Stefan Sell
„Ich schuf ein neues Klangbild“
von Ruth Renée Reif
10. September 2020
Stefan Sell wendet sich auf seinem Album bekannten Werken vom Barock bis zur Klassik zu. Er ist dem Bestreben der Komponisten gefolgt und hat ihre Musik ausdrucksstark neu für die Gitarre komponiert.
Stefan Sell (Fotos © Manfred Pollert) wendet sich auf seinem Album „BestSELLers“ bekannten Werken vom Barock bis zur Klassik zu. Er ist dem Bestreben der jeweiligen Komponisten einfühlsam gefolgt, hat sich in ihre Musik vertieft und sie behutsam und ausdrucksstark neu für die Gitarre komponiert.
CRESCENDO: Alexander Kluge schreibt vom Baustellencharakter des Poetischen. Die Literatur der Vergangenheit betrachtet er als Material für die Gegenwart. Teilst du diese Sicht?
STEFAN SELL: Ich liebe die Vorstellung des Schöpfens. Die Romantik kennt das Bild des Bergwerks. Der Poet begibt sich in ein Bergwerk und holt die Schätze hervor. Das impliziert, dass die Dichter keine Skrupel hatten, sich am Vorhandenen zu bedienen. Bereits bei Shakespeare findet man das. Alle seine Stücke beruhen auf Vorlagen anderer. Man kann sich nicht etwas völlig Neues ausdenken. Schöpferische Tätigkeit besteht darin, aus dem Vorhandenen zu schöpfen. Auf diesem Weg aber entsteht tatsächlich etwas Neues und Individuelles.
Stefan Sell: »Die Herausforderung lag für mich darin, diese Stücke so zu spielen, wie es nur auf der Gitarre möglich ist.«
Auf deinem Album „BestSELLers“ spielst du bekannte Werke vom Barock bis zur Klassik, die man, abgesehen von Bachs Bourrée, nicht mit der Gitarre in Verbindung bringt. Worin bestand für dich die Herausforderung bei dem Projekt?
Wir klassischen Gitarristen haben ein solches Repertoire nicht. Was ihre Qualität angeht, ist die klassische Gitarre ein ausgereiftes Instrument. Was dagegen die Quantität betrifft, kann man sie vernachlässigen. Diese Diskrepanz hat mich immer beschäftigt, und ich habe mich gefragt, warum wir diese Stücke nicht auch spielen sollten. Es gibt sie alle für Gitarre.
Doch haben mir diese Transkriptionen nie gereicht. Ein Klavier hat 200 Saiten, eine Gitarre nur sechs. Und wenn ich das Orchester betrachte, ergeben sich noch mehr Möglichkeiten. Die schmale Gitarre verfügt über eine solche Bandbreite nicht. So lag die Herausforderung darin, diese Stücke so zu spielen, wie es nur auf der Gitarre möglich ist. Mit dieser Vorstellung, auf der Gitarre etwas Neues und Eigenes zu schaffen, nahm ich das Projekt in Angriff.
Wie nahe versuchst du, an den Originalen zu bleiben?
Sehr nahe. Ich habe zehn Jahre an diesem Projekt gearbeitet, weil ich nicht nur die jeweilige Melodie herausholen wollte, sondern in die Tiefe ging, um alles abzubilden, was im Original zu finden ist. Die Klangbilder des Originals übernahm ich wie bei einer Übersetzung in eine andere Sprache nicht Ton für Ton, sondern ich schuf ein neues Klangbild, das nur der Gitarre eigen ist. Die Lücken, die dabei unvermeidlich entstanden, wenn man für nur sechs Saiten schreibt, schloss ich, indem ich mich in den jeweiligen Komponisten versenkte. So entlehnte ich etwa für Schuberts Ave Maria eine perlende Sequenz aus der Forelle.
Stefan Sell: »Die Improvisation spielte eine wichtige Rolle. Aus der ständigen Wiederholung tauchten immer wieder neue Ideen auf.«
Welcher Stellenwert kommt bei deinen Bearbeitungen der Improvisation zu?
Ich habe mir diese Stücke regelrecht erspielt. Wie ein Bildhauer legte ich etwas frei und korrigierte es immer wieder. Die Improvisation spielte dabei eine wichtige Rolle. Aus der ständigen Wiederholung tauchten immer wieder neue Ideen auf. Dann jedoch nahm ich Abstand, setzte mich ans Notenpapier und legte alles fest. So gibt es von all diesen Stücken auch einen Notentext. Und das Besondere daran ist, dass man diese Noten auf keinem anderen Instrument spielen kann, weil ich bewusst typische Techniken der Gitarre verwendet habe.
