Michael Mautner
Der faszinierende Klangkosmos von Hermann Nitsch
von Ruth Renée Reif
5. Juli 2022
Der Komponist Michael Mautner hat das Zweite Streichquartett des 2022 verstorbenen Aktionskünstlers Hermann Nitsch zur Sinfonie transkribiert und mit dem Radio Symphonieorchester Wien aufgenommen.
Wie eine rauschende Brandung setzt die Musik ein. Ein lärmend schwebendes Klanggemisch hält die Spannung aufrecht, bricht unvermittelt ab und setzt erneut an. Eine plötzliche Stille tritt ein, aus der von Ferne feine klirrende Geräusche auftauchen, sich nähern und verebben. Immer neue Klangballungen wälzen sich heran und streben auseinander.
Hermann Nitsch, der am 18. April 2022 im Alter von 83 Jahren verstarb, verstand sein Schaffen als Gesamtkunstwerk. Alle Disziplinen fügen sich zum großen Ganzen des Orgien Mysterien Theaters zusammen. So betrachtete Nitsch auch alle seine konzertant aufgeführte Musik als „Vorstudien“ zur Musik seines Theaters.
Als „Lärmmusik“ bezeichnete er seine Kompositionen, für deren Niederschrift er Millimeterpapier verwendete. Jeder Millimeter bedeutet eine Sekunde Spieldauer. Die Spieldauer der Instrumente zeichnete er durch waagrechte Striche auf. Darüber markierte er die jeweilige Lärmstufe. Den Musikern kommt die Aufgabe zu, mit ihren Instrumenten nur Lärm zu erzeugen und dabei die angegebene Intensität des Lärms zu beachten. Nitsch arbeitete am liebsten mit Laien. Er war überzeugt, dass gerade die Unkenntnis eines Instruments neue, nie gehörte Töne entstehen ließ, „die aus allen Schemen ausbrechen“. Berufsmusiker hätten dagegen wenig Verständnis, dass es nicht um Improvisation gehe und auch nicht um Anleihen von bestehenden Werken.
Die vorliegende Aufnahme erfolgte am 28. August 2021 im Nitsch Museum im österreichischen Mistelbach. Der Komponist und Dirigent Michael Mautner hat Nitschs Zweites Streichquartett, das Albertina Quartett, zu einer sechssätzigen Sinfonie mit dem Namen Weinviertel Sinfonie transkribiert und erweitert und leitet das Radio-Symphonieorchester Wien.
Nitsch war Mitbegründer der Wiener Aktionisten und ein Pionier der Performing-Arts-Bewegung. 1973 eröffnete er auf Schloss Prinzendorf im österreichischen Weinviertel sein erstes Orgien und Mysterien Theater, das sich von da ab jedes Jahr zu Pfingsten ereignete. Im Sechs-Tage-Spiel, seinem Opus Magnus, das erstmals 1998 stattfand, verbindet Nitsch den christlichen Kult des gekreuzigten Christus und seine Herkunft aus dem heidnischen Blutopfer sowie den Kult des Dionysos, in dem das antike Drama wurzelt, mit psychoanalytischen Erkenntnissen über Verdrängung und Unbewusstes: „schmerzliche, wollüstige beanspruchung unserer fünf sinne bringt rausch, das rasen, die exzessive wirklichkeit der schöpfung in unser bewusstsein.“
Ritual, Ekstase und Transzendenz kommen in dem Spiel zusammen, und die Musik folgt dessen Ablauf. Auf den ersten Satz mit seinen geräuschhaften Klangwogen folgt ein zarter zweiter Satz, der zaghaft mit vereinzelten Lauten mehrmals ansetzt, bis die Musik zu einem weiten hellen Klangfeld erblüht. Ein Wirrwarr an Stimmen, die sich in einem lauten Tumult Bahn brechen, prägt den dritten Satz. Mit einem einzelnen hohen, schneidenden Klang, der stehend im Raum verharrt, beginnt der monumentale vierte Satz. Nach und nach folgen weitere Klänge hinzu. Sie schweben nahezu bewegungslos in einem ritualisierten, feierlichen Gestus. Das dionysische Element bestimmt den fünften Satz mit seinen ausgelassenen Tänzen und Volksweisen. Sie münden in ein rauschhaftes Durcheinander, bis im sechsten Satz strahlende Klänge vom Anbruch eines neuen Morgens künden.
Weitere Informationen zu dem ab 30. Juli 2022 geplanten Sechs-Tage-Spiel von Hermann Nitschs Orgien und Mysterien Theater auf der Website der Nitsch Foundation: www.nitsch-foundation.com
Weitere Informationen zu Ausstellungen und Aufführungen im Hermann Nitsch Museum auf: www.nitschmuseum.at