Wie aktuell Bach ist, hat lange niemand geahnt.
Nikolaus Harnoncourt ist ein Pionier der „historischen Aufführungspraxis“. Jetzt werden die ersten Einspielungen des „Alten Werks“ wieder veröffentlicht. Ein Gespräch über die Kriegsgeneration, den Klang und die „Knödeltheorie“.
Der Rückzugsort der Harnoncourts ist ein lebendiges Museum: Im Musikzimmer horten der Dirigent Nikolaus Harnoncourt und seine Frau, die Geigerin Alice, Instrumente, die sie auf Dachböden gesammelt, in Klöstern gefunden oder geschenkt bekommen haben. Lang Lang war auch schon mal zu Gast – er hat beim Flügel der Schubert-Zeit gleich die Pedale durchgetreten. „Historische Aufführungspraxis“ ist eben etwas für Feingeister. Bei Kaffee und Keksen ging es um alles: die Musik und das Leben.
CRESCENDO: Herr Harnoncourt, Sie haben gleich nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, sich für alte Musikinstrumente und Musik zu interessieren. Für große Orchester war das damals undenkbar. Sie waren ein Revolutionär, der die Erneuerung der Gegenwart durch das Wissen um das Alte suchte. Mit Ihrer Musik haben Sie eine Gesellschaft verunsichert, die nichts mehr suchte als Sicherheit.
Nikolaus Harnoncourt: Das ist ja das Tolle an Kunst, dass sie auch nach Jahrhunderten noch beunruhigen kann – und das wollten wir natürlich auch. Ich selbst bin ja ein echtes Kriegskind. Der Krieg endete ein oder zwei Wochen vor meiner Einberufung zum Militär. Ich hatte schon das Gesuch eingereicht, in dem ich mich direkt aus den Alpen für die Kriegsmarine beworben hatte, damit ich nicht zur Waffen-SS komme. Aber bevor die Antwort kam, waren die Amerikaner bereits da. Tatsächlich habe ich mich in dieser Zeit oft gefragt, was mit den Millionen zerstörten Menschen passiert, die aus dem Krieg kommen und den kaputten, desillusionierten Leben zu Hause. Ich habe die Flüchtlinge miterlebt, die neuen Gesichter an den Schulen. Es war so viel kaputt in jedem einzelnen Leben, dass fast jeder das hemmungslose Vergnügen oder eine bürgerliche Normalität gesucht hat. Eine Sehnsucht, die übrigens alle Schichten betraf. Ich glaube, nach sechs Jahren Krieg und dem Desaster des Nationalsozialismus muss man den Menschen ihre exzentrischen oder auch spießerhaften Sehnsüchte teilweise nachsehen, ihren Wunsch nach Sicherheit und Biederkeit. Später kann man darüber lächeln, aber diese Stimmung hatte natürlich ihre Geschichte.
Wie haben Sie persönlich diese Zeit empfunden?
Ich erinnere mich genau, dass ich mir damals ernsthaft Gedanken darüber gemacht habe, ob ich überhaupt töten dürfte. In einer Zeit, in der das Töten allgegenwärtig war und alle gesagt haben, dass es sein müsste. Aber ich habe mich als 16jähriger tatsächlich gefragt, ob es nicht besser wäre, getötet zu werden, statt selbst zu töten. Ich glaube, diese Frage haben sich damals die meisten 16jährigen gestellt. Und ich bin sicher, dass meine grundsätzlich kritische Lebenshaltung durch diese Ausgangssituation bestimmt wurde, dadurch, dass ich ein echtes Kriegskind bin.
Musik hat ja immer zwei historische Orte: Die Zeit ihrer Entstehung und die Zeit, in der sie gespielt und zu neuem Leben erweckt wird. Sagt die Interpretation eines Werks eigentlich mehr über die Zeit, in der es geschrieben wurde aus oder über die Zeit, in der es gespielt wird?
Ich glaube, beide Momente sind wesentlich: das eine ist das Fixum, das andere bewegt sich ständig. Erst in der Spannung aus Vergangenheit und Gegenwart entsteht Interpretation.
Es ist also selbstverständlich, dass sich Werke mit der Zeit wandeln?
Ich habe Beethovens „Fidelio“ bei der Machtübernahme der Nazis gehört, bei der Befreiung von den Nazis und später in der Ostzone, bei der Wiedereröffnung der Staatsoper in Berlin. Und eigentlich habe ich all diese drei Aufführungen nur als Terror erlebt. Ich habe gespürt, dass ein Stück, das eine vollkommen andere Idee hat, dauernd umgedeutet wurde: Im Zentrum stand stets die Befreiung von der Tyrannei. Und als Tyrannei wurde definiert, was die herrschenden Machthaber selbst angefeindet und bekämpft haben. Natürlich war der „Fidelio“ der Nazis ein „Fidelio“, der die Nazis etabliert hat. Der „Fidelio“ der Nachkriegszeit einer, der die Welt von den Nazis befreit hat. Und ich habe alle schrecklich gefunden! Weil ich keinen „Fidelio“ darüber gesehen habe, wovon er meiner Meinung nach tatsächlich handelt: von dem, was ein Mensch bereit ist, für den Geliebten zu tun. Für mich ist „Fidelio“ eine ganz private Oper über die Liebe. Die Gefangenen werden von Beethoven nur als Staffage benutzt, weil sich eine derartige Not wie die des Florestan nicht anders darstellen lässt. Aber kaum jemand hat daran gedacht, dass diese Gefangenen nie befreit, sondern sofort wieder eingesperrt werden. Für mich hat „Fidelio“ mit Gefangenheit und Befreiung nur peripher zu tun, und trotzdem haben sich alle Machthaber und Befreier dieser Oper bemächtigt. Und ja, ich glaube, das sagt in diesem Fall mehr über die Zeit der Interpretation als die der Schöpfung aus.
