Rachel Willis-Sørensen

Locker im Kehl­kopf und Nerven wie Draht­seile

von Klaus Kalchschmid

28. Mai 2022

Magische Anziehungskraft, messerscharfe Artikulation und Koloratursicherheit bis in höchste Höhen: die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen.

Sie weiß, dass sie sterben wird, dass Otello sie nur ins Bett geschickt hat mit dem Hinweis nach­zu­kommen, weil er vorher über­legt hat, wo und wie er sie töten wird. Desde­mona liegt in Amélie Nier­meyers Insze­nie­rung an der Baye­ri­schen Staats­oper in einem ebenso weißen wie kalten, aber geschützten Raum (Bühne: Chris­tian Schmidt) ange­zogen auf ihrem Bett in Erwar­tung des Unheils, während Otello in seinem iden­tisch schwarzen Saal auf dem Bett liegt, in seinem männ­lich-öffent­li­chen Raum, der den weib­li­chen umschließt. Es folgt eine lange halbe Stunde des Abschieds, in der Desde­mona die Bühne nicht mehr verlässt, oder hier am Ende wie gekreu­zigt am Boden liegend mit ihrem Zimmer Rich­tung Hinter­bühne verschwindet.

singt mit dem Orchestra del Teatro Carlo Felice di Genova unter Frédéric Chaslin „Piangea cantando nell’erma landa“ aus Giuseppe Verdis Oper Otello

Das todtrau­rige Lied von der Weide, ihr Ave Maria; der verzwei­felte Abschied von der Amme, die die Todbe­reite nicht mehr loslassen will; der hier fast liebe­volle Abschied Otellos, der die aufrecht Stehende und keines­wegs Schla­fende auf die Stirn, die beiden Wangen und den Mund küsst: All das ist langes Vorspiel zum Mord eines Mannes, den die Eifer­sucht nicht nur um den Verstand gebracht hat. Rachel Willis-Sørensen ist zwar für einge­sprungen und frem­delt manchmal in der Insze­nie­rung, doch in dieser halben Stunde ist sie ganz bei sich und der Musik Verdis, durch­lässig für das Drama wie für jeden einzelnen Ton.

Da erin­nert man sich wieder intensiv an das schöne, intime Gespräch schräg gegen­über der Staats­oper, mittags zwischen zwei Proben zu Benjamin Brit­tens Peter Grimes in einer lauschigen Ecke der „Kulisse“, dem Theater-Café und ‑Restau­rant der Münchner Kammer­spiele an der Maxi­mi­li­an­straße. Schon nach wenigen Minuten will man Rachel Willis-Sørensen fast warnen – „Vorsicht: fremder Jour­na­list!“ –, so offen­herzig erzählt die Ameri­ka­nerin, so schnell sind wir bei den großen Themen des Lebens, aber auch bei der damals aktu­ellen Partie, der weib­li­chen Haupt­rolle und der größten neben dem Fischer Peter Grimes: „Das ist ein Stück zwischen Broadway und Oper, aber unglaub­lich kompli­ziert“, verrät sie, doch auf der Bühne sieht man davon nichts. Da ist sie buch­stäb­lich der Fels in der Bran­dung, Schutz­engel für die vom Einzel­gänger Peter für die schwere Arbeit auf See miss­brauchten Jungs, von denen zwei unter nicht geklärten Umständen ums Leben kommen. Auch hier gibt es wieder einen magi­schen Raum, einen Gemein­de­saal, der sich verengt und erwei­tert. Mitten­drin als mögli­cher Garant, dass doch nicht alles tragisch enden muss: die Lehrerin Ellen Orford. Doch gegen die bigotte Dorf­ge­mein­schaft und den Stur­kopf Peter hat auch sie keine Chance. Wenn Peters Freund Balstrode ihm am Ende nahe­legt, aufs Meer zu fahren und nicht mehr wieder­zu­kommen, schreit Rachel alias Ellen schon bei „Sail out …“ auf: „No!“ Und nicht erst – wie in der Partitur vorge­sehen – nach „Sink the boat!“ Das sind die Momente in der Oper, die sich einbrennen und die man auch nach Jahren nicht vergisst.

Rachel Willis-Sørensen

»Ich lebe für die Span­nung und Begeis­te­rung des Publi­kums.«

Im September 2022 gibt es ein Wieder­sehen an der Baye­ri­schen Staats­oper mit Willis-Sørensen als Ellen Orford, diesmal mit als Peter. Er war auch ihr Partner bei einem beson­deren Projekt, für das man „Corona sei Dank!“ ausrufen möchte, denn ohne Pandemie hätte es diese La Bohème, nicht gegeben: In der Zeit, als kein Publikum das Natio­nal­theater betreten durfte, wurde eben im leeren Natio­nal­theater gespielt, gesungen und musi­ziert, die erste Vorstel­lung aufge­zeichnet, die zweite live gestreamt: Was war sie da für eine anrüh­rende Mimì an der Seite von Jonas Kauf­mann als Dichter Rodolfo! Er hatte im Juli 2021 dann auch Zeit, das große Duett mit ihr für die Debüt-CD einzu­spielen wie sie umge­kehrt bei seinem „Wien“-Album dabei war.