Die Gitarre ist bekannt als Begleitinstrument für den Gesang. Du schreibst ihr jedoch Arien auf die Saiten…
Gerade deshalb reizte es mich, zwei Opernarien anzuspielen. Die Möglichkeiten sind allerdings begrenzt, weil diese Arien umfangreich sind, und die harmonische Begleitung bei einer Arie so weit zurücktritt, dass sie allein nicht mehr diese Wertigkeit besitzt.
Stefan Sell: »Als ich diese Stücke komponierte, lauschte ich intensiv in mich hinein, was ich während meines Spiels noch hören kann.«
Im Booklet verweist du auf den leisen Klang der Gitarre. Hans Werner Henze meint, um die Gitarre wirklich zu verstehen, müsse man in die Stille zurückzukehren. Was fasziniert dich am Gitarrenklang?
Ich stimme Henze aus vollen Herzen zu. Man muss in die Stille zurückgehen, um die Gitarre zu hören, und als Künstler muss man in die Stille gehen, um in sich hineinzuhören. Als ich diese Stücke komponierte, lauschte ich intensiv in mich hinein, was ich während meines Spiels noch hören kann. So kommt es, dass die Stücke so unterschiedliche Stilmittel enthalten wie etwa den Flamenco. An einer Stelle lasse ich sogar die Beatles aufleuchten. Diese Verwandtschaft zu anderen Stücken hatte ich plötzlich während des Spielens gehört.
Wenn ich solche Elemente dann aber einbringe, möchte ich laut werden können. So hört man auf der CD neben den feinen, leisen auch extrem laute Stellen. Dieses Laut-Werden-Können reizte mich. Denn damit kann ich die gesamte Bandbreite bespielen. Ich kann in der Stille noch viel stiller sein und in der Lautstärke hörbar werden lassen, was ich in der Stille vernahm.
Trotz des „leisen Klangs“ der Gitarre findet sich in deiner Auswahl auch ein so gewaltiges Werk wie Beethovens Neunte Sinfonie. Wie kam es dazu?
Dieses Stück ist tatsächlich am weitesten aller vom Original entfernt. Da sind nur noch die Melodie und die Grundharmonieführung geblieben. Ich habe es sogar so angelegt, als wäre es ein Lied, das ich auf der Gitarre begleite. Im Unterschied zu einer Klavierbegleitung, für die man sich viele Umkehrungen und Variationen einfallen lassen muss, geht es bei der Gitarrenbegleitung nur darum, möglichst lange konstant einen Akkord zu halten. Diesen typischen Effekt, der die Gitarre auch so populär werden ließ, habe ich verwendet. Ich habe die Beethoven-Melodie zu einem Song in der Art eines Jazz-Songs oder einer Bossa Nova umgestaltet.
Stefan Sell: »Musik ist ein flüchtiges Element. Sie klingt immer anders. Diese Flüchtigkeit wollte ich einfangen.«
Für das Album hast du eine spezielle Aufnahmetechnik angewandt. Was wolltest du damit erreichen?
Unmittelbarkeit. Die klassische Aufnahme erfolgt in einem Raum mit großer Resonanz und einem Kondensatormikrofon, das den Gesamtklang des Raumes gezielt auf die Gitarre wahrnimmt. Dadurch klingt eine klassische Gitarrenaufnahme immer etwas von fern. Mir war es wichtig, nicht zu kaschieren, also auch meinen Atem und alle Klopf- und Kratzgeräusche mit aufzunehmen. Musik ist ein flüchtiges Element. Sie klingt immer anders. Und diese Flüchtigkeit wollte ich einfangen. Darum verwenden wir diese vier Manger-Spaltmikrofone, die nicht Stereo abbilden, sondern 360 Grad um die Gitarre herum den Klang aufnehmen, sodass beim Hörer der Eindruck entsteht, als würde er selbst an der Gitarre sitzen.
Stefan Sell: „BestSELLers“, (Ears Love Music)
Zu beziehen u.a. bei: www.amazon.de
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Stefan Sell: www.stefansell.com
Abonnieren Sie CRESCENDO-Premium, und wir schenken Ihnen als exklusive Prämie dieses außergewöhnliche Album von Stefan Sell: CRESCENDO Premium-Abo