Talia Or & Moritz Eggert
Weltverschwörung, Klischees und die »perfekte Jüdin«
von Moritz Eggert
6. Februar 2021
Die Sopranistin Talia Or und der Komponist Moritz Eggert haben sich für das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ der Frage nach dem „Jüdisch-Sein“ gestellt.
Moritz Eggert: Talia, wie fühlt man sich so als Teil einer geheimen bösen Weltverschwörung?
Talia Or: Und, wie fühlst du dich so als fanatischer Nazi? (beide lachen)
Moritz Eggert: Mal im Ernst: Mirjam Wenzel [Literaturwissenschaftlerin und seit 2016 Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt; Anm. d. Red.] sprach vor kurzem davon, dass man „selbstverständlicher machen (soll), dass Juden Teil unseres Alltags sind“. Wie fühlt sich der Alltag für Dich an als Jüdin, die hier aufgewachsen und sozialisiert ist?
Talia Or: Ich fand den Beitrag von Mirjam Wenzel sehr richtig und würde mich in weiten Teilen ihrer Einschätzung anschließen. Ich denke, man sollte aber unterscheiden zwischen „Alltag“ und Normalität. Ich lebe in Deutschland, seit ich drei Jahre alt bin. Wenn mich Leute auf der Straße sehen, denken sie sicher nicht, ich sei jüdisch. Einen „Alltag“ lebe ich also mehr oder weniger unbehelligt von Vorurteilen.
»Ich bin Teil einer Minderheit, also ein Kuriosum für viele!«
Wenn ich mich mit Namen vorstelle, sieht die Sache schon anders aus. Da wird man oft zur Projektionsfläche des Gegenübers – und nicht selten zu einer sehr persönlichen, von dessen spezieller Familiengeschichte geprägten Projektion. Das variiert von sehr offenen, warmen Reaktionen zu einer Abwehr- oder Verteidigungshaltung. Eine Normalität gibt es für mich in Deutschland also nicht, denn ich bin Teil einer Minderheit, also ein Kuriosum für viele. Viele Deutsche kennen sonst einfach keine Juden. Schon gar nicht welche, die offen damit umgehen und es nicht verbergen.
»Jeder rassistische Übergriff gegen Juden in Deutschland wirft den natürlichen Heilungsprozess um Jahre zurück!«
Moritz Eggert: Vielleicht bin ich sentimental, aber ich fände es schön, wenn Juden und Deutschen irgendwann einmal die Vergangenheit nicht mehr im Wege steht. Es sollte wichtiger sein, wie man sich in der Gegenwart verhält. Kein Deutscher würde auf die Idee kommen, heute einem Italiener oder Rumänen vorzuwerfen, dass die Römer einst Genozide an Germanen verübten. Andererseits fühlen sich die Verbrechen, die die heutigen Amerikaner sowohl an amerikanischen Ureinwohnern als auch an afrikanischen Sklaven begangen haben, immer noch akut an. Denn sowohl amerikanische Ureinwohner als auch Schwarze haben dort nach wie vor unter Diskriminierung zu leiden. Solange das so ist, kann es nicht heilen. Es hängt also viel davon ab, wie das „Jetzt“ aussieht. Deswegen schmerzt mich jeder rassistische Übergriff gegen Juden in Deutschland, weil er den natürlichen Heilungsprozess wieder um Jahre zurückwirft. Vielleicht geißeln sich daher auch einige Deutsche so gerne selbst, wenn es um diese Thematik geht.
Talia Or: So schlimm ist es nicht. Es gibt rund 50 Deutsche, die sich gerne und lautstark in den Medien selbst geißeln, die anderen 80 Millionen lassen sich ihre gute Laune nicht verderben. Ich glaube, die Rettung aus der Neurose ist schon auf dem Weg. Auch wenn die Beispiele der letzten Monate wie „Jana aus Kassel“, die sich mit Sophie Scholl, oder das elfjährige Mädchen aus Karlsruhe, das sich mit Anna Frank verglich, mich tatsächlich auf die Palme bringen. Trotzdem stelle ich fest, dass es eine Frage der Generation und der Bildung ist. Viele, deren Großeltern zur NS-Zeit Kinder waren oder die kurz danach geboren wurden, benehmen sich viel überlegter als Leute, in deren Familien noch darüber geschwiegen wurde, was die Großeltern im Dritten Reich gemacht haben. Ich war 26, als ich zum ersten Mal einen Mann traf, der mir sagte, dass es Nazis in seiner Familie gegeben hatte. Und es noch gab. Er war ein Stück älter als ich und hatte es schwer gehabt, aus dem Familienmythos herauszuwachsen. Das hat mich beeindruckt. Jüngere Deutsche haben weniger Schuldgefühle und können daher auch unbefangener mit dem Thema Holocaust umgehen. Das heißt, ich höre öfter eine authentische, emphatische Reaktion auf den Horror und weniger oft eine von schlechtem Gewissen ausgelöste Geschichte.