Eine Grundidee Ihres Orchesters, des Concentus Musicus, war das Spiel auf alten Instrumenten als modernes Klangerlebnis. Aber die Gründung war ja nicht irgendeine Orchestergründung. Sie haben einen Gegenpol zum etablierten Musikgeschäft der großen Orchester eröffnet.
Was lustiger Weise nur möglich war, weil ich auch am „normalen“ Musikleben teilgenommen habe. Mein Job als Cellist bei den Wiener Symphonikern hat mir die finanzielle Basis für die Forschung und für das Neue gegeben. Man muss allerdings auch sagen, dass es uns schon als Studenten nicht allein um die Musik ging. Wir haben uns grundsätzlich für die Bedeutung der Kunst im Leben interessiert.
Musik also eher als Teil des Gesamtkomplexes Kunst und als integraler Bestandteil des Lebens?
Inzwischen frage ich mich oft, ob das, was wir damals gemacht haben und was ich bis heute treibe eigentlich Arbeit ist. Ich würde heute gern noch einmal meine Abiturarbeit, die ich 1948 geschrieben habe, lesen, denn das Thema war: „Was bewegt den Menschen zur Arbeit?“. Ich habe mir die Fragestellung aus drei Themen ausgewählt und eigentlich das Gegenteil von dem geschrieben, was mein Lehrer erwartet hat – trotzdem musste er mir ein „sehr gut“ geben. Für mich ist diese Frage heute wieder ganz aktuell: Was ist das eigentlich für eine Arbeit, die ich mache? Es ist schon merkwürdig, dass die profane Arbeit, die ich acht Stunden lang am Tag verfolge, mit unserer „Arbeit“ unter einem Wort subsumiert wird. Eigentlich ist das rein sprachlich gar nicht zu akzeptieren: Der eine will unbedingt aufhören zu arbeiten, und der andere denkt gar nicht daran, er arbeitet, bis er tot umfällt. Ich erzähle das, weil diese frühe Auseinandersetzung mit dem Wort Arbeit vielleicht mitentscheidend für meinen weiteren Weg war, weil er Ihre Frage nach dem etablierten Musizieren, der Arbeit mit Musik und unserer Begeisterung beantwortet.
Sie sind diesen Weg nicht allein gegangen, sondern mit Freunden und mit ihrer Frau.
Ich habe meine Frau am ersten Tag an der Akademie getroffen. Ich kam damals als eine Art Provinzdepp an, und sie war ein Star der Wiener Musikhochschule. Ziemlich schnell haben wir einen kleinen Musizierkreis gebildet, mit dem wir in Museen oder zu Architektur-Wanderungen aufgebrochen sind. Uns hat gestört, dass ausgerechnet in der Musik alles, was vor Mozart lag, schlecht geredet wurde. Von unserem historischen Wissen sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass das so nicht stimmen konnte. Also haben wir die Bibliothek der Wiener Musikhochschule leer gelesen und leer gespielt. Dabei sind wir darauf gekommen, dass die alten Instrumente anders klingen. Das kunsthistorische Museum in Wien beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen alter Musikinstrumente, zum großen Teil stammt sie noch von den Habsburgern. Die Direktoren waren damals so tolerant, dass sie uns die Vitrinen geöffnet haben und uns spielen ließen. Ich habe wahrscheinlich auf jedem Streichinstrument gespielt, und die Bläser von uns auf jedem Blasinstrument. Mit 20 Jahren habe ich also gewusst, wie ein Instrument im 15. Jahrhundert klang und habe einen unglaublichen Respekt bekommen. Das hatte allerdings weniger mit unserer Kunstfertigkeit als vielmehr mit der Kunst der Instrumentenmacher zu tun. In diesem Moment hat sich auch langsam eine Verachtung gegenüber der herrschenden Ignoranz entwickelt.
Was genau haben Sie verachtet?
Wir haben gespürt, dass unser Musikleben in einer falschen Schiene lief. Man hat nicht nach rechts und nicht nach links geschaut. Ich habe die „Matthäus-Passion“ von Furtwängler am Klavier begleitet gehört, oder den schrecklichen Hermann Scherchen mit der „Kunst der Fuge“ – er hatte keine Idee von Klang. Oder freundlicher gesagt: Ich hatte durch meine Beschäftigung mit den alten Instrumenten eine ganz andere Klangvorstellung als er. Während die anderen einfach weiter gemacht haben, saßen wir da, haben geschnüffelt und gestöbert und eigentlich nur auf den Moment gelauert, endlich selbst etwas auf die Beine stellen zu können. Die Wiener Symphoniker haben uns eine finanzielle Basis dafür gegeben. Aber das gilt nicht nur für das Geld, sondern auch für die Erfahrung. Von 1952 an habe ich außer mit Furtwängler fast unter jedem Dirigenten gespielt – selbst mit dem alten Kleiber, aber auch unter Strawinsky oder Hindemith. Diese alten Meister hatten ja einiges zu sagen. Die Oberflächlichkeit der Musikalität hat eigentlich erst in den Zwischenkriegsjahren eingesetzt und nahm ihren weiteren Lauf in der Nachkriegszeit.
Es gab also das etablierte Musizieren. Eine unangreifbare Szene, die bei Ihnen Verachtung auslöste. Aber der eigentliche Skandal Ihres Treibens lag doch darin, dass Sie in eine Moderne gegangen sind und sich dabei auf das Alte berufen haben.
