Mariss Jansons nimmt gerade die Symphonien Gustav Mahlers auf. Hier spricht er über das Unaussprechliche, die Energie der Musik und die Mär, dass unsere Zeit die Interpretation bestimmt.
Herr Jansons, gemeinsam mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nehmen Sie gerade einen Mahler-Zyklus auf. Mahlers Musik holt den Klang der Welt ins Orchester und gleichzeitig verweist er auf etwas Größeres: die Liebe, den Tod, die Ewigkeit. Ist Mahler mit seinen Klängen zwischen Himmel und Hölle uns in dieser wirren Welt besonders nahe?
Ich bin kein Freund davon, Musik in Moden oder in der Kategorie von Aktualität zu messen. Der unendliche Kosmos, den Mahlers Musik eröffnet, ist, glaube ich, zu jeder Zeit aktuell. Er verweist ja auch weniger auf das Gegenwärtige als viel mehr auf etwas, das uns die Welt als komplexes Gebilde verstehen lässt. Mahler stellt sehr viele Fragen, und wenn man seine Musik anschaut, wird schnell deutlich, dass er viele Antworten selber nicht kannte. Die Musik ist ja oft auch gar nicht für das Konkrete bestimmt. Sie ist ein Mittel des Ausdruckes, an dessen Ende durchaus die Offenheit stehen darf. Das ist vielleicht ein Grund, warum jemand wie Mahler die Musik genutzt hat: sie sucht jenseits der Worte und der Parallelen zum aktuellen Tagesgeschehen nach einem tieferen Sinn unseres Daseins.
Wenn Sie glauben, dass Mahler auf viele Fragen keine Antworten hatte, dass das Unbewusste einen großen Anteil am Vorgang des Komponierens hat, ist es dann Ihre Aufgabe als Dirigent und Interpret dennoch, Antworten in dieser Musik zu finden?
Ich glaube, dass es erst einmal darum geht, die Fragen eines Komponisten möglichst genau zu formulieren. Denn die sind ja schon sehr groß: Gibt es ein Leben nach dem Leben? In der Zweiten Symphonie ist Mahlers Antwort da ziemlich eindeutig: Er lässt uns hören, dass es irgendwo einen Himmel gibt, in dem es wunderschön sein muss. Aber schauen Sie auf die neunte Symphonie, da sieht die Sache schon ganz anders aus. Gerade in der Neunten beschreibt Mahler ziemlich klar, dass es so etwas wie den vollkommenen Tod durchaus geben könnte. Wenn wir das verstehen, wissen wir, dass ein Großteil der Musik selber eine Art Glaubensfrage ist. Die einen glauben an Gott und das ewige Leben, die anderen nicht. Allgemeingültige Antworten werden Sie nicht finden, mit viel Glück und Arbeit aber ein Gefühl des Verstehens.
Es geht also nicht um die konkrete Antwort, sondern um das Gefühl? Was für ein Gefühl ist das, können Sie das beschreiben?
Ich glaube, dass die Musik uns oft gar nicht auffordert, konkrete Antworten zu finden. Musik funktioniert nicht nach dem Prinzip der Sprache oder einer Matheaufgabe, an deren Ende ein unumstößliches Ergebnis steht. Wir kennen doch alle diese Gefühle, in denen wir meinen, die Welt oder die Liebe zu verstehen, oder in denen wir an beidem zweifeln. Aber wir können diesem Gefühl in dem Moment, an dem wir es spüren, oft keine konkreten Worte geben – was bleibt, ist, eine unaussprechliche Atmosphäre. Und darum geht es vielleicht auch in der Musik. Wir müssen uns voll und ganz auf das einlassen, was vor uns liegt, darauf, dem Komponisten auf eine für uns ernsthafte Weise gerecht zu werden. Diese Herausforderung muss am Anfang aller Interpretation stehen. Dann geht es darum, Assoziationen zu öffnen, einer Energie Lauf zu lassen, die bereits in den Noten angelegt ist. Dafür wiederum ist es wichtig, sich intensiv mit dem Komponisten, seinen Partituren und seinem Leben auseinanderzusetzen. Und wenn man all das getan hat, beantworten sich die Fragen, die ein Komponist wie Mahler oft intuitiv gestellt hat, innerhalb der Musik und ihrer Mittel vielleicht ebenfalls so intuitiv.
