Musik-Streams
Risiken und Chancen für Musik im Internet
3. November 2020
Musik-Streams lassen die sinnliche Dimension des Klangs vermissen . Doch bergen sie auch die Chance, Neugierde zu wecken und die Lust auf das Musikerlebnis zu steigern.
Durchforsten auch Sie nächtelang die unzähligen Musik-Angebote im Internet, die kurzfristig dorthin verlegt werden, weil im echten Leben kein Publikum mehr erlaubt ist? Und sind Sie auch begeistert von all dem, was einem da auf einmal ohne ein Extra an Aufwand und Kosten geboten wird? Von der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker über die New Yorker Met bis hin zu Livestreams von Klassik-Stars aus der ganzen Welt. Dazu Archivschätze von Sendeanstalten, Real-Time-Übertragungen glamouröser Kulturevents – alles online und vom Feinsten. Aber wie lange hielt Ihre Begeisterung darüber an? Haben Sie im digitalen Paralleluniversum so beglückende Momente erlebt, wie vor Corona im Konzert oder im Theater? Oder mussten Sie sich nach einigen Abenden am Bildschirm eingestehen, dass sogar erstklassige Veranstaltungen Sie nur wenig berührten? Seien Sie beruhigt, es liegt nicht an Ihnen. So ging es vielen Musikliebhabern.
Glanzstück der Musikvermittlung
Der Höhepunkt meiner kulturellen Streifzüge im Netz war, Kirill Petrenko bei seinem Europa-Konzert am 1. Mai 2020 beim Dirigieren von vorne sehen zu können. Was für ein Mienenspiel! Was für ein Tanz! Hier wurde einer der charismatischsten Musiker unserer Zeit zu einem Medium der Klänge, die er seinem Ensemble entlockte. Das war fesselnd, ja atemberaubend! Allerdings – wie bei anderen Konzertstreams – weniger musikalisch. Es war eher ein Glanzstück der Musikvermittlung: An Petrenko konnte man jene Macht und Magie der Musik sehen, die sich hörend in dieser Situation nur schwer übertrug.
Online-Events – von manchem Veranstalter in einer Art Flucht nach vorn mit „bequem von zuhause“ beworben – gab es in den vergangenen Monaten zuhauf. Und wann hatte man je zuvor die Gelegenheit, einen Blick in die Wohnzimmer prominenter Klassikstars zu werfen, wie in diesem Corona-Jahr? Um beispielsweise zu erfahren, dass der Stardirigent auf die Kinder aufpasst, während die Gattin, eine beliebte Mezzosopranistin, ihr neuestes Programm vorstellt. Das ist durchaus unterhaltsam. Von der Musik teilt sich dabei freilich noch weniger mit als bei Petrenkos Dirigat.
Die Körperlichkeit von Musik
Eines zeigen allerdings beide Beispiele: Bild und Wort funktionieren digital besser als die Musik. Die sinnliche Dimension des Klangs wie die Aura des Hier und Jetzt gehen auf dem Weg vom Aufführungsort ins Wohnzimmer schlichtweg verloren. Schon dieses „bequem von zuhause“ widerspricht dem Ereignischarakter, dem Musikerlebnis an einem festgelegten Ort in Gemeinschaft mit anderen Menschen. Was sich im Internet erst recht nicht überträgt, ist die Körperlichkeit von Musik – die Vibrationen von Schallwellen, der Geruch der Instrumente, die atmosphärische Spannung vor dem Einsatz. Wer nach monatelanger Corona-bedingter Abstinenz erstmals wieder eine „echte“ Aufführung erlebt, nimmt diese Dimension live gespielter Klänge bewusster wahr denn je.
Musik als der vielleicht verletzlichsten Kunstform geht etwas Wesentliches verloren, wenn sie sich nur auf Distanz ereignen darf. Je länger die Einschränkungen für kulturelle Veranstaltungen andauern, je fataler werden die Auswirkungen nicht nur für den Musikbetrieb sein, sondern auch für die Musik selbst. Große Orchester verlieren ihre spezifische Klangkultur und somit ihre Identität, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg nicht in Vollbesetzung spielen dürfen.
Kulturelle Entwöhnung
Der Opernregisseur Stefan Herheim machte kürzlich auf eine weitere Gefahr aufmerksam: Das Publikum wird sich an die Abwesenheit von Musikveranstaltungen gewöhnen und keine Notwendigkeit mehr verspüren, Aufführungen zu besuchen. So betrachtet, haben Konzertstreams nicht nur wenig zu bieten, sondern können sogar schaden. Denn jenen, die über das Internet erstmals Zugang zu klassischer Musik erhalten, wird sich die Magie des realen Musikerlebnisses nicht vermitteln. Sie werden in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der klassischen Musik eher bestärkt. Aber auch für kulturell interessierte und offene Menschen gilt: Der Corona-bedingte Zuwachs von Musikdarbietungen im Internet wird eher zum Argument für die Verzichtbarkeit von realen Konzerten und Opernaufführungen als für deren Notwendigkeit. Vorangetrieben wird der Trend zur kulturellen Entwöhnung noch durch den Umstand, dass vieles, was online verfügbar ist, ja umsonst ist. Und was nichts kostet, ist auch nicht viel wert, lautet hier die fatale Botschaft.
Schaden also die digitalen Kanäle der Musik möglicherweise mehr als dass sie ihr nutzen? Lassen sie die Konzert- und Theaterlandschaft hierzulande gar über kurz oder lang überflüssig werden? Das muss keineswegs so sein! Vorausgesetzt, Kreativität und Fantasie halten endlich Einzug auch in die digitalen Kulturräume. Da kommt mir wieder das Beispiel des Petrenko-Dirigats in den Sinn: Seinen geradezu rauschhaften Zustand zu sehen, macht neugierig auf die Musik, die ihn auslöst. Solche Neugierde zu wecken, ist Musikvermittlung im besten Sinn, und die funktioniert im Netz hervorragend.
Lust auf das Musikerlebnis
Es ist schwer zu verstehen, warum nur Videostreams von Aufführungen während der Pandemie allerorten das Internet überfluten, attraktiv begleitende Vermittlungsangebote aber kaum den Weg ins Netz finden. Sogar bei renommierten Orchestern stößt man allenfalls auf eher fantasielos, mitunter geradezu stümperhaft umgesetzte Digitalformate wie etwa Audios langweilig abgelesener Einführungs-Vorträge. Das wird weder der Kunstform noch dem Medium gerecht. Ein Podcast mit Musikbeispielen, Künstlerstatements und ansprechenden Moderationen könnte hingegen als „Edutainment“ im besten Sinn dem Verständnis der aufgeführten Werke dienen und so die Lust auf das Musikerlebnis steigern.
Auch partizipative Formate für die Vermittlung von Musik, die das Publikum einbeziehen, wären mit dem aktuellen Stand der Digitaltechnik kein Hexenwerk. Die Möglichkeiten sind vielfältig und werden derzeit noch nicht einmal ansatzweise genutzt. Dabei ließen sich mit digital versierter Musikvermittlung auch weniger Kulturaffine erreichen. Außerdem wäre sie ein effizienter Weg, um das derzeit angeschlagene Vertrauen in die sich Hier und Jetzt im realen Raum ereignenden Aufführungen neu zu gewinnen. So könnte der digitale Raum doch noch zum Segen für die Musik werden, indem er Aufmerksamkeit schafft und diese selbst über Krisenzeiten aufrechterhält.
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