Terence Blanchard
»Ich wollte eine Musik schreiben, die alles umfasst«
von Ruth Renée Reif
16. Oktober 2021
Terence Blanchard bescherte der Metropolitan Opera einen historischen Abend. Mit „Fire Shut Up in My Bones“ gelangte zum ersten Mal die Oper eines schwarzen Komponisten auf die Bühne.
Terence Blanchard komponierte mit Fire Shut Up in My Bones seine zweite Oper. Das von Kasi Lemmons verfasste Libretto basiert auf den Erinnerungen von Charles M. Blow, der wie Blanchard in Louisiana aufwuchs. Nach ihrer Uraufführung in St. Louis gelangte die Oper zur Saisoneröffnung 2021/2022 an der Metropolitan Opera in New York zur Aufführung. James Robinson und die Choreografin Camille A. Brown setzten sie in Szene. Am Pult stand Yannick Nézet-Séguin. Im Gespräch blickt Blanchard, der als Jazzkomponist, Trompeter und Filmkomponist bekannt wurde, zurück auf seinen Vater und seine Lehrer. Er erklärt, warum es Veränderungen geben muss und die Aufführung seiner Oper an der Met nicht bloß ein Zeichen ist.
CRESCENDO: Mister Blanchard, zu Beginn unseres Gesprächs möchte ich Ihnen herzlich zu der beeindruckenden Aufführung Ihrer Oper Fire Shut Up in My Bones an der Metropolitan Opera gratulieren. Ich weiß allerdings nicht, ob ich Ihnen auch dazu gratulieren soll, dass Sie in der Geschichte der Met der erste schwarze Komponist sind, dessen Oper auf die Bühne kommt…
Terence Blanchard: Meine Gefühle sind gespalten. Es ist wundervoll, die Aufführung meiner Oper an der Met zu erleben und zugleich der erste schwarze Komponist zu sein, dem diese Auszeichnung zuteilwird. Andererseits bewegt mich das Wissen, nicht der erste zu sein, der diese auch verdient. Ich muss an all die großartigen afroamerikanischen Komponisten der Vergangenheit denken wie Scott Joplin, der Anfang des 20. Jahrhunderts ein Opernunternehmen gründete und diese wunderbare Oper Treemonisha schrieb, oder William Grant Still. Er komponierte neben Sinfonien, Chorwerken und Balletten auch eine Vielzahl an Opern. Sie erhielten keine Gelegenheit, mit ihren Opern auf die Bühne der Met zu kommen, an der so unvergleichliche Inszenierungen geschaffen werden. Das schmerzt.
Wie Sie in einem Interview erzählen, verdanken Sie die Liebe zur Oper Ihrem Vater. Damit stellen Sie zugleich die Sicht auf die Oper als weiße westliche Kunstform infrage.
Mein Vater gehörte zu jenen Afroamerikanern, deren Opernleidenschaft von Osceola Blanchet geweckt wurde. Blanchet war Chemielehrer an einer Schule in New Orleans. Seine Liebe aber gehörte der Musik. Er spielte Klavier und Orgel und trat in Jazzbands auf. Nach den offiziellen Schulstunden erteilte er Unterricht in Musik. Er war ein begnadeter Lehrer und begeisterte seine Schüler auch für klassische Musik und vor allem für Opern. Zudem organisierte er Aufführungen von Operetten und Opern. Wenn einem solche Menschen begegnen, versteht man, wie viele Afroamerikaner diese Kunstform Oper lieben. Es ist ein verengter Blick, die Oper nur einer Gruppe von Menschen zuzusprechen und andere auszuschließen. Wir haben erlebt, dass so viele Menschen Opern aufführen können und dass Menschen aller Gesellschaftsschichten und jeden Geschlechts Geschichten erzählen können, die Stoff für eine Oper abgeben. Ich träume davon, was geschieht, wenn wir erkennen, was da vor uns liegt.
In Fire Shut Up in My Bones haben Sie mehrere musikalische Idiome verflochten, klassische Arien und Ensembles ebenso wie Jazz und Blues. Hatten Sie Vorbilder für ihre Komposition?