Sie meinen, dass die Gegenwart, in der wir leben, keinen direkten Einfluss auf unsere Interpretationen hat?
Meiner Meinung nach wird die Rolle unserer Zeit für die Interpretation von Musik gemeinhin überschätzt.
Aber wie kommt es dann, dass Mahler unter Bruno Walter oder Leonard Bernstein ganz anders klang als bei Ihnen?
Natürlich gibt es unterschiedliche Interpretationen. Aber ich glaube nicht, dass es viel mit der Gegenwart der jeweiligen Künstler und Musiker zu tun hat. Es geht eher darum, mit welchen individuellen Fragestellungen und mit welcher persönlichen Sicht man einem Werk begegnet. Der viel größere Wandel, der stattfindet, ist der Wandel der eigenen Persönlichkeit – er ist viel einflussreicher auf das Musizieren als der Wandel der Welt.
Aber kann man den Wandel der Persönlichkeit vom Wandel der Welt trennen? Macht es einen Menschen nicht aus, wenn er – so wie Sie – in einem Versteck zur Welt gebracht wurde, weil Ihr Vater und Ihr Onkel im Rigaer Ghetto umgekommen sind?
Ich gebe Ihnen zum Teil Recht: Natürlich hat die Zeit auch einen Einfluss auf unsere Empfindsamkeit und unsere Art, die Dinge zu sehen. Und vielleicht unterschätzen wir diesen Einfluss zuweilen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ein Mensch seine Meinungen innerhalb eines Lebens nicht grundlegend ändert. Er entwickelt sich, er lernt, er mildert einiges ab, verschärft anderes – aber die äußeren Einflüsse sind nicht so groß, dass sie die innere Welt grundlegend verändern. Beim Musizieren kann es ja auch einfach darum gehen, als Individuum in die Musik an sich abzutauchen, in eine Welt, in der unsere reale Welt immer kleiner und das, was uns innerlich ausmacht, größer wird. Und es ist ein Erlebnis, immer tiefer in diese Welt hinabzusteigen, um dem, was ein Komponist in seinen Partituren angelegt hat, wirklich nahe zu kommen. Als Individuum mitten in dieser Musik zu stehen und seine intuitiven Schlüsse aus ihr zu ziehen – das ist für mich die Herausforderung der Musik. Natürlich gibt es auch Musiker, die das anders sehen, die sich allein von der Gegenwart, von einer Mode oder vom Gedanken, etwas besonders neu oder revolutionär zu machen, leiten lassen. Aber ich glaube, dass diese Interpretationen nur selten ihre Zeit überdauern.
Wenn Sie sagen, dass sich der Blick auf die Musik während eines Lebens ändert – wie würden Sie diese Änderungen bei sich beschreiben?
Natürlich habe ich Mahler in den 1990er Jahren anders interpretiert als heute. Es ist doch klar, dass man als junger Mann anders denkt, vielleicht mehr will, aber noch nicht wirklich so viel weiß. Viele sagen, das Alter hätte den Vorteil hat, dass man entspannter wird. Das ist für mich aber ein unwesentlicher Faktor. Natürlich hat man auch mehr Erfahrungen gesammelt. Aber wirklich entscheidend ist für mich, dass der Instinkt weiter ausgebildet ist. Denn der Instinkt ist für mich der Schlüssel zum Muszieren. Sie können die Metronomangaben genauestens einhalten, Sie können die dynamischen Angaben genau befolgen, sie können alle Noten richtig spielen – all das ist sicherlich hilfreich, aber daraus allein wird noch keine Musik. Musik entsteht nicht mit den einzelnen Noten sondern zwischen den Noten. Sie entsteht erst durch den Instinkt, eine Partitur zu ordnen, was oft genug im Moment und im Detail passiert. Dann geht es darum, richtig zu reagieren, ein Zeichen zu geben, eine Energie freizusetzen, die das Orchester versteht. Und dieser Instinkt ist vielleicht im Alter besser ausgeprägt. Er ist nötig, um am Ende eine Atmosphäre aus Musik zu schaffen.
