Simone Kermes

Poker­face mit Sahne­häub­chen

von Patrick Wildermann

17. Mai 2020

Simone Kermes weitet den musikalischen Horizont und legt mit „Inferno e Paradiso“ ein Album vor, dessen Arien sich vom Barock bis zu Schlager und Pop erstrecken.

Die Sopra­nistin gilt als Para­dies­vogel der Klas­sik­szene. Da passt es ganz gut, dass sie musi­ka­lisch auslotet, was zwischen Tugend und Teufelei alles möglich ist. Dass sie dabei Genre­grenzen aufweicht und Bach und Händel mit Led Zeppelin, Lady Gaga und Udo Jürgens auf ihr neues Album packt, beweist nur einmal mehr: Im Herzen ist sie doch ein Punk!

Wollen Sie nicht mal ein Stück Kuchen ?“, fragt Simone Kermes mitten im Gespräch. Sie hat für das Treffen in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte eigens einge­kauft, Bienen­stich und gedeckte Apfel­schnitten warten auf dem Tablett. Es steht auch Kaffee auf dem Tisch, nur Sahne gibt es keine. Das wäre viel­leicht auch ein biss­chen dick aufge­tragen. Schließ­lich geht es hier um ein Inter­view zu ihrem jüngsten Album. Und nicht um Völlerei. Obschon das zum Thema passen würde.

Die Sopranistin Simone Kermes gilt als Paradiesvogel der Klassikszene.
Sie gilt als Para­dies­vogel der Klas­sik­szene: Simone Kermes

„Inferno e Paradiso“ heißt die CD, was sich nicht nur mit „Hölle und Para­dies“ über­setzen lässt, sondern auch mit „Todsünden und Tugenden“. Es ist nicht so, dass Kermes den Menschen damit die abhan­den­ge­kom­mene Gottes- und Teufels­furcht wieder einbläuen möchte, sie findet auch nicht, „dass Wollust eine Sünde ist. Wir brau­chen sie genauso, wie wir die Keusch­heit brau­chen“. Das Wich­tigste sei doch, und zwar in so ziem­lich allen Lebens­be­rei­chen, „das mitt­lere Maß zu finden“. Wofür man frei­lich auch die Extreme erfahren, die Grenzen ausge­lotet haben müsse. Aber auf Dauer ist jedes Zuviel eben unge­sund.

»Die Menschen sind nicht von Natur aus gut.«

Als die Sängerin vor ein paar Jahren die Idee zu „Inferno e Paradiso“ hatte – ange­stoßen unter anderem durch die Berliner Ausstel­lung „Hiero­nymus Bosch Visions Alive“, die Kunst­werke des Renais­sance-Visio­närs als gigan­ti­sche HD-Projek­tionen präsen­tierte –, ahnte sie selbst noch nicht, wie aktuell das Thema in unsere apoka­lyp­tisch gestimmte Gegen­wart passen würde, „mit ‚Fridays for Future‘ und allem, es passt perfekt!“, sagt Kermes und schiebt gleich hinterher: „Eigent­lich passt es immer, denn die Menschen sind nun mal nicht von Natur aus gut.“

Neid und Hochmut lassen sich tatsäch­lich überall ausma­chen, auch Träg­heit in Gestalt von Smart­phone-Zombies, die keine echten Begeg­nungen mehr wollen. Und was bedeutet eine Konsum­ge­sell­schaft mit ihrem Über­fluss anderes als Völlerei? Das Problem: Im Barock, dem erklärten Leib- und Magen-Genre von Simone Kermes, gibt es dazu erstaun­lich wenig Liedgut und Kompo­si­tionen, schon gar nicht für Sopran, „nur hier und da einen Bass, der irgendwas vom Fressen singt“. Also musste sie den musi­ka­li­schen Hori­zont etwas weiten – bis zu Schlager und Pop.

