KlassikWoche 14/2019

Netrebko in der Urhe­ber­falle, und onanieren mit Levine

von Axel Brüggemann

1. April 2019

Heute mit der groß­ar­tigen Anna Netrebko in der Urhe­ber­falle und hoffent­lich zum letzten Mal mit Nike Wagner und James Levine – geschrieben natür­lich, wie immer in Brexit-Moll.

Will­kommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit der groß­ar­tigen  in der Urhe­ber­falle und hoffent­lich zum letzten Mal mit Nike Wagner und  – geschrieben natür­lich, wie immer in Brexit-Moll.

WAS IST

NETREBKO IN DER LEIS­TUNGS­SCHUTZ­FALLE

Eines der groß­ar­tigsten Klassik-Videos war nur für wenige Stunden auf dem Insta­­gram-Account von Anna Netrebko zu sehen. Es zeigte die Sängerin von der Seiten­bühne aus, als sie die letzten Töne des Male­di­zione aus der Macht des Schick­sals in London sang, die Bühne verließ und sich, noch voll­kommen in Trance, an die Wand lehnte und von ihrer eigenen Über­zeu­gungs­kraft erschöpft einfach nur dastand. Näher kann man der Oper nicht kommen! Diesem Hoch­leis­tungs­sport der Gefühle. Solche Videos begeis­tern, führen uns hinter die Kulisse. Aber nun hat Netrebko es gelöscht und durch eine hand­schrift­liche Notiz ersetzt. Offen­sicht­lich in Rage und Wut – und mit ortho­gra­phi­schen Furor in „russ-englisch“ geschrieben: „Unfort­u­na­tely i had to deleed post with ‚Male­di­zione‘… from back stage, because for 23 seconds you can hear orchestra there, and rights of the orchestra not let me do that … Sorry :-“ In einer Zeit, in der wir das Urhe­ber­recht debat­tieren, zeigt diese – mit Verlaub – Korin­then­ka­ckerei des ROH-Orches­­ters die Absur­dität der Debatte. Leute, dieses Video ist besser als jede offi­zi­elle Opern-PR. Und wie soll das denn weiter­gehen? Irgend­wann wird sich die Netrebko in den Vertrag schreiben lassen, dass sie für jedes Bild mit sich auf der Bühne des Opern­hauses extra bezahlt werden muss. Und wem wäre damit geholfen? Egal ob Piotr Beczala oder Angela Gheor­ghiu – sie alle zeigen uns in sozialen Medien die Oper, wie wir sie sonst nie erleben: als Welt der Leiden­schaft. Und damit soll nun Schluss sein, weil irgend­welche satten Orches­ter­mu­siker die letzten Pennys zusam­men­kratzen wollen? Ich habe der Pres­se­spre­cherin der Royal Opera, Vicky Kington, geschrieben und gefragt, wie viel das Orchester für die 23 Sekunden verlangt. Ich wollte an dieser Stelle eine Crowd-Funding-Aktion starten, um das Video wieder zugäng­lich zu machen. Die Antwort kam prompt: „Lieber Axel, auf Grund vertrag­li­cher Verein­ba­rungen mit der Orchester-Gewer­k­­schaft gibt es keine Möglich­keit, die Rechte abzu­treten. Aber genießen Sie doch einfach die Auffüh­rung im Kino.“ What?!!! Ey, liebe Royal Opera, hiermit erkläre ich offi­ziell meinen vorläu­figen, persön­li­chen ROHxit.

Um so lustiger, dass Placido Domingo derweil auf seinem Insta­­gram-Account in perfektem Deutsch mit großer, blauer Füll­­fe­­der­halter-Unter­­schrift im Stile einer Notar-Veror­d­­nung erklärt: „Gerade für die klas­si­sche Musik ist es beson­ders wichtig, dass die Künstler an den neuen Möglich­keiten im Internet teil­haben und davon profi­tieren können. Die EU Copy­­­right-Rich­t­­linie gibt uns die Chance auf einen fairen Anteil an den Erlösen der Digi­tal­wirt­schaft. Ein wich­tiger Schritt in die rich­tige Rich­tung.“ Ja, Maestro, aber können wir uns wenigs­tens noch ein biss­chen leiden­schaft­liche Frei­heit bewahren und zumin­dest der so herr­lich unan­ge­passten Opern-Netz-Piratin Anna Netrebko einfach alles auf Insta­gram erlauben? 