Es war so, dass die zeitgenössischen Komponisten und Musiker sich für unsere Konzerte viel mehr interessiert haben als die Musiker der klassischen Schiene. Aber natürlich gab es auch Ausnahmen, Sympathisanten. Der Lehrer von Claudio Abbado und Zubin Mehta zum Beispiel, Hans Swarowsky, der eine Dirigentenklasse in Wien hatte, machte mit seinen Schülern Führungen durch Wien und hat ihnen die Architektur erklärt. Er war ein ziemlich schlechter Dirigent, aber ein wunderbarer Pädagoge. Und wenn er vor uns stand, hat er geblufft, hat versucht mit historischen Kenntnissen zu prahlen, und behauptet: „Das steht schon bei Leopold Mozart“. Aber von einem gewissen Zeitpunkt an hat er mich immer gefragt, ob das stimmt. Er wusste, dass ich mir inzwischen viel angelesen hatte und hoffte, dass ich seine Thesen irgendwie untermauern würde. Er hat mich „Erlaucht“ genannt, weil er erfahren hatte, dass meine Eltern Grafen waren. Also hat er gefragt: „Erlaucht, stimmt das?“. Meistens musste ich ihm antworten: „Leider nein.“ Aber das hat ihm unglaublichen Spaß gemacht – und ich finde, das hatte Größe.
Also gab es durchaus auch eine Offenheit für das Neue?
Schon, aber das war eher die Ausnahme. Ich habe mir manchmal den Spaß gemacht, Dirigenten nach dem „Warum“ ihrer Anweisungen zu fragen – und habe das aus Höflichkeit selten vor dem Orchester, sondern immer nur in privaten Audienzen getan. Aber ich habe nie eine andere Antwort auf meine Frage bekommen als: „Weil ich es so sage.“ Das Autoritätsgebaren dieser Leute damals war schier unbegreiflich. Die besten Musiker hatten einfach zu spielen, jeder war Teil eines Instruments, das den Namen „Orchester“ trug – und es war das Instrument, auf dem der Dirigent spielte.
Ein Querkopf wie Sie hatte es sicherlich nicht leicht gegen all die übermächtigen Größen…
Ich habe immer Widerstand geleistet, also war diese Situation für mich nicht neu. Ich bin schon als Kind nicht den Ideen meines Vaters gefolgt. Ich bin meinen Lehrern nie blind nachgerannt, und meine zweifelnde Grundhaltung hat sich natürlich auch auf die Musik übertragen. Allerdings wurde mir auch ziemlich schnell klar, dass man in seinem Zweifel auch etwas wagen muss. Es ist einfach sicherer, etwas zunächst nicht zu glauben, anzuzweifeln, zu hinterfragen. Aber dazu gehört auch, dass man die Konsequenzen aus seinen Überzeugungen zieht. Ich habe die Wiener Symphoniker 1969 verlassen. Da hatten wir bereits vier Kinder, aber kein anderes Einkommen. Meine Frau hat mich unterstützt. Sie sagte, dass sie notfalls in einem Spital putzen würde, wenn es nicht klappen würde, oder dass sie im Burgtheaterorchester spielen würde, weil die großen Orchester damals noch keine Frauen aufgenommen haben.
Aber dazu kam es gar nicht, weil Sie ja ziemlich schnell neue Jobs angeboten bekamen, zum Beispiel an der Wiener Hochschule, an der Sie Aufführungspraxis lehren sollten.
Aber das wäre nie der Fall gewesen, wenn ich nicht die Konsequenzen aus meinen Zweifeln gezogen hätte. Außerdem ging diese Geschichte ja auch nicht gut aus. Es gab eine Kollegiumsversammlung aller Professoren, in der ich abgelehnt wurde. Ich habe illegalerweise das Protokoll dieser Sitzung zugespielt bekommen. Zwei Leute, die mich sehr gut kannten, haben mich damals mit der Begründung abgelehnt, dass man jemanden wie mich, der alles anzweifelt, nicht auf die Studenten loslassen könne. Und auch die Entscheidung, dass ich nicht Direktor der Musikinstrumentensammlung geworden bin, hatte ähnliche Gründe. Die anderen Museumsdirektoren hätten mich als Direktor akzeptieren müssen, aber sie haben gesagt, dass ich kein Akademiker sei und als Gesprächspartner somit nicht satisfaktionsfähig. Heute danke ich ihnen, dass sie so entschieden haben, denn sonst wäre ich wohl kaum den Weg gegangen, den ich gegangen bin.
Haben Sie trotz der Widerstände nie Zweifel an Ihrem Weg gehabt?
Ehrlich gesagt: kaum. In den letzten Jahren seines Lebens haben wir den Pianisten Friedrich Gulda getroffen. Meine Frau kannte ihn von früher, im Krieg haben die beiden gemeinsam Trio gespielt – da war er, der Fritzi, und sie die Lizzi. Wir haben uns durch Zufall in einem Frankfurter Hotel wieder getroffen, und er frage mich: „Warum spielen wir eigentlich nicht zusammen?“ Dann haben wir tolle Dinge zusammen gemacht. Er hat ja nicht weit von uns am Attersee gewohnt. Und als wir dann beisammen saßen, sagte er: „Dass Du das damals gemacht hast, vom Orchester weg, ohne Netz und Seil, das finde ich toll.“ Aber ich hatte damals gar nicht das Gefühl, etwas Großartiges getan zu haben, denn durch den Mut den Zweifel zu vertreten, haben sich immer neue Türen geöffnet. So bin ich fast vom Fleck weg von der Mailänder Scala engagiert worden. Die haben geglaubt, dass ich längst überall dirigieren würde, weil auf unseren Platten stand: „Leitung: Nikolaus Harnoncourt“. Dabei habe ich immer nur vom Cello aus geleitet und stand noch nie in meinem Leben vor einem modernen Orchester. Aber zum Glück ist alles gut gegangen. Als die Scala mich erneut verpflichten wollte, hatte ich eine Tournee mit dem Concentus geplant und dafür meinen Assistenten vorgeschlagen. Die Antwort der Oper war: „An der Scala gibt es kein Debütieren.“ Da habe ich mir gedacht: Wenn die wüssten. Früher habe ich das niemandem erzählt, aber heute sage ich es jedem, der es wissen will.
