Vitali Alekseenok
»Man darf sich nicht einschüchtern lassen!«
von Ruth Renée Reif
5. Dezember 2022
Der Dirigent Vitali Alekseenok über die Lage in Belarus, die zunehmende Isolierung von Maria Kalesnikava durch das Regime Lukaschenkas und sein Musikfestival in Charkiv, das auch dem Krieg trotzt.
Der Dirigent Vitali Alekseenok hat vor mehreren Jahren Belarus verlassen. Doch als er im Sommer 2020 nach Minsk zur Wahl reiste, beteiligte er sich auch an der Protestbewegung. „Unser Traum von einem freien Belarus“, untertitelte er damals sein Buch über Die weißen Tage von Minsk. Er war überzeugt, dass das Land auf seinem Weg in die Demokratie nicht aufzuhalten sei. Mittlerweile hat sich die Lage dramatisch verdüstert.
CRESCENDO: Herr Alekseenok, der Krieg in der Ukraine ließ die Berichterstattung über Belarus in den Hintergrund treten. Aber die Lage im Land scheint katastrophal…
Vitali Alekseenok: Die Lage hat sich verschärft, weil die Repressionen in den letzten beiden Jahren weiter zunahmen. Menschen, die 2020 noch zu Gefängnisstrafen von zwei Jahren verurteilt wurden, erhalten mittlerweile beinahe zehnmal mehr. Das sehen wir bei den aktuellen Verurteilungen von 10 und 15 Jahren. Es gibt weit mehr politische Gefangene als früher, und die Betroffenen müssen viel mehr leiden. Sie sind einem weitaus größeren Druck ausgesetzt. Wiktor Babaryka, der neben Sjarhej Zichanouski und Waleryj Zepkala einer der wichtigsten Gegenkandidaten von Aljaksandr Lukaschenka im Wahlkampf um die Präsidentschaft 2020 war, muss als Gefangener jetzt täglich neun Stunden schwere körperliche Arbeit im Freien verrichten, obwohl er beinahe 60 Jahre alt ist. Das ist eine der Methoden des Regimes, die Menschen psychisch und physisch zu zerstören. Wir wissen auch, dass einer seiner Anwälte Maksim Znak, der seit über zwei Jahren selbst im Gefängnis sitzt, in Einzelhaft kam. Er hatte Gedichte und Erzählungen geschrieben. Aber jetzt steht er unter strenger Aufsicht und darf keine Verbindung mit der Außenwelt mehr haben.
Alle Anwälte, die Babaryka und andere verteidigt haben, wurden entweder selbst festgenommen oder verloren ihre Lizenz und erhielten Berufsverbot. Das passierte auch Maria Kalesnikavas Anwalt. Seine Lizenz wurde nicht verlängert. Und wahrscheinlich bekommt er Berufsverbot. Maria ist damit ohne Unterstützung und verliert ihre letzten Kontaktmöglichkeiten. Sie gerät in eine Isolierung, und wir bekommen noch weniger mit, was mit ihr geschieht. Das bedeutet auch, dass wir weniger an sie denken werden. Es handelt sich um eine gezielte gewalttätige Strategie des Regimes. Natürlich wird auch Marias Lage dadurch immer schwieriger
Offiziell ist sie zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Kann sie das überleben?
Maria schien bisher in Anbetracht der Bedingungen von allen die optimistischste zu sein. Sie versuchte immer, das Gute zu sehen und meinte, das einzige, was sie machen könne, sei, nicht aufzugeben und innerlich weiter zu kämpfen. Und das tut sie. Ich bin in Kontakt mit ihren verwandten und Freunden, und wir wissen, dass sie bis jetzt sehr stark blieb. Wahrscheinlich aber will das Régime ihre Stärke jetzt zerstören. Das ist das Beängstigende an der Situation. Es gibt über 1400 politische Gefangene in Belarus. Und wenn es ihnen gelingt, im Gefängnis ihre Stärke zu behalten, werden sie weiter eingeschüchtert. Angesichts des Ukrainekrieges geht das unter. Denn es wird kaum darüber berichtet.
Kann die Berichterstattung helfen, oder verstärken westliche Proteste die Repressionen eher?
Man darf sich nicht einschüchtern lassen! Wenn sich der Westen der autoritären Strategie des Regimes beugt und noch weniger darüber berichtet, ist das zugunsten des Regimes. Wir müssen uns dieser Strategie bewusst widersetzen, über all das sprechen, was geschieht und immer daran denken.
Verstärkt der Krieg in der Ukraine die Angst, weil man Ähnliches in Belarus befürchtet?