Sie ist bei Udo Jürgens fündig geworden: Aber bitte mit Sahne. Der Klas­siker über die Kalo­rien­schlachten der fidelen Witwen in der Kondi­torei. Hat in Led Zeppe­lins Stairway to Heaven, diesem Kult­song ihrer Jugend, die Geschichte einer hoch­mü­tigen Lady entdeckt, die glaubt, sich alles kaufen zu können mit Gold und Geld. Und Poker­face von Lady Gaga ist die Song gewor­dene Wollust, „da geht es ja nur um schwei­ni­sche Sachen“, lacht Kermes. „I’ll get him hot, show him what I’ve got …“

Mal ganz abge­sehen davon, dass sie mit ihrer Poker­face-Version endlich einge­löst hat, was ihr schon seit Jahren als Label ange­heftet wird: Sie sei die „Lady Gaga der Klassik“. Aus den modernen Liedern hat Kermes zusammen mit dem finni­schen, in Berlin lebenden Kompo­nisten Jarkko Barock­ver­sionen gezau­bert. Stings Fields of Gold klingt wie ein Stück aus dem 16. Jahr­hun­dert. Aus Stairway to Heaven wird eine Passa­ca­glia, die von stammen könnte. Der Kolo­ra­tur­so­pra­nistin geht es um mehr als modi­sches Cross­over. Hier werden auch Wech­sel­wir­kungen und Verwandt­schaften in Harmonik und Rhythmik quer durch die Jahr­hun­derte hörbar. „Bands wie Emerson, Lake und Palmer zum Beispiel haben noch klas­sisch studiert“, erzählt Kermes „davon ist viel in ihre Musik einge­flossen.“

»Mit Händel hatte ich jedes Mal Erfolg.«

Dem gegen­über stehen auf „Inferno e Paradiso“ die alten Tugend­meister. mit seinem demü­tigen Erbarme dich, mein Gott, Giovanni Bonon­cini, der in M’in­ca­teni e se mi sciogli die Mild­tä­tig­keit des Heiligen Niko­laus preist, Georg Fried­rich Händel, dessen Arie Tu del Ciel ministro eletto aus dem Orato­rium Il Trionfo del Tempo e del Dising­anno von bemer­kens­werter Keusch­heit kündet.

Klar, Händel darf bei Kermes nie fehlen. Sie hat einmal gesagt, sie fühle sich dem Kompo­nisten aus an der Saale „spiri­tuell verbunden“, und wenn man sie darauf anspricht, bestä­tigt sie diese Seelen­ver­wandt­schaft ernst, mit großem Nach­druck und frei von Esoterik: „Händel hat meiner Stimme immer gutgetan, mit ihm hatte ich jedes Mal Erfolg.“ Schon mit 13 Jahren, in beim Weih­nachts­kon­zert im Gewand­haus, wo sie ihre erste Arie sang. Später hat sie mit Händel die Eignungs­prü­fung fürs Studium geschafft, zahl­reiche Wett­be­werbe gewonnen, ihr erstes Enga­ge­ment bekommen.

Die Sopranistin Simone Kermes wurde in New York als Reinkarnation der Francesca Cuzzoni, der Muse Händels, bezeichnet.
Reinkar­na­tion der Fran­cesca Cuzzoni: Simone Kermes

„In haben sie gesagt, ich sei die Reinkar­na­tion der Fran­cesca Cuzzoni“, erzählt Kermes und lacht dabei. Jener Händel-Muse also, für die er Partien wie die Cleo­patra und Rode­linda kompo­nierte. Sie sagt noch, dass sie eigent­lich ein beschei­dener Mensch sei, das müsse man ihr glauben. Aber Lascia ch’io pianga, das singe sie nun einmal Welt­spitze. Was für Jürgen Drews Ein Bett im Korn­feld und für Helene Fischer Atemlos sei, das sei für sie diese Arie.