Die Alte Musik war plötzlich modern und hat auf die Gegenwart gewirkt. Worauf führen Sie das neue Interesse zurück?
Die Parallele zwischen Alter und Neuer Musik war tatsächlich für viele erstaunlich und neu. Und es waren ja auch die Gegenwartsmusiker, die in unsere Konzerte stürmten, weil sie merkten, dass hier etwas passierte. Wer nicht kam, hatte meist ein Vorurteil gegen die Musik, die wir aufführten. Nicht ganz zu Unrecht, denn Alte Musik war ja wirklich zum großen Teil Gebrauchsmusik – und vieles ist zu Recht vergessen. Ich glaube nicht, dass man jede Sinfonie von Dittersdorf oder den Bachsöhnen aufführen muss. Das mag dem akademischen Interesse der musikwissenschaftlichen Seminare dienen, aber die wirklich große Kunst kennt weder Gegenwart noch Vergangenheit, sie bleibt aktuell. Man braucht sie auch nicht zu aktualisieren, weil sie per definitionem modern ist und sich ständig in Konkurrenz zum zeitgenössischen Schaffen befindet. Dieser Punkt ist mir wichtig, besonders, wenn man über die „historische Aufführungspraxis“ redet: Es geht eben nicht darum, das Alte zu rekonstruieren, sondern es in die Kontexte der Gegenwart zu stellen. Dabei haben wir natürlich auch Irrwege unternommen, Werke vermeintlicher Größe aufgeführt. Aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass Altes – und ich meine damit alles, was älter ist als eine Generation – nur eine Aufführungsberechtigung hat, wenn es so gut ist, dass es nicht altert.
Wie ist es damals eigentlich von der akademischen Pionierarbeit zu den ersten Konzerten gekommen?
Nach jahrelangen Vorbereitungen haben wir diese Konzerte von 1957 an selbst veranstaltet – im Palais Schwarzenberg. Wir haben die Plakate selbst organisiert, haben die Stühle gestellt, und an der Garderobe standen die Frauen der Musiker. Das Merkwürdige war, dass die Konzerte sofort eingeschlagen haben. Wir haben sie sogar wiederholen müssen. Der Grund war, dass sie so fremd klangen und deshalb als zeitgenössisch empfunden wurden. Nur die Reaktionen der anderen Musiker waren absolut negativ.
Aus ästhetischen Gründen oder aus Angst vor dem eigenen Machtverlust?
Die sind ja gar nicht so weit gekommen, sich eine ästhetische Meinung zu bilden. Schließlich saßen die ja nicht einmal in den Konzerten. Aber sie haben gesagt: „Wozu haben wir unsere neuen Instrumente, wenn die jetzt diese alten Dinger nehmen?“ Ihre Meinung war: „Etwas Neues ist immer besser als das Alte, weil es moderner ist.“
Das ist ja eine erlaubte Gegenthese.
Erlaubt schon, aber meiner Meinung nach ist sie falsch. Ich habe schon früh die sogenannte „Knödeltheorie“ entwickelt. Demnach gibt es für jeden Gegenstand eine Zeit, in der er seine maximale Qualität erreicht. Bei den Musikinstrumenten lag dieser Zeitpunkt kurz vor 1500. Ab da konnte man nichts mehr verbessern, nur noch verändern. Mit anderen Worten: Es war nicht möglich, etwas zu verbessern, ohne gleichzeitig etwas zu verschlechtern. Die Entwicklung des abendländischen Orchesters ist eine andauernde Geschichte der Veränderungen. Und am Ende stellt sich immer wieder die Frage, ob der Preis der Veränderung nicht zu hoch gewesen ist. Dass das so ist, haben wir damals bemerkt: Eine Flöte mit sechs Löchern hat einen unglaublich schönen, perfekten Ton. Wenn Sie Zwischentöne und Klappen hinzufügen, können Sie zwar mehr Töne darauf spielen, aber sie verlieren unweigerlich an Klangqualität. Übrigens: „Knödeltheorie“ nenne ich mein System deshalb, weil ich die (um ca. 1500) erreichte Vollkommenheit mit einem Lehmklumpen vergleiche. Wenn man den an einer Stelle vergrößern will, muss man den Lehm von einer anderen Stelle wegnehmen – die Masse bleibt immer gleich.
Eine Theorie, die ja nicht nur in der Musik gilt.
Natürlich nicht, wenn ich heute einen Fotografen frage, warum im 19. Jahrhundert mit den alten Holzkisten so tolle Porträts entstanden sind, antwortet er, dass man nicht einmal mit der besten Pixelkamera solche Bilder aufnehmen kann. Und das sehen Sie ja auch heute noch: Gute Fotografen folgen auch wieder einer – wie soll ich das nennen – „historischen Aufnahmepraxis“, also „Knödeltheorie“.
Sie haben nicht nur auf alten Instrumenten gespielt, sondern sich auch um die Handschriften der Komponisten gekümmert, was damals ebenfalls keine Selbstverständlichkeit war.
Wir haben unsere Urlaube mehrfach in der Nationalbibliothek in Paris verbracht. Meine Frau hat 1951 ein Stipendium in Paris gehabt und hat Seite um Seite abgeschrieben – Noten von 1500 bis 1550. Wir haben diese Massen an Papier heute noch, und wir haben das auch alles gespielt. Überhaupt haben wir bis 1970 nur aus handgeschriebenen Noten gespielt, selbst die Bachkantaten. Vielen ist das ja gar nicht bewusst: Jede Ausgabe ist nur die Interpretation des Herausgebers. Und das kann man so nicht akzeptieren, wenn man sich mit einem Werk ernsthaft auseinandersetzen will. Wenn ich eine Schubert-Sinfonie aufführe, bekomme ich in den herkömmlichen Editionen nur die Schubert-Bearbeitung von Johannes Brahms. Wenn man in die Autographen von Schubert hineinschaut, sieht man dort in der Handschrift Brahms« wie er sich seinen Schubert vorstellte und in den Druck gab. Wir wussten das, aber stellen Sie sich einmal vor, dass Sie plötzlich vor einem Orchester stehen und sagen: „Meine Herrn, es tut mir leid, aber Sie haben das Jahrzehnte lang falsch gespielt.“
Aber das haben Sie getan.