Moritz Eggert: Und wie ist es mit den positiven Klischees über Juden? Große Musikalität zum Beispiel?
Talia Or: Die einzigen Menschen, die mir je besondere Musikalität „unterstellt“ haben, sind meine Eltern. Es herrscht einfach eine besonders hohe Erwartung und gewissermaßen eine „Aufforderung zur Exzellenz“ bei vielen musikalischen jüdischen Familien, da man gefühlt aus einer langen Reihe von großen Musikern hervorgeht. Jascha Heifetz oder Artur Rubinstein sind fast wie Familie, und man möchte ihnen nacheifern. Man kann sich das vielleicht ähnlich vorstellen, wie es in den letzten Jahrzehnten für Afroamerikaner in den USA war: Über Exzellenz in der Musik kommt man raus aus dem Ghetto. Nur eben schon seit 300 Jahren. Das ist ein Riesenanreiz.
»Humor ist immer das beste Mittel gegen Vorurteile«
Moritz Eggert: Und wie erlebst Du die negativen Klischees?
Talia Or: Es gibt immer wieder mal Kollegen, die grundsätzlich denken, dass es überall Verschwörungen gibt. Die reden gerne über die „Schwulenmafia“, die „Russenmafia“, usw. Solche Leute sehen überall Seilschaften und fordern mich dann auf, mir selbst zu helfen, indem ich einflussreiche jüdische Bekannte bequatsche. Nur habe ich keine Seilschaften weit und breit – schön wär’s! – außer Musikerkollegen, die gerne mit mir arbeiten, aber zumeist nicht jüdisch sind. Wie jeder andere Musiker auch.
Wenn ich mit Klischees konfrontiert werde, kommt es darauf an, wer mein Gegenüber ist. Wenn mich ein Bekannter im Suff „unsere schöne Jüdin“ nennt, ist das zwar unangenehm, aber verzeihlich. Aber wenn jemand beim Smalltalk sagt, ich müsste doch gut mit Geld umgehen können ob meiner Herkunft, wird der- oder diejenige hemmungslos ausgelacht und postwendend mit irgendeinem dämlichen deutschen Klischee, das mir gerade einfällt, quittiert. Aber es geht ja auch andersrum: Du reist ja viel, zumindest wenn gerade keine Pandemie herrscht, und kommst sicher oft mit Klischees über Deutsche in Berührung. Lachst du das weg, wenn man Dir beispielsweise vorhält, ein Nazi zu sein?
Moritz Eggert: Man traut sich das ja kaum anzuprangern, aber auch als Deutscher erlebt man Vorurteile und sogar Diskriminierung wegen seiner Herkunft. Ich habe über ein Jahr in London gelebt. Da war es ganz normal, dass man aus Spaß mit einem Hitlergruß begrüßt oder mit anderen Scherzen konfrontiert wurde, die man hier geschmacklos fände. Indem man dem Ganzen mit Humor und Selbstironie begegnet, kann man damit umgehen. Ist man dagegen beleidigt, entspricht man sofort dem Klischee des „humorlosen“ Deutschen, und das muss man unbedingt vermeiden. Ich habe gelernt, mich anzupassen und habe mich auch anders verhalten, als ich es in Deutschland tun würde. Ich fand es eine sehr wichtige Erfahrung, selbst einmal „Fremder“ zu sein.
Talia Or: Letztlich ist das beste Mittel gegen Vorurteile immer Humor. Wenn ich mich über mich selbst lustig machen kann, und zwar darüber, was ich als jüdisch an mir empfinde, und mein Gegenüber genug Grips und genug Selbstbewusstsein hat, mitzulachen, ist alles auf einem guten Weg.