Mit anderen Worten: Das Wissen ist wichtig, aber im Ernstfall geht es darum, es zu vergessen und intuitiv zu reagieren?
So könnte man es sagen. Vielleicht hat all das etwas mit dem zu tun, was wir „Seele“ nennen. Sie funktioniert wie eine Blume oder ein Baum: Wenn die Pflanzen jung sind, sind sie betörend schön, strotzen vor Kraft, sind grün und wild – aber spannend werden sie besonders im Herbst oder im Alter, wenn sie knorriger werden, wenn sie eine Geschichte zu erzählen haben.
Herr Jansons, Sie sind heute 74 Jahre alt. Wenn Sie zurückschauen – wie unterscheidet sich der junge Mariss Jansons vom „alten Diriegenten-Baum“?
Im Kern wahrscheinlich wenig: Es sind dieselben Wurzeln, die gleiche DNA, vielleicht ist einiges in unerwartete Richtungen gewachsen. Aber ich empfinde mich noch immer als der gleiche Mensch. Auch, wenn sich mein Blick auf manche Werke gewandelt hat und ich durchaus einige Dinge beschreiben könnte, die sich bei mir verändert haben…
Spannen Sie uns nicht auf die Folter…
Ich war als Jugendlicher sehr schüchtern, sehr still und fand einfach nicht die Worte, um meiner inneren Welt Ausdruck zu verleihen. Ich war voller Komplexe, habe mich für alles geschämt, und es fiel mir sehr schwer, mein Herz zu öffnen. Inzwischen habe ich verstanden, dass der Ausdruck, die Expression, ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation und besonders des Musizierens darstellt. Es geht immer darum, dem Orchester und dem Publikum die nötige Energie bereitzustellen. Dafür ist ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein einfach nötig – und das habe ich mir angelernt.
Was genau passiert in diesen Momenten, in denen Sie der Energie Lauf lassen?
Am besten kann ich das mit einem Vergleich zwischen der Literatur und der Musik erklären. Grundsätzlich funktionieren beide Künste sehr ähnlich: Es gibt Buchstaben, aus denen sich Worte bilden, und Worte werden zu einem Satz. Am Ende machen alle Buchstaben den Sinn des Satzes aus, der Satz gibt jedem Buchstaben seine Bedeutung im Ganzen. In der Musik ist das etwas anders: Unsere Buchstaben sind die Noten, sie wachsen zu einem Motiv – und aus den Motiven entsteht ein Satz. Aber anders als der Satz in der Sprache ist der Satz in der Musik nicht unbedingt sofort zu verstehen. Er braucht eine Übersetzung. Und das ist, wofür wir Interpreten die Energie und die Intuition brauchen. Unsere Aufgabe ist es, bei unserer Interpretation des musikalischen Satzes so nahe am Komponisten wie möglich zu sein und gleichzeitig müssen wir vom Orchester und vom Publikum verstanden werden. Es geht also immer darum, durch Energie eine Brücke vom Komponisten zum Publikum zu schlagen. Übrigens gibt es dieses Phänomen in der Sprache ja auch: Wenn es darum geht, wie ein Schauspieler einen Satz sagt, wie er die einzelnen Buchstaben und Worte gewichtet. In diesem Fall geht es um die Atmosphäre, die er erzeugt. Und die Atmosphäre ist auch in der Musik von enormer Bedeutung.
Macht es Ihnen Spaß, über Musik zu reden?
Um ehrlich zu sein: Ich genieße die Gedanken eines solchen Gespräches, aber es fällt mir sehr schwer, das, was ich in der Musik erfahre, in Worten auszudrücken. Meine Erfahrung ist es, dass weder die eigentliche Arbeit eines Interpreten noch der Sinn eines Musikstückes sich in einer anderen Form als der Musik selber vermitteln lassen. Ein bisschen kommt mir jedes Gespräch über die Geheimnisse der Musik vor wie ein Gespräch über die Frage, warum wir leben. Das sind Themen, die einfach zu groß für meine Möglichkeiten des Wortes sind.
Herr Jansons, vielen Dank dennoch, dass Sie uns Ihr Wort über den Klang geschenkt haben.