Auf die Pandemie ange­spro­chen, wird sie beim Gespräch ganz leise und verhalten: „Ich lebe für die Span­nung und Begeis­te­rung des Publi­kums. Psychisch war das sehr schwer für mich. Die Welt hat gelitten, und auch finan­ziell war das natür­lich schwierig – ich habe viel­leicht gerade 20 Prozent meines Einkom­mens gehabt. Doch dann habe ich ange­fangen, digital Gesangs­un­ter­richt zu geben, und ich konnte viele inter­es­sante junge Stimmen kennen­lernen. Leider haben das viele nicht so richtig ernst genommen und oft in letzter Minute abge­sagt.“

Rachel Willis-Sørensen

»Die beste Stimme, mit der jemand singen kann, ist die eigene.«

Die Desde­mona ist ihre dritte Verdi-Partie an der Baye­ri­schen Staats­oper, noch vor der Traviata im April 2023 und nach einer abso­luten Rarität, die 2018 ihre Feuer­taufe am Natio­nal­theater war: Inner­halb von einer Woche musste sie die weib­liche Haupt­rolle in Verdis selten gespielter Les vêpres sici­li­ennes einstu­dieren. Erst gab es da kurz ein Miss­ver­ständnis, als ihr Agent anrief: „Oh Gott, auf Fran­zö­sisch, ein Rollen­debüt inner­halb von einer Woche – und das in Paris!“ Als dann klar war, dass es hier in sein würde, war die Aufre­gung nicht weniger groß – „, der erste Verdi, das erste Mal Fran­zö­sisch!“ –, aber Sänge­rinnen brau­chen neben höchster Sensi­bi­lität ja ohnehin immer Nerven wie Draht­seile. Und die hatte sie – alles ging gut, obwohl mitten in der Première Bryan Hymel die Stimme verlor, abging und Minuten später ein anderer auftrat und mit ihr sang, der junge Leonardo Caimi. Er hatte die rare Partie glück­li­cher­weise grade in Frank­furt gesungen und war als Cover vor Ort. Heute lacht Willis-Sørensen über den Schock ihr schönes, entwaff­nendes, gehalt­volles Lachen, das so klingt wie ihre Gesang­stimme: strah­lend, mit wunder­barer Mittel­lage und fast zu schön. Renée Fleming hat zu ihren Glanz­zeiten ähnlich geklungen. Und wie schrieb Jan Brach­mann in der FAZ, Willis-Sørensen sänge „so fein auszi­se­liert, mit mühe­loser, druck­freier Höhe und blitz­sauberen Tril­lern, als wäre sie in einer Oper von Mozart.“

Daran muss man denken, wenn man auf Platte die beiden großen Arien der Donna Anna hört und wie sie davon erzählt, dass das eine ihrer ersten Partien war, „die sie gefühlt neun Milli­arden Arbeits­stunden gekostet“ hat, „um endlich an einen Punkt zu kommen, an dem ich nicht ihret­wegen das Singen aufgeben wollte.“ Heute sorgt sie dafür, dass viel­ver­spre­chende Sänge­rinnen dieses Ziel schneller errei­chen: „Ich habe große Liebe für meine Mitmen­schen, und wenn ich Gesang unter­richte, habe ich das Gefühl, ich kann jemanden unter­stützen und ihm beibringen, dass die beste Stimme, mit der jemand singen kann, die eigene ist! Das Entschei­dende ist, Verspan­nungen loszu­werden. Wir müssen locker im Kehl­kopf werden, dass die Stimme zu sich selbst kommt.“

Rachel Willis-Søren­sens Porträt-CD beginnt mit Verdis La traviata, es folgt eine kleine Kost­probe aus Les vêpres sici­li­ennes, dann Otello, La Bohème und Leonora in Verdis Il Trova­tore (Première: 2. Juni 2023 an der Zürcher Oper). Fehlt eigent­lich nur die Elisa­betta im Don Carlos (November in Chicago) und die Strauss’sche Arabella (März/​April an der Deut­schen Oper Berlin). Aber wer mag, kann die bezau­bernde Zugabe des Vilja-Lieds aus der Lustigen Witwe von Franz Léhar als Vorge­schmack darauf nehmen oder als Remi­nis­zenz an Operette mit Jonas Kauf­mann.

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Mehr Info zu den Aufführungen von Giuseppe Verdis Otello mit Rachel Willis-Sørensen als Desdemona am 30. Mai und 2. Juni 2022 an der Bayerischen Staatsoper unter www.staatsoper.de

Fotos: Sandra Ludewig