Natürlich! Ich habe den Direktor des Wiener-Musik-Vereins-Archivs gebeten, die Konzertmeister einzuladen, und wir haben uns gemeinsam die Handschriften angeschaut. Denen stand der Mund offen. Ich glaube nicht, dass ich je ein Werk aufgeführt habe, ohne mich vorher genau mit den Quellen auseinander zu setzen.
Eines der ersten Stücke, die Sie für das „Alte Werk“ aufgenommen haben, war Bachs h‑Moll-Messe. Können Sie ihre Erfahrungen mit diesem Werk einmal schildern?
Ich glaube nicht, dass wir beim ersten Mal schon alles, was wir heute wissen, in unsere Interpretation eingebracht haben. In diesem Fall gab es ein altes Faksimile, das so gut war, dass wir uns die Originalhandschrift nicht mehr anschauen brauchten. Gerade was die h‑Moll-Messe betrifft, haben wir natürlich sehr viel von diesem wunderbaren Druck gelernt. Außerdem gab es auch das Aufführungsmaterial, das Bach nach Dresden geschickt hatte. Davon ließen wir uns ebenfalls Kopien machen. Von allen Stimmen hatten wir eine 1:1 Kopie am Aufnahmeort liegen, so dass jeder Instrumentalist seine Noten nachschauen konnte.
Die Manuskripte lagen in Leipzig, also in der DDR – wie sind Sie dort empfangen worden?
Mich hat begeistert, dass unsere Nachforschungen in der DDR vollkommen unterstützt wurden. Ich war in Leipzig und durfte ohne Handschuhe in den Handschriften stöbern – stellen Sie sich das einmal vor! Wir sind wie Abgesandte aus einer anderen Welt empfangen worden. Na gut, wir haben für unsere Konzerte kein Westgeld bekommen, aber wir durften uns etwas kaufen. Also haben sich alle irgendwelche Pelzmützen oder Schuhe gekauft, die lustigerweise hier in St. Georgen gefertigt wurden. Ich wollte irgendeine Antiquität mit nach Hause nehmen, aber das war nur gegen Devisen möglich. Also hat man mir Bücher angeboten, aber die hatten wir alle schon zu Hause. Als ich nichts gefunden hatte, habe ich das Geld dem Orchester geschenkt.
Für die Musikwissenschaftler der DDR muss es ebenfalls revolutionär gewesen sein, was Sie da getrieben haben.
Ehrlich gesagt, in den Archiven war niemand, dem wir irgend etwas Neues erzählt hätten. Die wussten alle ganz genau Bescheid. Aber wir haben die Dinge realisiert, von denen sie nur geträumt haben, wir haben die Musik gespielt, sie zum Leben erweckt, sie aus dem Archiv auf die Podien geholt. Wenn wir die Bach-Kantaten aufgeführt haben und da „Lituus“ stand, eine Art Horn, mussten wir erst einmal herausfinden, was das überhaupt für ein Instrument war, und in welcher Oktave es zu spielen war.
Teil der sogenannten „historischen Aufführungspraxis“ ist, wie Sie sagen, die Beschäftigung mit der Entstehungszeit. Wo liegen eigentlich für Sie persönlich die Wurzeln dieses Begriffes?
Es gab in Westfalen die Industriellenfamilie Hoesch. Ich erinnere mich daran, dass wir verzweifelt einige Instrumente gesucht haben. Bei einer Orchestertournee in Stuttgart bin ich zum damals bekanntesten deutschen Geigenbauer gegangen und habe gefragt, ob er Instrumente von Jacob Stainer hat – weil dessen Instrumente für unseren Klang ideal waren. Der Geigenbauer hatte eine Bratsche, ein wunderbares Instrument, aber das war für uns unerschwinglich. Wir konnten es nur anschauen, aber nicht kaufen. Der Geigenbauer erzählte uns auch von einer Stainer-Gambe, die Herrn Hoesch gehörte. Etwas später hatte meine Frau einige Konzerte in Holland und machte auf dem Rückweg in Hagen halt, um Herrn Hoesch zu besuchen. Aber der Hausherr wollte sie nicht auf einen Kurzbesuch einlassen. Er hat gesagt: „Ich spreche nicht mit Leuten, die nur mal vorbeischauen. Wenn Sie kommen, kommen Sie für drei Tage.“
Waren Sie Herrn Hoesch damals schon ein Begriff?
