo«.
Verdis fünfaktiger Don Carlo aus London 1985 in einer Prachtbesetzung unter Bernard Haitink, inszeniert von Luchino Visconti – Das begeistert gewiss nicht nur jene, die sich der Opernnostalgie hingeben: 1985 studierte Bernard Haitink am Royal Opera House Covent Garden Verdis Don Carlo neu ein, in der fünfaktigen italienischen Fassung. Den szenischen Rahmen bot jene damals schon 27 Jahre alte Produktion, mit der Luchino Visconti seine erste Opernregie außerhalb Italiens geliefert hatte – seinerzeit ein Plädoyer für Größe und Folgerichtigkeit des Werks mit dem eröffnenden Fontainebleau-Akt, für heutige Augen vor allem ein Nachweis dafür, dass ein historisches Setting keinerlei Mangel an psychologisch durchdachter Personenführung und wirksamen, bewegenden Einfällen bedeuten muss. Wann ist seither etwa die Voce dal cielo (hier zugegebenermaßen nicht besonders engelsgleich tönend) beim Autodafé als plötzlicher Migräneanflug des Königs gedeutet worden? Mag freilich sein, dass es sich um eine Idee von Christopher Renshaw handelt, der das Revival szenisch betreut hat, Eindruck macht es allemal.
Auf dem Besetzungszettel stehen große und nicht ganz so große Namen, die zusammen ein in allen wesentlichen Positionen starkes, memorables Ensemble bilden: Sängerischer und darstellerischer Ausdruck verschmelzen zu prägnant geformten Charakteren in einem packenden Drama. Ileana Cotrubaș etwa vereint jugendlich klingende Hoheit mit beseelter, von Wehmut durchzogener Lyrik; Luis Lima kommt ihr als exemplarisch leidender Carlo nahe, der phrasenweise einen Hauch von Anstrengung (aber nicht Überanstrengung) im Timbre expressiv zu nützen versteht. Giorgio Zancanaro, ein im Aufnahmestudio bedauerlich unterrepräsentierter Sänger, formt mit edler, nuancierter Baritonpracht den Rodrigo als Carlos opferbereiten väterlichen Freund. Für die Eboli besitzt Bruna Baglioni gute Koloraturgeläufigkeit und vor allem die geforderte Dramatik, ohne dass sie dabei jemals derb klingen würde. Nicht zuletzt erstaunt, wie Robert Lloyd nach allerlei grimmig-nasalem Poltern plötzlich in Ella giammai m’amò die Königsmaske fallen lässt und, klanglich wie ausgewechselt, Filippos verletzte Menschenseele offenbart. Haitink präsentiert die Partitur fast komplett (es gibt nur drei kleinere Striche im ersten und letzten Akt), rückt auch sonst einigen eingebürgerten, aber aus dem Notentext nicht begründbaren Traditionen zu Leibe und trifft die goldene Mitte zwischen Gefühl und Genauigkeit, Dramatik und epischer Breite.