Philip Glass, Conlon Nancarrow u.a.
Letzte Grenze Zeit
von Ruth Renée Reif
8. September 2019
Wie die Elektrizität ins Klavier einzog und eine neue Klangwelt eröffnete
Drei Streicher, drei Bläser, Marimba und Elektropiano – das war die originale Besetzung von Terry Rileys In C. Uraufgeführt 1964 in San Francisco, wurde das Werk zur Initialzündung des musikalischen Minimalismus. Musiker wie Jon Gibson, Pauline Oliveros, Morton Subotnick und Steve Reich wirkten an der Aufführung mit. Riley hatte 53 Klangmodule in C‑Dur komponiert, die von den Musikern nacheinander gespielt werden sollten. Der Zeitpunkt, wann ein Spieler von einem zum nächsten Modul wechselte, blieb freigestellt. Eine immer wieder angeschlagene Klaviertaste zog sich als Puls durch die gesamte Aufführung und diente den Spielern als metrische Orientierung. Riley schuf damit ein neues meditatives Musikverständnis. Und E‑Piano, Keyboard und Synthesizer gaben der musikalischen Strömung ihre Farbe.
Was wäre Koyaanisqatsi ohne die der Orgel nachempfundenen, obertonreichen, stetig vorwärtstreibenden Keyboard-Klänge? Philip Glass komponierte 1982 den Soundtrack zu Godfrey Reggios großartigem Filmkunstwerk und spielte ihn mit seinem Ensemble ein. Zum Instrumentarium der 1968 ins Leben gerufenen Formation gehörten von Anfang an mehrere Keyboards, gespielt u.a. von Michael Riesman, dem Leiter des Ensembles, und Philip Glass. Die entscheidende Inspiration für seine musikalische Entwicklung hatte Glass Anfang der 1960er-Jahre durch die Begegnung mit dem Sitar-Spieler Ravi Shankar in Paris erhalten. Aus der Beschäftigung mit der klassischen indischen Musik lernte er, musikalische Strukturen aus rhythmischen Zyklen zu gewinnen und erfuhr die meditative Versenkung in den Klang. Mit Two Pages for Keyboards erprobte er 1968 einen Ablauf mit der Wiederholung einzelner Tonfolgen, denen Töne hinzugefügt oder abgezogen wurden. Im Jahr darauf entstand Music in Contrary Motion, bestehend aus zwei fließenden Gegenbewegungen und geschrieben für das mit Keyboards besetzte Philip Glass Ensemble. Wie Glass in einem Interview betonte, sei es ihm beim Einsatz von Keyboards und später auch Synthesizern nicht darum gegangen, das akustische Klavier zu ersetzen, sondern um die Schaffung eines besonderen Klangs. So wie das Klavier nicht das Cembalo ersetzt habe, so ersetze auch der Synthesizer nicht das Klavier. Es seien einfach verschiedene Instrumente, die die Wahlmöglichkeiten der Komponisten erweiterten.
Eine Besonderheit an sich stellt der Komponist Conlon Nancarrow dar. In seinem mexikanischen Exil, in das ihn der McCarthyismus getrieben hatte, komponierte er 40 Jahre lang ausschließlich für Elektrisches Klavier. Er war überzeugt, dass die Zeit die letzte Grenze der Musik sei und dass er seine Vorstellungen von schnellen Tempi, vielschichtigen Metren, Tonhäufungen, Trillern, weiten Sprüngen und Glissandi durch einen menschlichen Spieler nicht verwirklichen könne. Also stanzte er Papierrollen. Mit seiner neuartigen Polyphonie verschiedener simultaner Tempi gelang es ihm, in seinen rund 50 Studies for Player Piano das Tempo als strukturbildendes Element einzusetzen. John Cage entdeckte 1960 seine Musik. György Ligeti pries ihn 1981 als „die größte Entdeckung seit Webern und Ives“. 1997, im Jahr seines Todes, erfolgte im Rahmen der MusikTriennale Köln erstmals die Aufführung seines Gesamtwerks für Player Piano.
Langfristig etablieren konnte sich allerdings erst der Synthesizer. Tristan Murail etwa, dessen Ziel es war, die elektronischen und die instrumentalen Klänge miteinander zu verflechten, experimentierte neben den Ondes Martenot, jenem elektronischen Tasteninstrument, das bereits sein Lehrer Olivier Messiaen verwendet hatte, auch mit Keyboards. Ende der 1970er-Jahre aber konzentrierte er sich auf den Yamaha DX7-Synthesizer. So verschwanden E‑Piano und Keyboard aus dem klassischen Konzertbetrieb. Nur vereinzelt tauchen sie auf, wenn es darum geht, einen überraschenden Klang zu kreieren. Moritz Eggert zum Beispiel, der von seinem Lehrer Wilhelm Killmayer eine Vorliebe für das Bizarre übernahm, bringt das Keyboard in seinen Kompositionen zum Einsatz. So findet es sich in seinem Fußballoratorium Die Tiefe des Raumes und ebenso in seinem Vokalwerk Mein Traum ist länger als die Nacht.