Es hat sich herausgestellt, dass er eine Schallplatte mit Haydn-Streichquartetten von uns gehört hatte. Und er wollte uns selbst kennenlernen. Der Besuch meiner Frau und sein Brief hatten sich überschnitten. Im Ersten Weltkrieg war Hoesch als Soldat in der Türkei und hat dort im Zelt ständig Geige gespielt. Er muss sehr schlecht gespielt haben, auf jeden Fall hat seine Mutter ihm irgendwann eine Stradivari gekauft – aber mit der war er auch nicht zufrieden. Dann hat er angefangen, mit historischen Instrumenten herumzuexperimentieren. Und er hat sich ein Netzwerk von Leuten zusammengesucht, die er auf alten Instrumenten spielen ließ. Unter anderen den Solocellisten aus Bremen, August Wenzinger. Ihn hat Hoesch mehr oder weniger gezwungen, Gambe zu lernen. Dem Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Greling, hat er eine alte Geige in die Hand gedrückt und dem Soloflötisten, Herrn Scheck, eine alte Flöte – er wollte unbedingt die „Matthäus-Passion“ aufführen. Dafür hatte er sogar eine eigene Halle in seinem Garten mit zwei Podien gebaut. Aber die Reichskmusikkammer hatte Hoesch das verboten und ihn ausgeschlossen. Später, bei den Kabeler Musiktagen, hat er die Musiker mit Geld dazu gebracht, auf diesen historischen Instrumenten zu spielen. Hoesch hatte zwar nicht sonderlich viel Ahnung, aber jede Menge Begeisterung und Initiative. Wenn ich die Musiker später auf ihn angesprochen habe, taten alle so, als hätten sie die Alte Musik selbst erfunden. Bei der Gründung der Capella Coloniensis hätte er sich über eine Beteiligung oder Präsidentschaft sehr gefreut, waren doch seine Musiker dabei – aber man hatte ihn und seine Initiative ganz schnell vergessen.
Hat er Ihnen die besagte Stainer-Gambe denn dann verkauft?
Nein, Hoesch hätte nie etwas verkauft! Aber ich durfte auf dem Instrument spielen. Da ist er in den Garten verschwunden, hat eine Rose abgeschnitten, sie in das f‑Loch gesteckt und gesagt: „Sie spielen so schön auf dieser Gambe, nehmen sie sie mit.“ Einfach so. Bamm! Und meine Frau hat er einmal gefragt, ob sie es nicht etwas anders spielen will, weil das, was sie getan hat, ihm nicht so gefallen hat – aber sofort hatte er das Gefühl, dass er sie gekränkt hatte …
… und hat ihr die Geige geschenkt?
Nein, er ist zu einer Schatulle gegangen und schenkte ihr einen „Tourte“-Bogen. Davon gibt es nur ungefähr 15 auf der ganzen Welt. Dieser Bogen ist so brillant, dass einige Wiener Philharmoniker ihn kopieren ließen. Und meine Frau hat noch ein bestimmtes Parfum dazu bekommen. Außerdem hat Hoesch sie zum Frisör geschickt.
War es auch Hoesch, der von „historischer Aufführungspraxis“ geredet hat?
Nein, ihm ging es eher um die Instrumente an sich, weniger um die Philosophie dahinter. Und ich selbst benutze den Begriff ja auch nicht, ich spreche eher von „Klangrede“. Aber auch dieses Wort habe ich nicht selbst erfunden. Ich finde es nur passend, weil es das Sprachliche in der Musik betont. Ziemlich schnell tauchte dann der Begriff „authentisch“ auf. Ich habe sofort gesagt, dass er nicht benutzt werden sollte, da es uns ja nie um die authentische Rekonstruktion des alten Klanges ging, sondern immer um seine Übersetzung in das Heute. Trotzdem haben Veranstalter und Plattenfirmen das Unwort „authentisch“ benutzt und es damit hoffähig gemacht – da konnten wir gar nichts gegen unternehmen.
Bis heute wird die „historische Aufführungspraxis“ ja mit historistischer Aufführungspraxis verwechselt. Dabei weiß jeder Historiker, dass Friedrich der Große in unterschiedlichen Epochen anders gesehen wurde, dass die Beschäftigung der Geschichte immer ein Abbild der Gegenwart ist.
Natürlich hat jede Generation ihren eigenen Friedrich den Großen – ich habe übrigens eine Flöte von ihm.
Erzählen Sie schon.
In Niederösterreich gab es viele Schlösser und die Besitzer sind zum großen Teil vor den Russen geflohen – geblieben sind die Hausmeister. Unser Babysitter war damals ein russischer Revolver-Weltmeister und Hausmeister eines solchen Schlosses. Außerdem war er mit dem Grafen Szapary befreundet, der zurückgekehrt ist, als die Russen Niederösterreich verlassen hatten. Der Hausmeister hat seinem Dienstherren stolz einige Dinge überreicht, die er vor den Russen gerettet hatte: Porzellanfiguren und solche Sachen. Darunter war auch eine kleine Holzkiste. Es gab in der Familie Szapary die Legende, dass der Ur-Urgroßvater Szapary diese Kiste von Friedrich dem Großen persönlich erhalten habe, nachdem er ihn als General der österreichischen Armee besiegt hatte. Darauf sagte ich zu dem Hausmeister: „Dann muss da eine Flöte drin sein, denn Friedrich hatte auf all seinen Feldzügen Flöten dabei.“ Er hat geantwortet: „Ach, wenn das so ist, dann hat der Graf Szapary sicherlich kein Interesse daran.“ Eine Woche später kommt er wieder, mit dieser Holzkiste unter dem Arm und sagte: „Da hast Du sie.“ Ich öffnete das Kästchen, und tatsächlich lag eine Flöte mit sieben Zwischenstücken von Friedrichs Flötenmacher Grenser aus Dresden darin. Niemand hatte sie je in der Hand gehabt, denn die Oberseite war heller als die Unterseite. Die Familienlegende stimmte also. Sie können diese Flöte übrigens auf allen Aufnahmen des „Alten Werks“ zwischen 1957 und 1987 hören.
