Rolando Villazón

„Kunst ist essen­ziell!“

von Maria Goeth

6. Dezember 2020

Rolando Villazón begeistert nicht nur als Sänger, sondern auch als Moderator, Schriftsteller, Cartoonist und Intendant der Mozartwoche Salzburg. Ein Gespräch über Heimat, die Suche nach Identität und Totenschädel aus Zucker.

CRESCENDO: Sombrero, Tequila, Nachos – das verbinden die meisten Deut­schen mit . Wie würden Sie den echten Kern Ihrer Heimat­kultur beschreiben?

: Sombrero, Tequila und Nachos sind tatsäch­lich eine Seite der mexi­ka­ni­schen Kultur – viel­leicht eine ober­fläch­liche, aber keine schlechte. Ich mag sie, weil sie über Freude spricht. Tief in unserer Kultur steckt die Zeit vor der spani­schen Kolo­nia­li­sie­rung: die Azteken, die Olmeken, die Tolteken und so weiter, reiche prähis­to­ri­sche Hoch­kul­turen ähnlich den alten Ägyp­tern, die sich dann mit den Spaniern mischten. Wichtig ist, dass die Spanier nicht einfach alles ausra­diert haben. Das war in Brasi­lien unter den Portu­giesen anders. Mexiko ist aus dem Schock des Zusam­men­pralls der prähis­to­ri­schen Hoch­kul­turen mit den Spaniern geboren!

Rolando Villazón singt, begleitet von , die tradi­tio­nelle südame­ri­ka­ni­sche Weise La Llorona. Die Figur der Weinenden wird als Vorbotin des Todes ange­sehen. Ihr Mythos erzählt von Rach­sucht und Verzweif­lung.

Prägt der Kampf um die eigene Iden­tität Mexiko bis heute?

Wir sind Nach­barn eines Landes, das heißt, und unglaub­liche Macht hat. Wir wurden zwar von den Spaniern erobert, aber kultu­rell haben die USA die ganze Welt erobert – Holly­wood, Netflix, McDonald’s und Star­bucks. Ob Kultur, Sport oder Werbung, die USA sind Modell und Struk­tur­geber. Auf der Suche nach der eigenen Iden­tität gibt es Mexi­kaner, die alles wie die USA machen wollen und welche, die gegen diesen Einfluss kämpfen und versu­chen zu ihren Wurzeln zurück­zu­kehren. Aber was sind diese Wurzeln? Wenn man sagt, die Spanier hätten uns erobert, stimmt das nicht, wir sind bereits die Konse­quenz dieser Mischung. Der Name „Villazón“ kommt zum Beispiel aus Astu­rien. Es gibt ein wunder­schönes Buch unseres einzigen Nobel­preis­träger Octavio Paz, Das Laby­rinth der Einsam­keit, das diese Iden­ti­täts­suche beschreibt.

Kompen­siert man das über Natio­na­lismus?

Ich glaube nicht an Natio­na­lismus. Es gibt eine große „¡Viva México!“-Bewegung, das finde ich gefähr­lich. Es ist Zufall, wo wir geboren sind! Es kann ein wunder­barer Zufall sein – wie für mich! –, aber es ist nichts, das wir entscheiden. In Europa zu leben – ich lebe ja inzwi­schen in und habe auch einen fran­zö­si­schen Pass –, das war eine Entschei­dung.

Rolando Vaillazón

»Ich liebe es, in Frank­reich zu wohnen. Ich wollte eine Figur aus einer Erzäh­lung von Julio Cortázar sein.«

Was ist für Sie Heimat?

Kunst! Kultur, Musik und meine Familie.

Ist Frank­reich nun auch eine Heimat geworden?

Seit acht Jahren war ich nicht in Mexiko. Ich liebe es, in Frank­reich zu wohnen, liebte schon immer die fran­zö­si­sche Lite­ratur. Die Werke des latein­ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers Julio Cortázar spielen fast alle in Paris, deshalb wollte ich hier leben. Ich wollte eine Buch-Seite, eine Figur aus einer Erzäh­lung von Julio Cortázar sein! Ich liebe aber auch Orte wie , , Menorca, ich adap­tiere mich sehr schnell. Und gleich­zeitig bin ich überall fremd. Inzwi­schen auch in Mexiko.

Sie waren schon als Kind unheim­lich aktiv, haben neben dem Gesang auch getanzt, gezeichnet, geschrieben. Waren Sie in der Schule eher erste Bank oder letzte Reihe?