Ich bekomme die Stimmung nicht genau mit. Sie ist jetzt völlig anders. Wir wissen, dass Russland gierig nach dem UdSSR-Territorium ist. Bereits 2008 griff es georgisches Territorium an, 2014 ukrainisches und jetzt noch einmal die ganze Ukraine. Natürlich ist zu befürchten, dass dies in Belarus ebenfalls passieren könnte. Aber zum Glück sehen wir auch, wie ohnmächtig Russland ist und wie inkompetent sich die russische Armee zeigt. Die Korruption hat die Armee und auch die Denkweise des russischen Regimes stark beschädigt. Wir wissen, dass nur wenige Belarusen ein Teil von Russland werden wollen. Das heißt, es würde auch in Belarus zu einem Widerstand kommen. Zudem ist fraglich, ob Russland einen solchen Angriffskrieg wagen würde. Die Ukraine konnte Russland nicht schlucken. Daher kann es auch nicht versuchen, ein anderes Land zu schlucken.
Die zentrale Figur all dieser Tragödien ist Wladimir Putin. Können Sie einschätzen, wie groß sein Rückhalt im Lande ist?
Ich habe zwischen 2011 und 2015 in Russland gelebt, Damals konnte ich das Land auch von innen beobachten. Ab 2015 weiß ich nur, was ich aus den Medien und von meinen russischen Bekannten erfahre. Vor 2015 hatte Putin noch die Unterstützung der Mehrheit – nicht 80 oder 90 Prozent, wie er gerne hätte. Aber die Unterstützung, die er in der russischen Bevölkerung hatte, war viel stärker als die die Lukaschenka in Belarus hatte. Ob das jetzt deutlich anders ist, wage ich nicht zu behaupten. Statistiken sind angesichts des Krieges nicht aussagekräftig. Denn die Menschen haben Angst. Wir sehen, dass 100 000e Russen das Land verlassen haben und gegen den Krieg sind. Die große Flüchtlingswelle, die aus Russland kommt, zeigt den geistigen Widerstand. Andererseits machen auch viele mit, und es ist schwer zu entscheiden, ob all jene, die stumm bleiben, gerne mitmachen oder Angst haben.
Die weißen Tage von Minsk waren auch getragen von Musik. Unterdessen scheint Putin dieses Mittel an sich gerissen zu haben. Er holt Musiker wie Valery Gergiev, Teodor Currentzis an seine Seite. Ist die Musik zu einem Mittel der Kriegsführung geworden?
Die Musik selbst nicht, aber die Musiker. Gergiev, der noch vor Jahrzehnten ein hervorragender Dirigent war, ist heute einfach eine politische Figur. Die Lage von Currentzis ist fragwürdig. Dass er in Russland arbeitet und sich nicht äußert, ist auch eine Art der Äußerung. Darüber hinaus gibt es viele andere Musiker, die mit dem russischen Régime mitmarschieren oder klar dagegen sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass Musiker Menschen sind, und Menschen haben ihre politische Haltung. Das lässt sich jetzt schwer verschweigen.
Sie haben während des Krieges in der Ukraine Konzerte veranstaltet. Können Sie das fortsetzen?
Ich bin Leiter eines Musikfestivals in Charkiw, und wir haben vier Konzerte organisiert. In Lwiw gab es zudem ein Konzert mit Musik junger Komponisten aus der Ukraine, die an einem Kompositionswettbewerb in Charkiw teilgenommen hatten und bei dem die Musik uraufgeführt wurde. Und wir planen weitere. Es gibt einige Veranstaltungsorte, die Bunker sind oder sich als Bunker eignen, sodass die Menschen ins Konzert, Theater oder Kino gehen können und gleichzeitig geschützt sind.
In Lwiw und Kiew spielen aber auch die Opernhäuser. So wurden die Opernhäuser von Lwiw und Odessa bei den International Opera Awards am 28. November 2022 in Madrid als Opernhäuser des Jahres ausgezeichnet. Manchmal hatten sie keinen Strom. Aber sie spielten einfach weiter. Und so geschieht es auch in vielen anderen Städten der Ukraine. Die Kultur findet weiterhin statt.
Vitali Alekseenok, 1991 im belarusischen Wilejka geboren, ist Gewinner des Arturo-Toscanini-Dirigentenwettbewerbs 2021 in Parma (Italien). Neben dem ersten Preis gewann er auch den Publikumspreis, den Preis für die beste Aufführung einer Verdi-Oper sowie weitere Preise und Engagements. Seit der Spielzeit 2022 / 2023 ist er als Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein tätig.
Als Operndirigent leitete Vitali Alekseenok im Herbst 2021 die erste ukrainische Aufführung von Wagners Tristan und Isolde an der Nationaloper der Ukraine. Als Preisträger des MDR Dirigierwettbewerbes 2018 dirigierte er bereits das MDR Sinfonieorchester, die Lucerne Festival Strings, die Staatskapelle Weimar u.a. Im Opernbereich arbeitete er als Dirigent, Assistent und Studienleiter an musikalischen Institutionen wie dem Theater an der Wien, der Bayerischen Staatsoper, dem Teatre del Liceu Barcelona, der Oper Graz und dem Deutschen Nationaltheater Weimar. Als Gründer und künstlerischer Leiter des ensemble paradigme bringt er Werke von Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts zur Aufführung.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Vitali Alekseenok auf: alekseenok.com