Sammlungen
Parade der Jahrhundertlegenden
24. Juni 2017
Immer wieder bringen Plattenfirmen umfangreiche Sammlungen großer Künstler heraus. Unser Autor hat die legendärsten darunter aufgespürt.
Der Hype um junge Stars, das Bemühen um massentaugliches Crossover und das ständige Ringen um Tagessensationen sind das gewöhnliche Business der großen Plattenfirmen, doch in den letzten Jahren hat sich mehr denn je gezeigt, dass es sich lohnt, auch die Anthologien der unvergänglichen Großmeister des Metiers attraktiv aufzubereiten, und besonders die großen Editionen von Sony Classical haben da einen Maßstab gesetzt, hinter dem die anderen Majors nicht zurückstehen wollen. Und man bekommt für das Geld natürlich viel mehr als beim Erwerb von Einzel-CDs, und das auf einem klar einschätzbaren musikalischen Niveau.
Bei Warner Classics hat man schnell begriffen, dass die Sammler auch die Qualität der Aufmachung schätzen, wie die Menuhin und Perlman-Gesamteditionen zeigen. Nun liegen alle (1961–1994 entstandenen) EMI- und Teldec-Aufnahmen von dem russischen Klaviergiganten Sviatoslav Richter in stabilem Hardcover vor. Der launische Meister war hier meist in Topform, vom Dvořák-Konzert mit Carlos Kleiber über die Beethoven-Violinsonaten mit dem feinsinnigen Oleg Kagan bis zu der grandiosen Moskauer Liveaufnahme von Alban Bergs Kammerkonzert. Wer den grandiosen Poeten am Klavier liebt, ist hier bestens versorgt.
Richters jüngerer Landsmann Youri Egorov (1954–1987) starb mit 33 Jahren in der holländischen Emigration an Aids, und erst kürzlich wurde ich auf eine Box bei Etcetera („A Life in Music“) aufmerksam, die diesen hochsensiblen, introvertiert eigensinnigen Künstler vor allem mit Kammermusik und Solokonzerten vorstellt. In Deutschland immer ein Außenseiter geblieben, sollten wir diesen begnadeten Virtuosen wenigstens posthum würdigen.
Warner Classics hat – auf dem auferstandenen Label Erato – endlich die Bach-Gesamteinspielung der führenden Cembalo-Exegetin Zuzana Růžičková in einer stattlichen Box veröffentlicht, mit einem sehr schönen Vorwort ihres Meisterschülers Mahan Esfahani versehen. Wer wissen will, wie gesanglich, strukturbewusst und charaktervoll ein Cembalo klingen kann, ohne in die Standardfallen der sogenannten historischen Aufführungspraxis zu gehen, sollte unbedingt hören, was die Holocaust-Überlebende Maestra Růžičková zu erzählen hat!
David Oistrach und Jascha Heifetz sind die zwei großen Geigernamen der Schallplattengeschichte – Heifetz als Virtuose, Oistrach als Musiker. Und was für ein Virtuose Oistrach doch außerdem war! Man höre nur die Ballade-Sonate von Ysaÿe in der großartigen Gesamtschau seiner Aufnahmen für Deutsche Grammophon, Decca, Philips und Westminster bei Universal Classics. Das ist eine gigantische Schatzkiste, aus der ich exemplarisch hier nur die Beethoven-Sonaten mit Lev Oborin, die wunderbaren Klaviertrio- Aufnahmen, gleich zweimal das Bach’sche Doppelkonzert mit seinem Sohn Igor oder das Hindemith-Konzert mit dem Komponisten am Pult hervorheben möchte. Vollendeteres Geigenspiel in jeder Hinsicht, eine beseeltere Tongebung hat es wohl nie gegeben.
Oistrach ist auch auf dem „Tribut an Rudolf Barschai“ dabei, der gleichfalls eine solche Fülle an Kostbarkeiten enthält, dass die Auswahl fast willkürlich ausfallen muss – ich entscheide mich für Mozarts Sinfonia Concertante mit Oistrach und Barschai, muss aber im selben Atemzug Gilels, Kogan, Richter und Rostropowitsch nennen. Das Moskauer Kammerorchester spielt auf singulärem Niveau, sei es in Haydn, Mozart, Purcell, Bartók, Strawinsky oder Martinů. Die Streichquartett und Streichtrio-Aufnahmen lassen eine unwiederbringliche Ära aufklingen, Raritäten von Revol Bunin und Alexander Lokschin fesseln den Hörer, der im Klavierquintett von Schostakowitsch mit dem Komponisten selbst am Klavier an der Quelle sitzen darf: eine Parade der Jahrhundertlegenden und eine ergreifende Bilanz höchster Kunst, die für unsere Zeit als leuchtendes Beispiel dienen sollte.