Letzte Bank! Ich war immer der Klas­sen­clown. Ich war nicht so gut in der Schule. Es war eine deut­sche Schule, deshalb war ich etwas fremd, weil die meisten Schüler deut­sche Eltern hatten. Lustig zu sein, gab mir einen Platz in dieser Gesell­schaft. Ich war immer kultu­rell inter­es­siert, habe unheim­lich viel gelesen, aber ich habe nie die Bücher gelesen, die ich für die Schule lesen sollte.

Stimmt es, dass Sie beim Singen unter der Dusche entdeckt wurden?

Ich habe immer unter der Dusche gesungen. Das hörte eines Tages mein späterer Gesangs­lehrer, der Bariton Arturo Nieto, der ein Freund unserer Nach­barn war. Er war begeis­tert.

Rolando Villazón singt mexikanische Volkslieder, begleitet von Xavier de Maistre auf der Harfe
Xavier de Maistre kompo­nierte die Arran­ge­ments der Harfen­be­glei­tung. Für Rolando Villazón vereint die Harfe das Folk­lo­ris­ti­sche mit der Vornehm­heit der klas­si­schen Musik.

Auf ihrem aktu­ellen Album „Sere­nata “ sind latein­ame­ri­ka­ni­sche Lieder in Arran­ge­ments für Harfe und Gesang zu hören. Wie kam es zur Zusam­men­ar­beit mit dem Harfe­nisten Xavier de Maistre?

2005 sang ich in La Traviata in Salz­burg. Die einzige Stelle für Harfe ist die Sere­nade des Alfredo. Das war damals Xavier de Maistre, der Soloh­ar­fe­nist bei den Wiener Phil­har­mo­ni­kern war. Wir blieben in Kontakt. Als er mich mit dem Vorschlag anrief, latein­ame­ri­ka­ni­sche Lieder mit Harfe einzu­spielen, sagte ich sofort ja. Bei latein­ame­ri­ka­ni­schen Liedern denkt man ja schnell an La Cuca­racha und Co., aber es gibt dieses ganze Reper­toire von Kompo­nisten, die auch mit Mahler und Schu­bert bekannt waren, und die von der Volks­musik beein­flusste, aber anspruchs­volle Werke schrieben – Ginas­tera und Guasta­vino sind die bekann­testen unter ihnen. Ich wollte ein Album mit Liedern aufnehmen, die aus der Liebe zur latein­ame­ri­ka­ni­schen Volks­musik herrühren. Es gibt Kunst­lieder aber auch echte Volks­lieder wie Alfon­sina y el mar und La Ilorona auf dem Album – wichtig war uns, dass man keinen Unter­schied hört.

Rolando Vaillazón

»Wir Latein­ame­ri­kaner haben eine enge, fast eroti­sche Bezie­hung zum Tod. Das kommt vermut­lich noch aus der Zeit vor der spani­schen Kolo­nia­li­sie­rung. Wir tanzen mit dem Tod.«

Passt die Kombi­na­tion aus Harfe und Stimme dafür beson­ders gut?

Ja. Viele der Lieder sind ursprüng­lich für Klavier und Stimme geschrieben, wurden aber inspi­riert durch folk­lo­ris­ti­sche Lieder für Gitarre und Stimme. Harfe hat wenig zu tun mit Gitarre oder dem eher perkussiv geprägten Klavier. Sie ist eine Welt für sich. Wir haben aus einem riesigen Reper­toire gezielt Lieder ausge­sucht, die zu diesem Klang­uni­versum passen. Die Harfe vereint perfekt das Folk­lo­ris­ti­sche der Gitarre mit der Vornehm­heit der klas­si­schen Musik. Sie vereint das Beste aus beiden Welten. Und dann braucht man noch einen Künstler wie Xavier de Maistre: Er versteht die Lied­welt sehr gut, die Stimme, das Timing, das Atmen der Sänger. Und er hat die Origi­nal­be­glei­tungen eins zu eins von den Klavier­stimmen über­nommen. Das liebe ich. Er macht nicht auf Walt Disney, sondern arran­giert mit großem Respekt vor den Werken.

Beschreiben Sie bitte die Stim­mung dieser latein­ame­ri­ka­ni­schen Lieder!