Das ist eine wunderbare Geschichte. Aber lassen Sie uns noch einmal zurück kommen auf die Geschichte der sogenannten „historischen Aufführungspraxis“…
Ich glaube, wir waren sehr offen, was das Musizieren betraf. Ich habe allerdings festgestellt, dass schon die zweite Generation dogmatischer wurde. Plötzlich wurden aus den Erkenntnissen der Forschung Regeln aufgestellt, die alle Musiker zu erfüllen hatten. Dabei ist es in der Musik wie überall anders auch: Die zweite Generation liest schon nicht mehr so viele Quellen wie die erste. Es ist ein ganz normaler Vorgang, dass sie sich eher darauf konzentriert, die Erkenntnisse neu zu interpretieren. Dabei wäre es gar nicht wichtig, die Regeln dogmatisch zu erfüllen, sondern zu verstehen, was sie bedeuten. Die alleinige Erfüllung der Regeln kann nämlich auch dazu führen, dass man eigentlich alles falsch macht. Was ist denn eine „historische Wahrheit“ überhaupt? Ich glaube, dass ein guter Historiker immer auch ein guter Geschichtenerzähler sein muss. Und dieses Wissen habe ich von Egon Fridell, dessen Verständnis von Geschichte ich absolut teile. In diesem Sinne wäre die „historische Aufführungspraxis“ als Terminus auch nur unter der Voraussetzung denkbar, dass das „historische“ als offener Begriff verstanden wird. Da kommt auch wieder meine Ureigenschaft des Zweifels zum ‑Tragen. Ich glaube nicht, dass man reale Geschichte erfahren kann. Man erfährt nur, was man darin sieht.
Aber kann es nicht sein, dass Sie selbst früher auch wesentlich dogmatischer waren als heute?
Wir waren schon der Meinung, dass das, was wir gesagt haben nur dem einen Zwecke diente, die Alte Musik in das 20. oder 21. Jahrhundert zu holen. Aber natürlich ist die Gefahr groß, dass aus Erkenntnissen Dogmen werden – sehr groß sogar.
In den 70er und 80er Jahren spitzte sich der Streit um die „historische Aufführungspraxis“ zu und wurde derart vehement geführt, dass man sich das heute kaum noch vorstellen kann.
Ich kann mir das inzwischen sehr gut vorstellen. Diese Streitereien entstehen immer dann, wenn jemand etwas entdeckt und die Entdeckerfreude größer ist als der künstlerische Gewinn. Ich kam ja selbst immer wieder in die Bredouille, dass ich dauernd gefragt wurde, ob ich diesen oder jenen Musiker als legitimen Nachfolger sehe. Lassen Sie mich dazu eine Geschichte erzählen: Es gab in Holland einen Lautenkongress, zu dem ich eingeladen wurde. Da waren alle namhaften Lautenisten der Welt. Ich bin erst am fünften Tag angereist, und da waren bereits alle untereinander zerstritten. Und zwar über die Frage, wo man den kleinen Finger der rechten Hand aufstützt. Man kann auf alten Bildern sehen, dass der Finger am Resonanzboden der Laute aufgestützt wird – die einen haben gesagt, dass er am Steg des Klangbodens aufgestützt werden muss, die anderen fanden, dass man ihn zwei Zenitmeter weiter links aufstützen sollte. Und so haben diese beiden Gruppen sich bis aufs Messer bekämpft.
Die kleinsten Spitzfindigkeiten scheinen bereits für große Verunsicherung zu sorgen.
Manchmal geht es aber auch um wesentliche Dinge. Meine Frau und ich waren einige Sommer in Bremen bei einem Workshop für Alte Musik. Dort wurde irgendwann behauptet, dass man die Geige nicht mit dem Kinn, sondern allein mit der linken Hand halten sollte. Wenn das stimmt, würde sich die Spielweise natürlich massiv verändern. Die Vertreter dieser These haben sich auf Bilder berufen, auf denen Geiger abgebildet wurden. Tatsächlich haben bald schon 60 Prozent der Musiker so gespielt. Ich habe dann eine Quelle von ca. 1670 von einem wichtigen Geigenlehrer gefunden, der geschrieben hat, dass man das Kinn fest auf die Geige pressen soll, damit man mit der Hand besser „auf- und abrutschen“ kann. Da wurde mir gesagt, dass diese Quelle keine Bedeutung habe. Dieser Einwand wäre ja noch gar nicht schlimm gewesen, aber plötzlich fingen diese Leute an, allen, die anders gespielt haben, zu sagen, dass sie falsch spielen würden. Für mich ist das wie der kleine Finger auf der Laute: Man sieht etwas auf Bildern und nimmt es als gegeben.
Aber Bilder sind doch auch eine gültige historische Quelle.
Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich mit meinem Cello fotografiert wurde, da sollte ich mich derart verrenken, dass ich nie hätte spielen können. Aber es sah sehr gut aus. Wenn ich heute ein Bild von Leopold Mozart sehe, glaube ich, dass das früher nicht anders war. Es ging dem Porträtisten nicht darum, die geigerische Haltung zu dokumentieren, sondern ein spannungsvolles Bild zu malen.
Es gibt Kollegen von Ihnen, die noch immer mit dem gebets-mühlenartigen Spruch „Kein Vibrato! Kein Vibrato!“ herumziehen.
Das ist doch absoluter Quatsch! Das Vibrato ist so alt wie die Geige – ja, wie die Musik selbst. Es gibt sogar Gedichte über das Vibrato aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Und bei jeder Orgel gibt es ein Register „Vox Humana“, das ein Vibrato von vier Bewegungen pro Sekunde hat. Jede Instrumentenbeschreibung besagt die größtmögliche Annäherung an die menschliche Stimme, und in der ist ein Virbrato natürlich angelegt. Die Frage des Dauervibratos wird immer aktuell bleiben, aber dass man bestimmte Teile auch früher schon mit Vibrato gespielt hat, davon bin ich überzeugt. Auch wenn man weder das eine noch das andere beweisen kann. Grundsätzlich glaube ich, dass man alle Ausdrucksmöglichkeiten nutzen muss – und da spielt es nur eine sekundäre Rolle, ob das früher auch so war oder nicht.
Die Grabenkämpfe sind inzwischen stiller geworden, heute, 50 Jahre nach der ersten Einspielung des „Alten Werks“ ist das historische Musizieren selbst in großen Orchestern ganz normal geworden. Haben Sie sich diesen Siegeszug früher vorstellen können?
