Musik-Streams

Risiken und Chancen für Musik im Internet

von Michaela S. Fridrich

3. November 2020

Musik-Streams lassen die sinnliche Dimension des Klangs vermissen . Doch bergen sie auch die Chance, Neugierde zu wecken und die Lust auf das Musikerlebnis zu steigern.

Durch­forsten auch Sie näch­te­lang die unzäh­ligen Musik-Ange­bote im Internet, die kurz­fristig dorthin verlegt werden, weil im echten Leben kein Publikum mehr erlaubt ist? Und sind Sie auch begeis­tert von all dem, was einem da auf einmal ohne ein Extra an Aufwand und Kosten geboten wird? Von der Digital Concert Hall der über die New Yorker Met bis hin zu Live­streams von Klassik-Stars aus der ganzen Welt. Dazu Archiv­schätze von Sende­an­stalten, Real-Time-Über­tra­gungen glamou­röser Kultur­events – alles online und vom Feinsten. Aber wie lange hielt Ihre Begeis­te­rung darüber an? Haben Sie im digi­talen Paral­lel­uni­versum so beglü­ckende Momente erlebt, wie vor Corona im Konzert oder im Theater? Oder mussten Sie sich nach einigen Abenden am Bild­schirm einge­stehen, dass sogar erst­klas­sige Veran­stal­tungen Sie nur wenig berührten? Seien Sie beru­higt, es liegt nicht an Ihnen. So ging es vielen Musik­lieb­ha­bern.

Glanz­stück der Musik­ver­mitt­lung

Der Höhe­punkt meiner kultu­rellen Streif­züge im Netz war, bei seinem Europa-Konzert am 1. Mai 2020 beim Diri­gieren von vorne sehen zu können. Was für ein Mienen­spiel! Was für ein Tanz! Hier wurde einer der charis­ma­tischsten Musiker unserer Zeit zu einem Medium der Klänge, die er seinem Ensemble entlockte. Das war fesselnd, ja atem­be­rau­bend! Aller­dings – wie bei anderen Konzert­streams – weniger musi­ka­lisch. Es war eher ein Glanz­stück der Musik­ver­mitt­lung: An Petrenko konnte man jene Macht und Magie der Musik sehen, die sich hörend in dieser Situa­tion nur schwer über­trug.

Online-Events – von manchem Veran­stalter in einer Art Flucht nach vorn mit „bequem von zuhause“ beworben – gab es in den vergan­genen Monaten zuhauf. Und wann hatte man je zuvor die Gele­gen­heit, einen Blick in die Wohn­zimmer promi­nenter Klas­sik­stars zu werfen, wie in diesem Corona-Jahr? Um beispiels­weise zu erfahren, dass der Star­di­ri­gent auf die Kinder aufpasst, während die Gattin, eine beliebte Mezzo­so­pra­nistin, ihr neuestes Programm vorstellt. Das ist durchaus unter­haltsam. Von der Musik teilt sich dabei frei­lich noch weniger mit als bei Petrenkos Dirigat.

Die Körper­lich­keit von Musik

Eines zeigen aller­dings beide Beispiele: Bild und Wort funk­tio­nieren digital besser als die Musik. Die sinn­liche Dimen­sion des Klangs wie die Aura des Hier und Jetzt gehen auf dem Weg vom Auffüh­rungsort ins Wohn­zimmer schlichtweg verloren. Schon dieses „bequem von zuhause“ wider­spricht dem Ereig­nis­cha­rakter, dem Musik­erlebnis an einem fest­ge­legten Ort in Gemein­schaft mit anderen Menschen. Was sich im Internet erst recht nicht über­trägt, ist die Körper­lich­keit von Musik – die Vibra­tionen von Schall­wellen, der Geruch der Instru­mente, die atmo­sphä­ri­sche Span­nung vor dem Einsatz. Wer nach mona­te­langer Corona-bedingter Absti­nenz erst­mals wieder eine „echte“ Auffüh­rung erlebt, nimmt diese Dimen­sion live gespielter Klänge bewusster wahr denn je.