Eine Mischung aus Freude, Melan­cholie und der verbun­denen Präsenz von Liebe und Tod. Wir Latein­ame­ri­kaner haben eine sehr enge, fasst eroti­sche Bezie­hung zum Tod. Das kommt vermut­lich noch aus der Zeit vor der spani­schen Kolo­nia­li­sie­rung. Stärker als die Angst haben wir eine Art Bewun­de­rung für den Tod. Die Spanier versuchten, Gott und Christus zu bringen, aber neben den Kirchen gab es immer noch die Mytho­logie der Azteken, Inkas und Mayas. Es hat also mit der Geschichte zu tun, aber auch mit den tägli­chen Tragö­dien, die wir in Latein­ame­rika erleben. Früher war der Tod auch in Europa präsenter. So schreibt Mozart kurz vor dessen Tod an seinen Vater: „Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich viel­leicht, so jung als ich bin, den anderen Tag nicht mehr sein werde, und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre“. Diese Mischung zwischen Sorge, Trau­rig­keit und Freude ist typisch für Latein­ame­rika. Wir tanzen mit dem Tod, machen Witze über ihn. Am zweiten November, dem Tag der Toten, schreiben wir kleine lustige Gedichte darüber, wie unsere Freunde und Verwandten sterben werden und schenken sie ihnen – mit perso­na­li­sierten Toten­schä­deln aus Zucker. Meine Schüler in Mexiko haben mir zum Beispiel ein Gedicht geschrieben, wie ich unter der Dusche singe und der Teufel kommt und sagt, „Jetzt reicht’s“, und mich mitnimmt. Dann macht man Pick­nick auf dem Friedhof und bringt den Toten das, was sie im Leben gerne mochten, zum Beispiel Tequila oder Tamales.

Rolando Villazón und Xavier de Maistre
Lernten einander bei den Salz­burger Fest­spielen kennen und verstehen sich nicht nur musi­ka­lisch bestens: Rolando Villazón und Xavier de Maistre

Durch COVID-19 beschleu­nigt, haben viele Opern- und Konzert­häuser span­nende Digi­tal­an­ge­bote geschaffen. Sie haben nicht einmal ein Smart­phone?

(Villazón zückt sein analoges Nokia-Telefon und lacht). Es hat nicht einmal eine Kamera, aber ich muss auch keine Fotos machen. Ich kann tele­fo­nieren und SMS schreiben, das genügt mir. Auch mein Computer ist uralt. Ich sage immer, es ist mein „Mad Max“-Computer. Die Tastatur ist kaputt, und ich muss eine externe anschließen. Meine E‑Mails beant­worte ich alle paar Tage, das ist fast wie früher beim Brie­fe­schreiben. Ich liebe auch das echte Brie­fe­schreiben – Hand­schrift ist so etwas Persön­li­ches! Ich bin nicht gegen alle diese digi­talen Instru­mente, sie sind fantas­tisch. Ich sehe es bei meinen Kindern, die damit spielen und sich austau­schen. Sie haben ein Leben draußen und eines in der Digi­tal­welt. Aber ich selbst bin zu spät in die Zukunft gekommen. Ich bin glück­lich, kein Smart­phone zu haben, denn dann habe ich mehr Zeit zum Lesen. Ich versuche, ein Buch pro Woche zu lesen und höre Radio. Ich inter­es­siere mich nicht dafür, was andere auf Face­book posten, kaufe nicht bei Amazon ein. Ich liebe es, in einen Buch­laden zu gehen und mit Menschen zu spre­chen, die sich mit ihrem Sorti­ment auskennen. Algo­rithmen können sehr schön sein, aber sie nehmen viel Talent weg – nicht die großen Talente aber diese kleinen Gaben, die uns vonein­ander unter­scheiden. Für die Kunst ist es schön, dass die Leute eine Oper im Internet sehen können. Aber das ist nicht echte Oper, denn die muss man im Theater anschauen.

Und Kunst, die speziell für die Digi­tal­welt geschaffen wird?