Moritz Eggert: Man fragt sich manchmal, wie man „perfekt“ mit diesen Situationen umgehen kann. Wie wäre man als „perfekter“ Deutscher oder als „perfekter“ Jude?
Talia Or: Wenn wir in die Klischee-Kiste greifen, hätte der „perfekte Jude“ immer einen Witz auf der Zunge, wäre hochbegabt und ehrgeizig, superreich, aber nur heimlich, mit Seilschaften in alle Regierungsämter, aber bescheiden. Und im Gegenzug der „perfekte“ Deutsche: zahlt regelmäßig an wohltätige Organisationen, fährt oft nach Israel, wo er sich wohlfühlt, weil alle so „warm und herzlich“ sind, schaut sich dort das ganze Land an, ist meistens auch etwas religiös, kann aber feiern, wenn’s drauf ankommt. Er ist eher linksintellektuell, aber nicht zu sehr, sonst wäre man wieder beim Antisemitismus, macht sich aber wirklich „Sorgen um die Palästinenser“ und um den Frieden in Israel, sowie im Rest der Welt. Äh, und wenn er nicht gerade vegan unterwegs ist, dann isst er auch gerne mal Würstchen mit Kartoffelsalat.
»Die ›perfekte Jüdin‹ macht mir als Konzept genauso Angst wie der ›perfekte Deutsche‹, denn das hieße, dass es eine bestimmte Norm gibt«
Moritz Eggert: Und in den USA glauben sie, dass wir alle viel primitiver sind als die großartigen Vereinigten Staaten, dass wir alle in erbärmlichen Umständen leben, technisch rückschrittlich sind und vor allem als Deutsche nur in Lederhosen herumlaufen und in verfallenen Burgen leben. Die „perfekte Jüdin“ macht mir als Konzept genauso Angst wie der „perfekte Deutsche“, denn das hieße, dass es eine bestimmte Norm gibt, wie man sein soll, um als „Jude“ oder „Deutsche“ zu gelten. Ich glaube an die Vielfalt der Menschen und möchte diese unbedingt bewahren. Bei Menschen, die nicht als Nachfahren von „Ureinwohnern“ – wer ist das schon in Deutschland? – in unserem Land leben, gibt es ja alle Spielarten: die, die sich mit dem Land, in dem sie leben, voll identifizieren und sich komplett assimilieren, oder diejenigen, die bewusst weiterhin offen ihre eigene Kultur leben. Der Brasilianer, der in Deutschland Samba tanzt und sich brasilianisch verhält, wird gemeinhin keine Probleme bekommen, wogegen der Jude, der hier bewusst „jüdisch“ auftritt, nach wie vor riskiert, angespuckt oder beleidigt zu werden. Ist da unsere oft gescholtene „Betroffenheitskultur“ nicht doch notwendig?
Talia Or: Die „Betroffenheitskultur“, die hier teilweise zelebriert wird, ist manchmal unangenehm und nicht unbedingt zielführend in der Verbesserung der Atmosphäre. Andererseits ist es schwierig, sich vorzustellen, wer sich hier freiwillig mit der jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen würde, gäbe es die vielen Veranstaltungen, den Lehrplan in den Schulen, die Sendungen im Fernsehen etc. nicht. Man muss nur nach Amerika schauen, um zu sehen, wie Desinformation gesät wird, und am Ende gar Holocaustleugner das Weiße Haus stürmen. Zu viel „verordnete“ Aufklärung ist mir lieber als das Gegenteil. Das rechte Maß zu finden ist nicht einfach, weil das Thema so monströs groß ist. Dafür sind aber nicht nur Juden in Deutschland verantwortlich, sondern fast noch mehr die Deutschen.
Moritz Eggert: Wir müssen einen Zustand erreichen, in dem ein Jude oder eine Jüdin in Deutschland so sein kann wie er/sie will, ohne dass es irgendein Problem dabei gibt. Mir gibt es jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn ich sehe, wie in anderen Ländern jüdische Kultur offen und ohne Scham gelebt werden kann, in New York zum Beispiel. Ich sehe das hier fast nie auf der Straße, weiß aber, dass es einmal in Deutschland ganz normal war.