Meine Vorbilder waren Igor Strawinsky, Giacomo Puccini und all die großen Komponisten. Strawinsky ließ sich von ungarischen Motiven anregen, nachdem er während des Ersten Weltkriegs in Genf den ungarischen Roma-Musiker Aladár Rácz kennengelernt hatte. Aus diesen Einflüssen schuf er fantastische Musik. Dasselbe versuche ich mit den musikalischen Erfahrungen, die mich begleiteten, Blues, Jazz, Gospel und klassische Musik. Die Ideen können von überallher kommen und dann etwas Großartiges entzünden. Es ging mir nicht darum, Musik aus einem Genre oder einer bestimmten Epoche zu schaffen. Was ich wollte, war eine Musik, die alles umfasst.
Tatsächlich wurde Ihre Oper von klassischen Musikkritikern ebenso gefeiert wie von Jazz-Kritikern. Sie hätten etwas geschaffen, das man auf der Bühne der Met so noch nicht gesehen und gehört habe, eine neue Form von Oper. War es das, was Sie anstrebten?
Nein, in eine solche Richtung denke ich nicht. Es ist nicht mein Ziel, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen. Wenn man so etwas versucht, begibt man sich auf eine falsche Fährte. Ich konzentrierte mich darauf, mit meinem Können und meinen Erfahrungen, eine Geschichte für die Bühne zu erzählen.
Haben Sie am Probenprozess teilgenommen?
Ich war jeden Tag auf den Proben, um musikalische Erläuterungen zu geben, wenn Sänger Fragen hatten oder wenn längere Instrumentalpassagen für Bühnenumbauten notwendig waren. Manchmal bemerkte ich auch in der Inszenierung etwas, dessen Bedeutung ich erklärte. Aber ich bin kein Regisseur, und ich nahm diese Rolle auch nicht ein. Mir war es nur wichtig, dass alle sich wohlfühlten bei ihren Aufgaben. Ansonsten war ich objektiver Beobachter.
Rudolf Bing war in der Vergangenheit der Direktor der Met, der die Türen für schwarze Künstler öffnete. Hat er in Peter Gelb nun einen Nachfolger gefunden?
Peter hat verstanden, dass es Veränderungen geben muss. Er hat mir nie gesagt, dass ich der erste afroamerikanische Komponist bin, dessen Oper an der Met gespielt wird. Alle Gespräche mit Peter drehten sich nur um die Frage, wie wir meine Oper auf die Bühne bringen. Dass ich der erste Afroamerikaner war, fand ich erst heraus, als mich ein Journalist darauf ansprach. Da erfuhr ich auch, dass Camille die erste afroamerikanische Regisseurin war und dass Peter für 2022 eine Inszenierung von Anthony Davis« Oper X, The Life and Times of Malcolm X geplant hat. Das alles zeigt mir, dass er mit meiner Oper nicht bloß ein Zeichen setzte. Peter und Yannick bewegt die Idee, Opern an die Met zu bringen, deren Handlung mit dem Leben heutiger Menschen verbunden ist. Sie wollen, dass das Publikum sich auf der Bühne wiederfindet.
Sie beklagten einmal, dass all diejenigen, die Sie in der Kunst positiv beeinflussten, Afroamerikaner waren, sich aber keiner von ihnen einen Namen machte. Wird das kulturelle Erbe schwarzer Künstler – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa – zu wenig gewürdigt?
Viele meiner Lehrer, die großartige Komponisten waren wie Roger Donald Dickerson oder Hale Smith, der wiederum von Howard Swanson beeinflusst wurde, werden bis heute kaum gespielt. Ich erinnere mich, wie ich Roger nach seinem Requiem für Louis Armstrong A Musical Service for Louis fragte. Die Noten lagen vor uns, und ich wollte wissen, wann es aufgeführt werde. Seine Antwort lautete, wenn überhaupt, dann im Februar, dem Black History Month. Solche Antworten brechen mir das Herz. Denn sie bedeuten, dass all diesen afroamerikanischen Komponisten, die Erfahrung, ihre Musik aufgeführt zu hören, vorenthalten wurde.
Ich hatte das Glück, zu erleben, wie meine Kompositionen von Orchestern gespielt werden. Daher weiß ich, welch wichtigen Lernprozess eine solche Aufführung für das Komponieren des nächsten Stücks darstellt. Es ist unfassbar, wie diese Komponisten auch ohne diese Erfahrung so wunderbare Musik schreiben konnten. Stellen Sie sich vor, was diese Komponisten für die klassische amerikanische Musik hätten leisten können, wenn ihre Musik regelmäßig aufgeführt worden wäre und sie sich hätten entwickeln können. Das ist eine Tragödie!