Ich finde solche neuen Wege gut. Aber man muss sie auch bezahlen. Im Lock­down gibt es so viel kostenlos, und dann ist alles frei. Auch im Lock­down bekomme ich keinen Kaffee umsonst. Ich hasse diese Umsonst-Menta­lität. Ich weiß als Künst­le­ri­scher Leiter der wie schwierig es ist, ein Budget zu machen und Kunst zu unter­stützen. Jede Karte ist so wichtig! Es müssen ja keine Riesen­be­träge sein, aber wenigs­tens sollte man einen Euro für jedes Strea­ming von Covent Garden oder der Baye­ri­schen Staats­oper zahlen. Kunst ist kein Acces­soire! Kunst ist essen­ziell! Und nicht nur seichte Unter­hal­tung. Das haben wir in dieser Zeit beson­ders gemerkt. Ich freue mich, dass Bücher wie Die Pest von Albert Camus oder Robinson Crusoe von Daniel Defoe während des Lock­downs wieder mehr verkauft wurden. Es gibt ein kleines Buch von 1790, also ein Jahr vor Mozarts Tod, das Voyage autour de ma chambre, also Reise um mein Zimmer heißt. Lusti­ger­weise heißt der Autor auch Xavier de Maistre. Es ist zwar keine Welt­li­te­ratur, aber sehr char­mant. Es geht um jemanden, der 42 Tage in seinem Zimmer bleiben musste, nicht wegen eines Virus, sondern wegen Haus­ar­rest. Er beschreibt, wie schön die Reise durch ein Zimmer sein kann.

Rolando Vaillazón

»Die Elemente, die wir brau­chen, um das große Buch des Lebens zu schreiben, sind Bildung und Kunst.«

Besteht nicht umge­kehrt die Gefahr, dass die Menschen im Lock­down bemerkt haben, dass man auch ohne Hoch­kultur auskommen kann?

Ich hoffe nicht! Ich hoffe, wir kämpfen. Heute ist keine Zeit für Egoismus. Wir Künstler müssen nicht für uns kämpfen, sondern für die Kunst. Einige müssen aktuell natür­lich für sich selbst kämpfen, viele Musiker, die kein Geld mehr einnehmen. Ich bin in der glück­li­chen Situa­tion, genug Rück­lagen zu haben. Leute wie ich müssen sich nicht beschweren. Es ist meine Verant­wor­tung zu unter­stützen, und das mache ich gerne. Ich unter­stütze privat und über Barbara Hannigans Stif­tung MOMENTUM einige Künstler, weil sie sich an mich gewandt haben. Man sollte offen sagen, wenn man Hilfe braucht. Es gibt Künstler, die jetzt für Amazon Pakete austragen. Das kann es nicht sein! Und auch als Künst­le­ri­scher Leiter der Mozart­woche ist es meine Verant­wor­tung zu sagen: Ich behalte alle, auch wenn mein Budget halbiert wird. Ich bin in engem Gespräch mit jedem Musiker, Orchester, Sänger und Agenten, damit wir gute Lösungen finden. Jetzt haben wir schon viel Erfah­rung aus Salz­burg, aus usw. Am Anfang tappten wir im Dunkeln. Zu viele Festi­vals haben zu früh abge­sagt. Natür­lich gibt es ein Risiko. Aber es gibt auch ein Risiko, wenn man Zug fä. Jetzt kann man kalku­lieren, Abstände einhalten.

Was ist Ihr Wunsch? Wie soll es weiter­gehen?

Dass es kein Corona gibt! Und sonst: Dass die Poli­tiker in die Konzerte kommen und sehen, wie gut das funk­tio­niert. Auf Flug­häfen wird überall Distanz gehalten, aber dann wird man 15 Minuten in einen Bus gepfercht – ohne Luft, der eine hustet, der andere schnieft. Im Konzert haben wir Distanz, das ist gut. Wir haben Masken und bewegen uns nicht. Es gibt keine Pause. Ich will, dass die Poli­tiker sehen, dass das besser funk­tio­niert als auf Flug­häfen! Kunst ist keine Neben­sache! Kunst zeigt, wer oder was wir sind, fordert, dass wir tief in uns selbst gehen. Sie gibt uns Fragen und keine Antworten. Das ist das Leben im philo­so­phi­schen Sinn: Antworten müssen und nicht nur reagieren – reagieren kann jedes Tier. Für Antworten muss man denken und einen Grund haben. Die Elemente, die wir brau­chen, um das große Buch des Lebens zu schreiben, sind Bildung und Kunst. Zusammen machen sie die besten Menschen.

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Auftrittstermine und weitere Informationen zu Rolando Villazón unter: rolandovillazon.com
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Xavier de Maistre unter: www.xavierdemaistre.com
Eine Bonus-Ausgabe des Albums mit den zusätzlichen Liedern Gracias a la vidaArrorro, Mazurka glissando und Alma Llanera sowie einem von Rolando Villazón signierten Booklet ist im DG-Store erhältlich.

Fotos: Julien Benhamou