NIKE WAGNERS BEFREI­UNGS­SCHLAG

Die letzten Wochen haben wir immer wider über Nike Wagner und ihre Loya­lität zum Musik­pro­fessor Sieg­fried Mauser berichtet, der wegen sexu­eller Über­griffe zu zwei Jahren und neun Monaten Gefäng­nis­strafe verur­teilt wurde. Nicht ohne Kritik: Wegge­fä­tinnen Wagners warfen mir Unsach­lich­keit vor, schrieben wütende Briefe und kündigten den News­letter – sie wollten nichts mehr über die Sache hören. Und eigent­lich hatte ich selber auch so langsam die Nase voll. Doch nun nahm Wagner in einem Gespräch mit Swantje Karich in der Welt zum ersten Mal selber Stel­lung (leider hinter der Bezahl­schranke). Sie sei mit Simone de Beau­voir und Alice Schwarzer sozia­li­siert worden, hält Mauser mit seinem baye­ri­schen Akzent noch immer für einen „putzigen Kontrast“ in der Musik­welt. Nike Wagner räumt aber ein, dass sie „primär aus seiner Perspek­tive von den Vorgängen unter­richtet wurde“. Mehr­mals betont sie, dass sie #MeToo für richtig und wichtig halte, glaubt aber auch: „Wenn die Utopie der Geschlechter sich jetzt auf Correct­ness einpen­delt, halte ich das für unzu­rei­chend. Es gibt doch auch eine eroti­sche Kompli­zen­schaft von Männern und Frauen.“ Wagner selber würde nicht mehr an Mauser fest­halten, erklärt sie, aber er habe „kein Berufs­verbot bekommen und sollte sich bewähren dürfen“. Sie selber sei nach dem öffent­li­chen Druck durch „Politik und Spon­soren“ aller­dings zum Schluss gekommen, seinen Auftritt beim Beet­ho­ven­fest abzu­sagen. Keine Erklä­rung über die E‑Mail-Affäre mit , keine Erklä­rung ihrer Worte, dass Frauen auch nicht immer unschuldig sein – und weiterhin irgendwie ein Eier­tanz. Aber immerhin der Versuch, die eigene Perspek­tive zu erklären. Leider gegen­über einer Jour­na­listin, die darauf verzichtet, die wesent­li­chen Fragen zu stellen. 

ONANIEREN MIT JAMES LEVINE

Bewe­gung kommt auch in die Causa James Levine. In der NZZ fasst Michael Stall­knecht eine Repor­tage des Boston Globe zusammen, in der es um den Kult geht, den Levine in den 70ern um sich errichtet hat: um Jünger des Diri­genten, die ihm ihre Lust opfern, und um Proben, deren Sinn es war, die eigene Sexua­lität zu kontrol­lieren: „Man musi­zierte des Nachts gemeinsam, aber laut dem Bericht onanierte man auch gemeinsam.“ In gab es indes erste Gerichts­ur­teile. Rich­terin Andrea Masley hat die meisten von James Levines Klagen gegen die MET abge­wiesen. Inten­dant Peter Gelb ist aus der Schuss­linie. Sein Satz, dass Levines Verhalten „eine Tragödie für jeden sei, der davon betroffen war“, ist demnach ebenso erlaubt wie zwei weitere Äuße­rungen der MET-Juris­­terei gegen Levine. Gegen einen Vorwurf darf Levine aller­dings weiter klagen. Die MET hatte behauptet, „belast­bare Beweise für sexu­ellen Miss­brauch durch Levine zu haben.“ Darüber wird nun wohl in nächster Instanz gestritten. Sowohl die MET als auch Levine zeigten sich mit dem ersten Urteil zufrieden. 

Für die aktu­elle Ausgabe des Cicero (leider nur im Print) habe ich versucht, die Situa­tion der Klassik zu ordnen. Warum kommt es zu so vielen Über­griffen und Vorwürfen von Despotie? Meine Thesen: 1. Der absurde Genie­kult des 19. Jahr­hun­derts treibt noch immer Blüten. 2. Der klas­si­schen Musik fehlt ein wirk­lich unab­hän­giger Jour­na­lismus. 3. Das poli­ti­sche Bewusst­sein für Stars ist größer als die Sorge um Macht­miss­brauch. 4. Die Klassik ist eine mikro­kos­mi­sche Nische, in der sich ein Eigen­leben wunderbar entwi­ckeln kann. Es gibt also viel zu tun und neu zu denken, wenn wir irgend­wann Mal in der Moderne ankommen wollen.