Musik als der viel­leicht verletz­lichsten Kunst­form geht etwas Wesent­li­ches verloren, wenn sie sich nur auf Distanz ereignen darf. Je länger die Einschrän­kungen für kultu­relle Veran­stal­tungen andauern, je fataler werden die Auswir­kungen nicht nur für den Musik­be­trieb sein, sondern auch für die Musik selbst. Große Orchester verlieren ihre spezi­fi­sche Klang­kultur und somit ihre Iden­tität, wenn sie über einen längeren Zeit­raum hinweg nicht in Voll­be­set­zung spielen dürfen.

Kultu­relle Entwöh­nung

Der Opern­re­gis­seur machte kürz­lich auf eine weitere Gefahr aufmerksam: Das Publikum wird sich an die Abwe­sen­heit von Musik­ver­an­stal­tungen gewöhnen und keine Notwen­dig­keit mehr verspüren, Auffüh­rungen zu besu­chen. So betrachtet, haben Konzert­streams nicht nur wenig zu bieten, sondern können sogar schaden. Denn jenen, die über das Internet erst­mals Zugang zu klas­si­scher Musik erhalten, wird sich die Magie des realen Musik­erleb­nisses nicht vermit­teln. Sie werden in ihrer Gleich­gül­tig­keit gegen­über der klas­si­schen Musik eher bestärkt. Aber auch für kultu­rell inter­es­sierte und offene Menschen gilt: Der Corona-bedingte Zuwachs von Musik­dar­bie­tungen im Internet wird eher zum Argu­ment für die Verzicht­bar­keit von realen Konzerten und Opern­auf­füh­rungen als für deren Notwen­dig­keit. Voran­ge­trieben wird der Trend zur kultu­rellen Entwöh­nung noch durch den Umstand, dass vieles, was online verfügbar ist, ja umsonst ist. Und was nichts kostet, ist auch nicht viel wert, lautet hier die fatale Botschaft.

Schaden also die digi­talen Kanäle der Musik mögli­cher­weise mehr als dass sie ihr nutzen? Lassen sie die Konzert- und Thea­ter­land­schaft hier­zu­lande gar über kurz oder lang über­flüssig werden? Das muss keines­wegs so sein! Voraus­ge­setzt, Krea­ti­vität und Fantasie halten endlich Einzug auch in die digi­talen Kultur­räume. Da kommt mir wieder das Beispiel des Petrenko-Diri­gats in den Sinn: Seinen gera­dezu rausch­haften Zustand zu sehen, macht neugierig auf die Musik, die ihn auslöst. Solche Neugierde zu wecken, ist Musik­ver­mitt­lung im besten Sinn, und die funk­tio­niert im Netz hervor­ra­gend.

Lust auf das Musik­erlebnis

Es ist schwer zu verstehen, warum nur Video­streams von Auffüh­rungen während der Pandemie aller­orten das Internet über­fluten, attraktiv beglei­tende Vermitt­lungs­an­ge­bote aber kaum den Weg ins Netz finden. Sogar bei renom­mierten Orches­tern stößt man allen­falls auf eher fanta­sielos, mitunter gera­dezu stüm­per­haft umge­setzte Digi­tal­for­mate wie etwa Audios lang­weilig abge­le­sener Einfüh­rungs-Vorträge. Das wird weder der Kunst­form noch dem Medium gerecht. Ein Podcast mit Musik­bei­spielen, Künst­ler­state­ments und anspre­chenden Mode­ra­tionen könnte hingegen als „Edutain­ment“ im besten Sinn dem Verständnis der aufge­führten Werke dienen und so die Lust auf das Musik­erlebnis stei­gern.

Auch parti­zi­pa­tive Formate für die Vermitt­lung von Musik, die das Publikum einbe­ziehen, wären mit dem aktu­ellen Stand der Digi­tal­technik kein Hexen­werk. Die Möglich­keiten sind viel­fältig und werden derzeit noch nicht einmal ansatz­weise genutzt. Dabei ließen sich mit digital versierter Musik­ver­mitt­lung auch weniger Kultu­raf­fine errei­chen. Außerdem wäre sie ein effi­zi­enter Weg, um das derzeit ange­schla­gene Vertrauen in die sich Hier und Jetzt im realen Raum ereig­nenden Auffüh­rungen neu zu gewinnen. So könnte der digi­tale Raum doch noch zum Segen für die Musik werden, indem er Aufmerk­sam­keit schafft und diese selbst über Krisen­zeiten aufrecht­erhält.

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Fotos: Ars Electronica