Nein, und es gab ja auch keine Anzeichen dafür – wir galten schließlich alle nur als Spinner. Heute gibt es aber wieder Dogmatiker, die sagen, dass Orchestermusiker lieber nicht auf alten Instrumenten spielen sollten, weil sie das nicht können. Ich persönlich halte nichts von Spezialisten. Die Musiker des Concentus spielen sowohl alte als auch moderne Musik. Man will schließlich ein Mensch seiner Zeit bleiben – auch als Künstler.
Alles, was der Gegenwärtigkeit des Alten dient, ist also gut?
Ich würde sagen: Alles, was der bestmöglichen Interpretation im Heute dient.
Sie selbst sind inzwischen zu einer Legende geworden…
Oder zu einem alten Trottel – je, wie man es sieht.
Was interessiert den Trottel heute besonders?
Ich mache einfach weiter – es gibt nichts, was ich nicht in Frage stelle, auch meine eigenen Theorien nicht. Für mich ist jedes Konzert wie eine Uraufführung, egal, ob ich das Stück schon gespielt habe oder nicht. Vor drei Wochen habe ich Beethovens fünfte Sinfonie gemacht, und eine Woche vor Beginn der Proben ist mir plötzlich ein ganz neues Konzept für dieses Werk eingefallen. Ich habe es mit dem Chamber Orchestra of Europe aufgeführt, und mit ihm habe ich die „Fünfte“ schon einige Male gespielt. Die Musiker waren vollkommen perplex, dass nun beim gleichen Dirigenten alles ganz anders klingen sollte. Aber letztlich sind es diese neugedachten Ansätze, die die Lebendigkeit der Musik beweisen.
Wann kommen Ihnen denn diese neuen Konzepte?
Ich kenne die Noten natürlich, arbeite immer wieder an ihnen, aber die eigentlichen konzeptionellen Einfälle kommen oft in der Nacht. Dann wache ich plötzlich auf, habe eine Idee, und am nächsten Morgen überprüfe ich den nächtlichen Wahn – und es ist erstaunlich, dass sich manchmal alle Teile zu einem Neuen fügen. In Beethovens „Fünfter“ bricht normalerweise nach dem letzten Ton sofort der Applaus aus, das ist so im Stück angelegt. Doch nun war es so, dass die Leute total konsterniert waren und es einige Zeit brauchte, bis sie reagieren konnten. Spätestens da wusste ich: So falsch kann meine Idee nicht gewesen sein.
Finden Sie, dass ihr eigener Klang in den Jahren gewachsen ist?
Es ist vielleicht nicht nur ein Wachsen, sondern eher ein Ändern, so wie sich ein Mensch ändert. Wenn ich die alten Aufnahmen von mir anhöre, bin ich bei manchen überrascht, wie nahe sie noch bei mir sind, bei anderen fühle ich mich beim Hören selbst fremd. Aber ich glaube, dass auf allen Aufnahmen ein bestimmter Klang zu hören ist, eine für mich typische Idee, dass es nichts Banales gibt.
Sie haben mit dem Concentus Musicus ja nicht nur die Alte Musik belebt, sondern auch die Orchesterpolitik. Heute eifern viele Dirigenten Ihrem Vorbild nach und gründen eigene, kleine Orchester wie das Mahler Chamber Orchestra von Claudio Abaddo oder das West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim. Haben Sie die großen philharmonischen Tanker satt?
Das hat, glaube ich, mit Alt und Jung zu tun. Abaddo hat viele Orchester gegründet, und er suchte immer junge Musiker. Das ist eine sehr interessante und reizvolle Sache mit hungrigen Musikern zu spielen, wenn jeder um sein Leben geigt. In diesen großen Orchestern gibt es viele Individuen, die diesen Trend längst erkannt haben. Und wenn ich im Concertgebouw, bei den Wiener- oder den Berliner Philharmonikern bin, spürt man, wie wichtig es ihnen geworden ist, dass man nicht nachlässt und nur das Althergebrachte bestätigt. Diese Ensembles sind sich schon bewusst, dass auch ihnen das Musizieren mehr Spaß macht, wenn da jemand kommt, der etwas will. Auf der anderen Seite hat ein Orchestermusiker die Pflicht, Teil des Orchesters zu sein. Ich habe grundsätzlich eine unglaubliche Hochachtung vor dem Prinzip Orchester. Da spielt jemand mit 40 unterschiedlichen Dirigenten im Jahr, 35 davon findet er miserabel. Als er mit 23 Jahren ins Orchester kam, hat er mit Idealismus begonnen, und dann wurde ihm dieser Idealismus von Woche zu Woche, von Monat zu Monat genommen. Von dieser Begeisterung etwas zu retten und auf die Dirigenten zu warten, bei denen man sagt, „Jetzt weiß ich wieder, warum ich Musiker geworden bin!“, das ist schwer. Irgendwann kommen die meisten an einen Punkt, an dem sie sich sagen: „Der da vorne muss zufrieden sein, wenn ich spiele, was er sagt.“ Ich kenne das ja aus meinem eigenen Leben: Ich bin manchmal nur mit meinem Kadaver ins Orchester gekommen und habe den Geist erst zu Hause wieder angezogen. Ich bewundere jeden Musiker, der seine Urbegeisterung immer wieder mobilisieren kann, selbst wenn er denkt: „Der Harnoncourt ist ein Idiot, jetzt kommt der schon wieder.“
Das Gespräch führte Axel Brüggemann
"Historische Aufführungspraxis", auch "historisch informierte Aufführungspraxis", nennt man die Bemühung, die Musik vergangener Epochen mit authentischem Instrumentarium, historischer Spieltechnik und im Wissen um die künstlerischen Gestaltungsmittel der jeweiligen Zeit wiederzugeben.