Robert Wilson

Rätsel­haft

von Ruth Renée Reif

9. Juni 2020

Fern der Realität! Robert Wilson inszenierte Giacomo Puccinis letzte Oper „Turandot“ am Teatro Real in Madrid als magisches Ritual aus Farben, Formen und Licht.

In tiefes Dunkelrot gehüllt und hoch über der Szene erscheint die chine­si­sche Prin­zessin Turandot. Sie befiehlt den Tod des persi­schen Prinzen, der ihre Rätsel nicht lösen konnte. Es ist ein Bild magi­scher Leucht­kraft.

Robert Wilson setzte 2018 am Teatro Real in Madrid Puccinis letzte Oper Turandot in Szene. Es war seine zweite Ausein­an­der­set­zung mit Puccini, nachdem er 1993 in Paris Madame Butterfly auf die Bühne gebracht hatte. Seine Insze­nie­rung, die jetzt auf DVD und Blu-ray Disc vorliegt, ist eine Kopro­duk­tion des Teatro Real mit der Cana­dian Opera Company aus Toronto und dem Natio­nal­theater in Litauen.

Wilson schafft eine bild­ne­ri­sche Wirk­lich­keit, fern der Realität, die gerade aus dieser Ferne einen unge­ahnten Zugang zur Wirk­lich­keit öffnet und diese aus einem neuen Blick­winkel zeigt. Seine Arbeiten lassen das Rätsel­hafte, Unbe­grif­fene und Hinter­grün­dige des Seins ahnbar werden. Mit ihrer traum­ähn­li­chen, redu­zierten und stili­sierten Gestik rühren sie an Regionen des Unbe­wussten. Das verleiht Wilsons Bilder­theater, in dem Farben, Formen und Licht symbio­tisch zusam­men­wirken, eine über­wäl­ti­gende Faszi­na­tion.

Zu den Einflüssen, die Wilsons Arbeit prägten, gehört Merce Cunning­hams Post­mo­dern Dance: „Was man sah, und was man hörte, konkur­rierte nicht mitein­ander, sondern verstärkte sich gegen­seitig. In der Zusam­men­ar­beit von Cunningham und Cage illus­triert die Partitur nicht die Bewe­gung.“ Der Ablauf einer Insze­nie­rung ist bei Wilson bis ins Detail geplant und voll­zieht sich wie ein Ritual in einer Linie von Anfang bis Ende. Zahl­reiche Mitar­beiter sind daran betei­ligt.

Am Anfang steht die struk­tu­relle Analyse. Auf dieser Grund­lage entwi­ckelt er den drama­tur­gi­schen Aufbau sowie den zeit­li­chen Ablauf, in deren Rahmen er die visu­elle Struktur fest­legt. , der das Orchester des Teatro Real leitet, ist ein konge­nialer Partner für diese Vorge­hens­weise. Denn er arbeitet mit eben­sol­cher Präzi­sion detail­ge­treu die musi­ka­li­schen Nuancen und Akzente aus der Partitur heraus.

Raúl Giménez als Altoum und Iréne Theorin als Turandot
Kaiser Altoum und Turandot erscheinen, um Kalaf die Fragen zu stellen: Raúl Giménez als Altoum und Iréne Theorin als Turandot
(Foto: Video­aus­schnitt)

Ein spek­ta­ku­läres Bild prägt den zweiten Akt, wenn Raúl Giménez als Kaiser von China Altoum in einer Schaukel vom Himmel herab­steigt und Turandot aus der Menschen­menge auftaucht. Iréne Theorin singt die Partie der Turandot mit ihrem groß­ar­tigen Wagner-Sopran. Sie folgt der Tradi­tion von Birgit Nilsson, die als Wagner-Heroin in ihrer Zeit zur berühm­testen Vertre­terin dieser Rolle wurde. Auch in der Höhe kann Theorin sich mit ihrer Stimme über Chor und Orchester erheben.

Die Sklavin Liù wird von Yolanda Auyanet verkör­pert, und Kalafs Vater Timur ist Andrea Mastroni. Die drei Minister Ping, Pang, Pong, die der Commedia dell’ entlehnt sind und auch bei Wilson mehr Bewe­gungs­frei­heit erhalten, werden von Joan Martín-Royo, Vicenç Esteve und Juan Antonio Sanabria gespielt.

Gregory Kunde als Kalaf
Niemand schlafe, und es erklingt die berühmte Arie: Gregory Kunde als Kalaf
(Foto: Video­aus­schnitt)

Im dritten Akt singt Gregory Kunde als Kalaf vor einem großen Geflecht tech­nisch bril­lant und wunder­schön die berühmte Arie Nessun dorma. Als Turandot am Ende den Namen des fremden Prinzen nennt, wird die Szene in rotes Licht getaucht und ein weißes Band spaltet die Bühne. Wilson wählte für seine Insze­nie­rung, die von Franco Alfani voll­endete Fassung mit Tosca­ninis Stri­chen. In seinem Ende lässt er das Publikum mit unge­lösten Rätseln zurück.