Talia Or: Ich glaube, man kennt in Deutschland einfach wenig Juden persönlich, außer man lebt in Berlin. Da gab es eine kleine Einwanderungswelle von jungen Israelis, die sich die Stadt ein bisschen „zurückerobert“ haben. Was ich schön finde.
»Israelis sind berühmt für ihre Direktheit«
Moritz Eggert: Da sind doch bestimmt viele Musiker darunter – verhalten die sich anders als Deutsche? Zum Beispiel in der Probenkultur? Deutsche Orchester sind es gewohnt, dass sehr gründlich an Details gearbeitet wird oder dass der Dirigent auch mal lang seine Interpretation erklärt. In England ist das undenkbar, da die Probenzeit viel begrenzter ist. Ein Dirigent, der dort lange rumlabert, kommt schlecht an. Gewünscht sind brillante Schlagtechnik und größtmögliche Effizienz sowie die Fähigkeit, gute Stimmung zu erzeugen. Jede Kultur ist anders, und deutsche Musiker im Ausland müssen sich genauso an diese jeweiligen Spielkulturen anpassen, wie es umgekehrt ausländische Musiker in Deutschland tun. Wie sieht das in Israel aus?
Talia Or: Israelis sind berühmt für ihre Direktheit. Für einen Deutschen oder vor allem Amerikaner kann das unhöflich rüberkommen. Meine Wahrnehmung von Israelis – weniger bei Musikern, die sind ja überall eine Art fahrendes Volk – ist, dass man eher Klartext redet und weniger auf die Gefühle der anderen Rücksicht nimmt aus einem Gefühl von „Ehrlichkeit geht über alles“ heraus. Die Probenzeit ist, wie du es von England erzählst, wesentlich kürzer, und die Musiker reagieren positiv auf Dirigenten, die klar schlagen, voller Energie scheinen und weniger und direkter reden. Im Allgemeinen gibt es in Israel viele Musiker aus der Sowjetunion, das heißt, das Niveau ist hoch. Andererseits herrscht eine demokratische Stimmung. Es wird gerne geschwatzt, und ein Dirigent muss klar über den Dingen stehen und eine Richtung vorgeben, um ernst genommen zu werden. Und manchmal geschehen Sachen, die hier eher ungewöhnlich wären.
Moritz Eggert: Zum Beispiel?
Talia Or: Vor ein paar Jahren habe ich ein kompliziertes Stück von Liszt mit dem Rundfunkorchester in Israel singen dürfen. Das Orchester war überfordert, der Chor war auch nicht gerade bestens vorbereitet, daher hatte der arme Dirigent richtig was zu tun. Er war außerdem ungeduldig und cholerisch. Erst kurz vor der Première kam die Organistin dazu, die gefühlte 85 Jahre alt war und so etwas in ihrem Leben noch nie hatte spielen müssen. Sie saß in der Probe brav vor ihrem Orgelpositiv und schien fast einzuschlafen. Irgendwann kam die Stelle, wo sie das Solistenquartett begleiten musste. Leider spielte sie in einer komplett anderen Tonart, vielleicht stimmten ihre Noten nicht, oder sie sah nicht mehr richtig. Jedenfalls sangen wir alle tapfer weiter, während der Dirigent in einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und dem Versuch, ihr zu helfen, immer und immer wieder auf Hebräisch schrie: „Nein, Ruthi, neeeeeiiiiiinnnnnn! F‑Moll!! F!!! Ruthiiiii!!! Wir sind in F!!!“ Bis sie irgendwann merkte, dass sie gemeint war. Er schlug dann doch ab und begann von vorne. Allerdings hatten wir zu dem Zeitpunkt Tränen in den Augen vor Lachen. Es war zu komisch, ihn beim Dirigieren zu beobachten, bloß nicht „aufzugeben“, und stattdessen wie ein Wahnsinniger über ein riesiges Orchester und vier ausgewachsene Solisten zu brüllen, um die Aufmerksamkeit der armen Organistin zu erlangen. So was gibt es, glaube ich, nur in Israel.
Moritz Eggert: Da muss ich unbedingt mal hin!
Talia Or: Es würde dir gefallen!