WAS WAR

KLASSIK IN BREXIT-MOLL

Brexit oder nicht? Bei vielen Orches­tern sorgt diese Frage für Verzweif­lung: Soll man noch Tour­neen nach Groß­bri­tan­nien planen? Wie steht es um Planungs­si­cher­heit und um die Kosten? Viele euro­päi­sche Orchester, unter anderem die Tonkünstler, wollen zunächst auf Gast­spiele auf der Insel verzichten. Jugend­or­chester wie das Euro­pean Union Youth Orchestra haben ihren Sitz nach  verla­gert, beim Chamber Orchestra of Europe besteht noch voll­kom­mene Unklar­heit. Wie Klassik-Künstler ganz persön­lich mit dem Brexit umgehen, hat Hans Acker­mann sehr lesens­wert im Tages­spiegel aufge­schrieben. Der in London lebende Bariton Benjamin Appl berichtet unter anderem von absurden Situa­tionen: „Es gibt Kollegen, die buddeln, ob sie viel­leicht irischen Vorfahren haben. Andere über­legen, eine Deut­sche zu heiraten, um irgendwie einen euro­päi­schen Pass zu bekommen. Man merkt wirk­lich, wie die Angst umgeht.“ 

ZIMMER­MANNS KLASSIK-DÄMME­RUNG

So tabulos wie von Tabea Zimmer­mann in der nmz fällt selten eine Abrech­nung mit dem Klassik-Betrieb aus. Die Viola-Spie­­lerin beklagt den Verfall der ökono­mi­schen und poli­ti­schen Sitten im Betrieb: „Das Geschäft ist ein schmut­ziges geworden, ich sehe das bei einigen großen Festi­vals, wobei ich da jetzt keine Namen nennen will. (…) Was ich beob­achte: Man kann die Karriere ein Stück weit kaufen, die Auszeich­nungen, Preise und sogar auch die Presse und Medien. Immer öfter wird die Klassik instru­men­ta­li­siert, um poli­tisch etwas zu errei­chen, zum Beispiel bei russi­schen Olig­ar­chen. Ich achte genau darauf, dass ich mich nicht verein­nahmen lasse, aber das ist nicht immer leicht, da man aller­orten einge­spannt wird für irgend­etwas. Wir Musiker müssen insge­samt poli­ti­scher werden und können uns nicht nur in unserer Nische einrichten.

NEUSTRUK­TU­RIE­RUNG DER DEUT­SCHEN GRAM­MO­PHON

Es ist schon lustig, dass Klassik-Labels wie die Deut­sche Gram­mo­phon ihre Jahres­be­richte nicht mehr mit Umsätzen oder Verkaufs­zahlen veröf­fent­li­chen, sondern sich darauf beschränken, ihren Markt­an­teil gegen­über der Konkur­renz bekannt zu geben. Bei der DG lag er angeb­lich bei 29,3 Prozent, 11 Prozent mehr als der zweit­beste „Mitbe­werber“. Eine Zahl, die so gut wie gar nichts aussagt. Hand­lungs­be­darf scheint dennoch zu bestehen, denn DG-Chef Clemens Traut­mann kündigt eine grund­le­gende Umstruk­tu­rie­rung an: Kompe­­tenz-Teams aus allen Berei­chen werden in Clus­tern um die Themen­felder Reper­­toire-Cluster Clas­sicalHeri­tageNew Reper­toire und Special Projects grup­piert. Schon jetzt dankt die DG ihren Mitar­bei­tern für die „Flexi­bi­lität“ – was auch immer das bedeutet. 

