Simone Kermes
Pokerface mit Sahnehäubchen
17. Mai 2020
Simone Kermes weitet den musikalischen Horizont und legt mit „Inferno e Paradiso“ ein Album vor, dessen Arien sich vom Barock bis zu Schlager und Pop erstrecken.
Die Sopranistin Simone Kermes gilt als Paradiesvogel der Klassikszene. Da passt es ganz gut, dass sie musikalisch auslotet, was zwischen Tugend und Teufelei alles möglich ist. Dass sie dabei Genregrenzen aufweicht und Bach und Händel mit Led Zeppelin, Lady Gaga und Udo Jürgens auf ihr neues Album packt, beweist nur einmal mehr: Im Herzen ist sie doch ein Punk!
Wollen Sie nicht mal ein Stück Kuchen essen?“, fragt Simone Kermes mitten im Gespräch. Sie hat für das Treffen in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte eigens eingekauft, Bienenstich und gedeckte Apfelschnitten warten auf dem Tablett. Es steht auch Kaffee auf dem Tisch, nur Sahne gibt es keine. Das wäre vielleicht auch ein bisschen dick aufgetragen. Schließlich geht es hier um ein Interview zu ihrem jüngsten Album. Und nicht um Völlerei. Obschon das zum Thema passen würde.
„Inferno e Paradiso“ heißt die CD, was sich nicht nur mit „Hölle und Paradies“ übersetzen lässt, sondern auch mit „Todsünden und Tugenden“. Es ist nicht so, dass Kermes den Menschen damit die abhandengekommene Gottes- und Teufelsfurcht wieder einbläuen möchte, sie findet auch nicht, „dass Wollust eine Sünde ist. Wir brauchen sie genauso, wie wir die Keuschheit brauchen“. Das Wichtigste sei doch, und zwar in so ziemlich allen Lebensbereichen, „das mittlere Maß zu finden“. Wofür man freilich auch die Extreme erfahren, die Grenzen ausgelotet haben müsse. Aber auf Dauer ist jedes Zuviel eben ungesund.
»Die Menschen sind nicht von Natur aus gut.«
Als die Sängerin vor ein paar Jahren die Idee zu „Inferno e Paradiso“ hatte – angestoßen unter anderem durch die Berliner Ausstellung „Hieronymus Bosch Visions Alive“, die Kunstwerke des Renaissance-Visionärs als gigantische HD-Projektionen präsentierte –, ahnte sie selbst noch nicht, wie aktuell das Thema in unsere apokalyptisch gestimmte Gegenwart passen würde, „mit ‚Fridays for Future‘ und allem, es passt perfekt!“, sagt Kermes und schiebt gleich hinterher: „Eigentlich passt es immer, denn die Menschen sind nun mal nicht von Natur aus gut.“
Neid und Hochmut lassen sich tatsächlich überall ausmachen, auch Trägheit in Gestalt von Smartphone-Zombies, die keine echten Begegnungen mehr wollen. Und was bedeutet eine Konsumgesellschaft mit ihrem Überfluss anderes als Völlerei? Das Problem: Im Barock, dem erklärten Leib- und Magen-Genre von Simone Kermes, gibt es dazu erstaunlich wenig Liedgut und Kompositionen, schon gar nicht für Sopran, „nur hier und da einen Bass, der irgendwas vom Fressen singt“. Also musste sie den musikalischen Horizont etwas weiten – bis zu Schlager und Pop.
Sie ist bei Udo Jürgens fündig geworden: Aber bitte mit Sahne. Der Klassiker über die Kalorienschlachten der fidelen Witwen in der Konditorei. Hat in Led Zeppelins Stairway to Heaven, diesem Kultsong ihrer Jugend, die Geschichte einer hochmütigen Lady entdeckt, die glaubt, sich alles kaufen zu können mit Gold und Geld. Und Pokerface von Lady Gaga ist die Song gewordene Wollust, „da geht es ja nur um schweinische Sachen“, lacht Kermes. „I’ll get him hot, show him what I’ve got …“
Mal ganz abgesehen davon, dass sie mit ihrer Pokerface-Version endlich eingelöst hat, was ihr schon seit Jahren als Label angeheftet wird: Sie sei die „Lady Gaga der Klassik“. Aus den modernen Liedern hat Kermes zusammen mit dem finnischen, in Berlin lebenden Komponisten Jarkko Riihimäki Barockversionen gezaubert. Stings Fields of Gold klingt wie ein Stück aus dem 16. Jahrhundert. Aus Stairway to Heaven wird eine Passacaglia, die von Henry Purcell stammen könnte. Der Koloratursopranistin geht es um mehr als modisches Crossover. Hier werden auch Wechselwirkungen und Verwandtschaften in Harmonik und Rhythmik quer durch die Jahrhunderte hörbar. „Bands wie Emerson, Lake und Palmer zum Beispiel haben noch klassisch studiert“, erzählt Kermes „davon ist viel in ihre Musik eingeflossen.“
»Mit Händel hatte ich jedes Mal Erfolg.«
Dem gegenüber stehen auf „Inferno e Paradiso“ die alten Tugendmeister. Johann Sebastian Bach mit seinem demütigen Erbarme dich, mein Gott, Giovanni Bononcini, der in M’incateni e se mi sciogli die Mildtätigkeit des Heiligen Nikolaus preist, Georg Friedrich Händel, dessen Arie Tu del Ciel ministro eletto aus dem Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno von bemerkenswerter Keuschheit kündet.