Die Künst­lerin, die selbst die Finger vom Kuchen lässt, ist eben ehrlich über­zeugt von dem, was sie macht. Erstens zu Recht, denn sie zählt zu den Stimmen ihres Fachs. Und zwei­tens steht dahinter auch ein Lern­pro­zess – nämlich der eigenen Intui­tion zu vertrauen. Sie erin­nert sich etwa an eine Insze­nie­rung, Gounods éo et Juli­ette, die sich von Proben­be­ginn an seltsam für sie anfühlte, irgendwie nicht passend. Aber sie lernte ihren Part und dachte sich: Zähne zusam­men­beißen. Über Nacht bekam sie dann Fieber und einen roten Hals, obwohl sie sich nicht erkältet hatte. „Mein Körper hat mich gestoppt – und das war genau richtig.“

»Man muss 100 Prozent authen­tisch bleiben, mit allen Macken.«

Kermes eilen ja alle mögli­chen Rufe voraus. Als Para­dies­vogel des Betriebs, als schrille Diva auf Plateau­schuhen. Was stimmt, ist, dass sie auffällt, aber eben nicht nur äußer­lich. Zuletzt war das zum Beispiel bei der Opern­gala der Aids­stif­tung in Berlin zu beob­achten, wo sie einen Hauch von erfri­schender Punk-Atti­tüde ins etwas hüft­steife Neben­ein­ander der versam­melten Sänger-Promi­nenz trug, noch bevor sie über­haupt den Mund zur Arie Son qual nave ch’a­gi­tata von Riccardo Broschi geöffnet hatte. Kermes hat sich auch gewei­gert, den Schmuck eines namhaften Spon­sors zu tragen, weil sie ihre eigenen, aus stam­menden Acces­soires nicht ablegen wollte. Dafür durfte sie dann nicht mit aufs Grup­pen­bild. Ihr doch egal: „Man muss 100 Prozent authen­tisch bleiben, mit allen Macken – dann nimmt das Publikum einen an.“

Kermes strahlt einfach ein gesundes Selbst­be­wusst­sein aus in einem Betrieb, in dem zu viele ihre Meinung nicht sagen. „Gerade die Jungen lassen sich alles gefallen, weil sie ihre Jobs behalten oder das nächste Enga­ge­ment bekommen wollen.“ Ihr Motto lautet mitt­ler­weile: „Selbst ist die Sängerin.“ Im Früh­jahr 2019 hat sie ihr erstes eigenes Konzert veran­staltet, einen Händel-Abend, natür­lich, im Berliner Kammer­mu­sik­saal. Sie musste sich um alles selbst kümmern. Endlich, scherzt sie, sei ihr dabei mal ihre erste Ausbil­dung zugu­te­ge­kommen: als Fach­ar­bei­terin für Schreib­technik. Kermes buchte Licht­pa­kete, verhan­delte die Gagen der Musiker, verteilte Flyer und ließ Plakate kleben. Alles auf eigenes finan­zi­elles Risiko. Ihre Freunde erklärten sie für verrückt und prophe­zeiten die krachende Pleite. Am Ende lag die Auslas­tung bei 80 Prozent – und die Künst­lerin war mal wieder um eine groß­ar­tige Erfah­rung reicher.

»Ich möchte im Leben immer weniger Kompro­misse machen.«

Ihre Band, die , ist ihre musi­ka­li­sche Familie. Auch da können Pop und Barock vonein­ander lernen: „Udo Linden­berg hat ja auch nicht ohne Grund seine Panik-Familie“, sagt Kermes. „Letzt­end­lich brauchst du Leute, die hinter dir stehen und wirk­lich ehrlich zu dir sind.“ Was das betrifft, hat sie genü­gend schlechte Erfah­rungen gemacht. Mit Mana­gern, von denen sie sich nicht richtig vertreten fühlte. Mit Leuten, die sie ausge­nutzt haben. Das ändert nichts daran, dass sie sich ihre Offen­her­zig­keit bewahren will. Aber Simone Kermes betont auch: „Ich möchte im Leben immer weniger Kompro­misse machen.“ Klingt aus ihrem Mund eindeutig wie eine Tugend.

Fotos: Dirk Bleicker