AKTU­ELLER THEA­TER­DONNER

Jan Brach­mann feiert Aribert Reimanns Oper Medea in , beson­ders weil der Text Grill­par­zers endlich verständ­lich wurde: „Sebas­tian Noack als Jason und Rainer Maria Röhr als Kreon singen beide mit erstaun­li­cher Eleganz.“ +++ Es dauerte etwas, bis Chris­tiane Tewinkel den Sinn in der aktu­ellen Maerz­musik gefunden hat. Soll man im Konzert lieber liegen oder sitzen? Am Ende ließ sie sich begeis­tern und lernte die Maerz­musik „gegen den Wider­stand ihres eigenen Anspruchs kennen“. +++ Der Streik des  geht weiter: Ein Konzert in San Fran­cisco wurde abge­sagt, und die Musiker von der West­küste unter­stützten die Kollegen bei ihrer Demons­tra­tion. +++ Nachdem die Stadt  sich bereits mit der Nicht-Verlän­­ge­rung von Florian Lutz in die Kritik gebracht hat (wir haben berichtet), tobt es nun auch am Neuen Theater in Halle: Im  erklärt Inten­dant Matthias Brenner, warum Geschäfts­führer Stefan Rosinski Mobbing betreibe und er selber seinen Vertrag unter den aktu­ellen Umständen nicht verlän­gern will. 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Die Regens­burger Domspatzen (unlängst eben­falls im Zentrum sexu­eller Anschul­di­gungen) haben mit Chris­tian Heiß einen neuen Chef. Über die Benen­nung des Diri­genten, der einst selber Domspatz war und sich auf die Tradi­tion der großen Chor­leiter vor ihm berufen will, dürfte sich auch der Papst-Bruder Georg Ratz­inger freuen. Der hatte nämlich etwas dagegen, dass die Stelle für Männer und Frauen ausge­schrieben wurde: „Meine ganz persön­liche, viel­leicht altmo­di­sche Meinung ist die, vor so viel Buben und jungen Männern ist‘s doch besser, wenn ein Mann dem Chor vorsteht.“ Amen. +++  wird mit 32 Jahren zum Professor für Klavier an der Hoch­schule für Musik und Theater in . +++ Der Pianist  musste seine Nord­a­ma­rika-Tournee aus erneuten gesund­heit­li­chen Rück­schlägen absagen – gute Besse­rung! +++ 58 Minuten dauerte der letzte Vorhang bei ihrem letzten Auftritt in . Würdig, wie sich die Sängerin Edita Gruberova von ihrem Publikum verab­schiedet hat. Am Ende regnete es rote Rosen. 

WAS LOHNT

MEIN KÜNSTLER DER WOCHE…

… ist dieses Mal ein Jazz­mu­siker. Und ich muss zugeben, dass ich erst durch einen Artikel von Jurek Skro­bala im Spiegel auf ihn gestoßen bin. Es geht um den israe­li­schen Pianisten Shai Maestro. Seit 10 Jahren lebt er in New York, schaut aber immer noch rüber, nach Israel. Früher klas­si­scher Klavier­un­ter­richt, dann eigene Impro­vi­sa­tionen und das Berklee College of Music in Boston. Seine Spiel-Methode nennt er Shit, thank you – es geht darum, Fehler zuzu­lassen und sie weiter zu spinnen, um Neues zu schaffen. Maestro thema­ti­siert tragi­sche Massaker in Songs wie The Dream Thief oder poli­ti­sche Reden von Barak Obama, selbst vor einem Konzert protes­tie­rende Paläs­ti­nenser inte­griert er in seine Musik. Unver­wech­sel­barer, span­nender, bewe­gender, hörbarer, und zuweilen erschüt­ternder Jazz. Unbe­dingt Mal rein­hören. 

Sie fragen sich, warum Lang Lang gerade überall präsent ist, nur nicht im News­letter? Weil sein neues Album sich nicht lohnt. 

Dann lesen Sie lieber das Inter­view, das meine CRESCENDO-Kollegin Verena Fischer-Zernin mit der Sängerin  geführt hat: Über ihr neues Album mit Schu­­bert-Liedern.

Versöhn­lich für viel­rei­sende Musiker, die derzeit unter der Deut­schen Bahn leiden, ist die aktu­elle Pop up Oper der Komi­schen Oper auf dem Haupt­bahnhof der Haupt­stadt – mit einem Flash-Mob hat das Ensemble ein wenig Werbung für  gemacht: „Es ist so schön, am Abend bummeln zu geh‘n“.

In diesem Sinne: Thank the shit and stiff up your ears

Ihr

Axel Brüg­ge­mann
brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Wiki Commons