Klar, Händel darf bei Kermes nie fehlen. Sie hat einmal gesagt, sie fühle sich dem Komponisten aus Halle an der Saale „spirituell verbunden“, und wenn man sie darauf anspricht, bestätigt sie diese Seelenverwandtschaft ernst, mit großem Nachdruck und frei von Esoterik: „Händel hat meiner Stimme immer gutgetan, mit ihm hatte ich jedes Mal Erfolg.“ Schon mit 13 Jahren, in Leipzig beim Weihnachtskonzert im Gewandhaus, wo sie ihre erste Arie sang. Später hat sie mit Händel die Eignungsprüfung fürs Studium geschafft, zahlreiche Wettbewerbe gewonnen, ihr erstes Engagement bekommen.
„In New York haben sie gesagt, ich sei die Reinkarnation der Francesca Cuzzoni“, erzählt Kermes und lacht dabei. Jener Händel-Muse also, für die er Partien wie die Cleopatra und Rodelinda komponierte. Sie sagt noch, dass sie eigentlich ein bescheidener Mensch sei, das müsse man ihr glauben. Aber Lascia ch’io pianga, das singe sie nun einmal Weltspitze. Was für Jürgen Drews Ein Bett im Kornfeld und für Helene Fischer Atemlos sei, das sei für sie diese Arie.
Die Künstlerin, die selbst die Finger vom Kuchen lässt, ist eben ehrlich überzeugt von dem, was sie macht. Erstens zu Recht, denn sie zählt zu den Stimmen ihres Fachs. Und zweitens steht dahinter auch ein Lernprozess – nämlich der eigenen Intuition zu vertrauen. Sie erinnert sich etwa an eine Inszenierung, Gounods Roméo et Juliette, die sich von Probenbeginn an seltsam für sie anfühlte, irgendwie nicht passend. Aber sie lernte ihren Part und dachte sich: Zähne zusammenbeißen. Über Nacht bekam sie dann Fieber und einen roten Hals, obwohl sie sich nicht erkältet hatte. „Mein Körper hat mich gestoppt – und das war genau richtig.“
»Man muss 100 Prozent authentisch bleiben, mit allen Macken.«
Kermes eilen ja alle möglichen Rufe voraus. Als Paradiesvogel des Betriebs, als schrille Diva auf Plateauschuhen. Was stimmt, ist, dass sie auffällt, aber eben nicht nur äußerlich. Zuletzt war das zum Beispiel bei der Operngala der Aidsstiftung in Berlin zu beobachten, wo sie einen Hauch von erfrischender Punk-Attitüde ins etwas hüftsteife Nebeneinander der versammelten Sänger-Prominenz trug, noch bevor sie überhaupt den Mund zur Arie Son qual nave ch’agitata von Riccardo Broschi geöffnet hatte. Kermes hat sich auch geweigert, den Schmuck eines namhaften Sponsors zu tragen, weil sie ihre eigenen, aus Venedig stammenden Accessoires nicht ablegen wollte. Dafür durfte sie dann nicht mit aufs Gruppenbild. Ihr doch egal: „Man muss 100 Prozent authentisch bleiben, mit allen Macken – dann nimmt das Publikum einen an.“
Kermes strahlt einfach ein gesundes Selbstbewusstsein aus in einem Betrieb, in dem zu viele ihre Meinung nicht sagen. „Gerade die Jungen lassen sich alles gefallen, weil sie ihre Jobs behalten oder das nächste Engagement bekommen wollen.“ Ihr Motto lautet mittlerweile: „Selbst ist die Sängerin.“ Im Frühjahr 2019 hat sie ihr erstes eigenes Konzert veranstaltet, einen Händel-Abend, natürlich, im Berliner Kammermusiksaal. Sie musste sich um alles selbst kümmern. Endlich, scherzt sie, sei ihr dabei mal ihre erste Ausbildung zugutegekommen: als Facharbeiterin für Schreibtechnik. Kermes buchte Lichtpakete, verhandelte die Gagen der Musiker, verteilte Flyer und ließ Plakate kleben. Alles auf eigenes finanzielles Risiko. Ihre Freunde erklärten sie für verrückt und prophezeiten die krachende Pleite. Am Ende lag die Auslastung bei 80 Prozent – und die Künstlerin war mal wieder um eine großartige Erfahrung reicher.
»Ich möchte im Leben immer weniger Kompromisse machen.«
Ihre Band, die Amici Veneziani, ist ihre musikalische Familie. Auch da können Pop und Barock voneinander lernen: „Udo Lindenberg hat ja auch nicht ohne Grund seine Panik-Familie“, sagt Kermes. „Letztendlich brauchst du Leute, die hinter dir stehen und wirklich ehrlich zu dir sind.“ Was das betrifft, hat sie genügend schlechte Erfahrungen gemacht. Mit Managern, von denen sie sich nicht richtig vertreten fühlte. Mit Leuten, die sie ausgenutzt haben. Das ändert nichts daran, dass sie sich ihre Offenherzigkeit bewahren will. Aber Simone Kermes betont auch: „Ich möchte im Leben immer weniger Kompromisse machen.“ Klingt aus ihrem Mund eindeutig wie eine Tugend.