2008 wurde mit Barack Obama der erste schwarze Präsident ins Weiße Haus gewählt. Wie Ta-Nehisi Coates schreibt, war alles im Aufschwung und verheißungsvoll. Aber dann kam Trump als „schockierende Antwort auf Obamas erfolgreiche Regierungszeit“. Fürchten Sie einen erneuten Rückschlag?
Wann immer in Amerika Demonstrationen stattfanden, sei es für Frauenrechte oder für die Rechte der Schwarzen, riefen diese Gegenreaktionen hervor. Aber wir erzielen Fortschritte. Die Mehrheit des Landes ist zu Veränderungen bereit. Wir wollen keine homogene Gesellschaft. Die Phase, in der wir uns jetzt befinden, lässt uns erkennen, dass Freiheit nicht leicht zu erringen ist. Wir müssen uns für sie einsetzen, um unsere Vielfalt feiern zu können.
Der Schriftsteller James Baldwin bezeichnete es 1974 in einem Interview als den Schlüssel der amerikanischen Tragödie, dass die Amerikaner die Wahrheit über ihre Geschichte und ihr Erbe verleugnen. Wie beurteilen Sie die mangelnde Aufarbeitung des Kolonialismus und der Sklaverei?
Wir müssen uns der Geschichte bewusst sein. Rückgängig machen können wir sie nicht. Wir können nur versuchen, sie Schritt für Schritt zu überwinden, indem wir einen ersten afroamerikanischen Präsidenten wählen und die Vorstellung, dass dieses Land für alle sein soll, nicht aufgeben. Dazu gehört auch das Eintreten für die Rechte der Gemeinschaft aller Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Jeder hat das Recht, in Frieden und Harmonie zu leben. Es ist ein zäher Kampf, weil einige Menschen keine Veränderung wollen. Sie verstehen deren Bedeutung nicht. Aber es bleibt niemals etwas gleich. Man steht nie am selben Ort, weil die Welt um einen sich weiterbewegt. In meinem Land lernen wir das auf schmerzhafte Weise. Wir sehen, was Trump rund um die Welt ausgelöst hat, sogar in Europa. Denken Sie nur an Großbritannien!
Ihre Oper Fire Shut Up in My Bones, die auf den Memoiren von Charles M. Blow und seiner Kindheit in Louisiana basiert, wo Sie ebenfalls aufwuchsen, behandelt auch das Thema Kindesmissbrauch und die Vorstellungen von Männlichkeit. Ist dieses ersehnte Machtgefühl der Männer nach wie vor ein gesellschaftliches Problem?
Schauen Sie sich in der Welt um! Macht korrumpiert. Sie ist eine gefährliche Droge. Ich sprach gerade mit einigen Freunden darüber, wie Politiker, die mit guten Absichten in die Politik einstiegen, nach vier oder fünf Jahren wie verwandelt erscheinen. Sie wollten diese Macht, nach eigenem Gutdünken zu handeln und Entscheidungen zu treffen, unbedingt behalten. Darum brauchen wir die Künste. Sie helfen uns, das Bewusstsein eines höheren Ziels des Lebens zu erlangen, einander zu lieben und wertzuschätzen, wie verschieden wir auch sein mögen.
Sie sind sehr vertraut mit dem Medium Film und haben die Musik zu über 40 Filmen komponiert. Wie ist es für Sie, wenn die Met-Aufführung Ihrer Oper jetzt auch in Deutschland im Kino gezeigt wird?
Ich bin überwältigt. Die Vorstellung, dass so viele Menschen diese Oper anschauen können, wirft mich um. Es ist dasselbe Gefühl wie damals, als ich erfuhr, dass die Met meine Oper aufführen möchte. Ich konnte es kaum fassen. Aber dann erlebte ich, wie all die Menschen daran arbeiteten, dass die Aufführung Wirklichkeit wurde. Viele sagten mir, sie wünschten, sie wären in New York, um die Aufführung zu sehen. Jetzt erhalten sie die Gelegenheit. Ich bin Peter so dankbar, dass Fire Shut Up in My Bones zu den Opern gehört, die ins Kino kommen.
Fire Shut Up in My Bones ist nach Champion Ihre zweite Oper. Wird es eine dritte geben?
Möglicherweise. Yannick sagte in der Nacht der Première zum Publikum, man möchte mich offiziell beauftragen, eine weitere Oper zu schreiben. Meine Antwort war, dass ich erst darüber schlafen möchte.
Weitere Termine und Informationen zu „Met Opera live im Kino“ unter: www.metimkino.de