Münchner Rundfunkorchester
Verlernt, am Leben sich zu freuen
von Ruth Renée Reif
16. Mai 2022
Das Münchner Rundfunkorchester unter Patrick Hahn legt eine Aufnahme von Viktor Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ vor.
„Der Tod muss jeden Augenblick eintreten!“ Tut er aber nicht. Kaiser Overall von Atlantis lässt durch seinen Trommler den großen Krieg aller gegen alle verkünden. Aber der Tod verweigert seine Mitarbeit. Die Soldaten können nicht sterben. Staunend erkennen sie eine Welt jenseits von Krieg und Gewalt. Das Münchner Rundfunkorchester unter Patrick Hahn hat Viktor Ullmanns letzte Oper Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung auf CD aufgenommen. Die Einspielung betont den Brecht’schen Stil des Werkes, und die Sopranistin Juliana Zara, die Mezzosopranistin Christel Loetzsch, der Tenor Johannes Chum, der Bariton Adrian Eröd und die Bässe Lars Woldt und Tareq Nazmi zeichnen sich durch hervorragende Textverständlichkeit aus.Julian
Ullmann schrieb die Oper 1943 im Lager Theresienstadt auf ein Libretto seines Mithäftlings Peter Kien. Im Unterschied zu vielen Künstlern, die nach der Ankunft in Theresienstadt in Depression verfielen, reagierten Ullmann und Kien auf die Lagersituation mit unbändiger Produktion. Ihre Absicht war es, den Massenmörder auf der Bühne von Theresienstadt sterben zu lassen. Dazu kam es jedoch nicht. Denn eine Aufführung wurde nach der Generalprobe verboten. Das Album des Rundfunkorchesters erinnert allerdings nicht nur an die Entstehungszeit der Oper, sondern gewinnt angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erneut schreckliche Aktualität. Darüber hinaus eröffnet es durch seine Betonung des Parabelcharakters auch eine Deutung als Mysterienspiel um Leben und Tod, in einer Welt, „die verlernt hat, am Leben sich zu freuen“.
Anklänge an „entartete“ Musikrichtungen
Aus der Sicht des Nationalsozialismus stellte nicht nur das Libretto, sondern auch die Musik eine Provokation dar, sind doch in ihr Anklänge an all jene Musikrichtungen enthalten, die als „entartet“ gebrandmarkt wurden. Hinzu kommen die zahlreichen Zitate, die Nicole Restle im ausführlichen Booklet erläutert. 25 Werke komponierte Ullmann in Theresienstadt. Sie sind fast vollständig erhalten. Das zahlreiche Variationen und Striche aufweisende Autograf sowie eine handschriftliche und eine maschinenschriftliche Fassung des Textbuches der Oper übergab Ullmann vor seiner Deportation nach Auschwitz dem Leiter der Theresienstädter Bibliothek Emil Utitz. Nach 1945 wurden diese von Ullmanns Freund H. G. Adler aufbewahrt, der sie in den 1970er-Jahren an den Dirigenten Kerry Woodward weiterleitete. Der brachte die Oper unter dem Titel Der Kaiser von Atlantis oder Der Tod dankt ab in einer Inszenierung von Rhode Jane Levine am 16. Dezember 1975 im Bellevue-Theater in Amsterdam zur Uraufführung. Im Zuge des erwachenden Interesses an Ullmann nahm Anfang der 1990er-Jahre der Schott Verlag die Edition einer neuen, an den überlieferten Originalquellen orientierten Fassung in Angriff, die auch dieser Aufnahme zugrundeliegt. Fragen warf insbesondere die Instrumentierung der Oper auf. So bleibt offen, ob Ullmann seine Orchesterbesetzung frei zusammenstellen konnte oder ob er auf das zufällige Vorhandensein bestimmter Instrumente und Instrumentalisten in Theresienstadt angewiesen war.
Ullmann war 1942 nach Theresienstadt gekommen und hatte die Leitung des Studios für Neue Musik übernommen. „Theresienstadt vermittelt für viele Schreibende nur zu gerne das Bild der edlen Kunst, die alles Grauenhafte zu überwinden vermag, die den Lagerinsassen Trost und Vergessenheit brachte und bei den einsitzenden Kunstschaffenden ungeahnte Kreativität auslöste“, merkt Verena Naegele in ihrer Ullmann-Biografie kritisch an, und sie wirft die Frage auf, ob die Musik tatsächlich Ausdruck von Widerstand war oder „lediglich eine Art Droge, die das Hundeleben in Dreck, Ungeziefer und Sterben erträglicher machte, die auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen ruhig stellte und damit der SS weniger Probleme bereitete“. Tatsache ist, dass Theresienstadt von Anfang an als jüdisches Vorzeigelager des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungssystems geplant war und in erschreckender Weise auch als solches funktionierte. Zweimal wurde das Lager von einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht, und beide Male ließen sich die Abgesandten täuschen.