Wagnerianer
Weltreise im Wagner-Wahn
von Axel Brüggemann
26. Oktober 2021
Von Tokio bis Newark, von Riga bis Abu Dhabi: Wagnerianer sind überall. Wie kommt es dazu, was treibt sie an, und ist Wagner eigentlich eine Weltreligion?
Es gibt Verdi-Fans und Mozart-Liebhaber – und: Es gibt Wagnerianer! Sie gehen nicht einfach in Opern, sie pilgern. Ihr Lieblingskomponist ist nicht einfach ein Mensch, sondern „der Meister“, und eine Aufführung ist für sie nicht einfach ein Opernbesuch, sondern vielmehr ein Gottesdienst.
Wagnerianer gibt es, seit es Richard Wagner gibt. Und seit jeher wachsen und scheitern sie an ihrem Helden. Friedrich Nietzsche war einer der größten Wagner-Fans, schrieb Pamphlete für sein Idol, schickte ihm Seide aus Paris und wollte sogar seine Werke dirigieren. Dann wurde er vom Grünen Hügel verbannt und wetterte gegen den Komponisten: „Wagners Kunst ist krank!“ Auch Pjotr Iljitsch Tschaikowski rieb sich an Wagner: „Früher war man bemüht, die Leute durch die Musik zu erfreuen“, schrieb er nach dem Besuch von Die Walküre bei den allerersten Bayreuther Festspielen, „heute jedoch quält man sie.“ Und Hollywood-Star Woody Allen witzelte: „Ich kann nicht so viel Musik von Wagner hören. Ich hätte sonst den Drang, Polen zu erobern.“ Ein Zitat, das die Ambivalenz der Musik Wagners und seiner Rezeption beschreibt.
Wagner ließ Märchenkönig Ludwig II. seine Kunst finanzieren, wurde später in Preußen gefeiert und von den Nationalsozialisten und Hitler verehrt. Inzwischen schlendern auch demokratische Politiker – schwarze, grüne und gelbe – wieder über den roten Teppich auf dem Grünen Hügel. Wagnerianer sein bedeutet zu begreifen, dass Wagners Bayreuth so etwas ist wie eine deutsche Musik-Monarchie, die alle Wandlungen der Nation mitgemacht, durchlebt und überwunden hat. Wagners einstiges Wohnhaus, die Villa Wahnfried, ist der Buckingham-Palast, das Festspielhaus ihr Petersdom.
Wagner als Weltreligion
Der Zugang der Wagnerianer zu ihrem Komponisten ist so divers wie dessen Rezeption: Sozialisten wie George Bernard Shaw haben Wagner ebenso verehrt wie böse Nazis oder aufrichtige Demokraten. Es gibt heißblütige Wagner-Fans in den USA und in Russland, in Tokio und in Peking, Moslems ebenso wie Juden oder Christen. Wagner ist so etwas wie eine Weltreligion. Das war schon immer so und gilt noch heute.
Regelmäßig treffen sich die Wagner-Jünger, um Wagners Werk zu debattieren, seine Wirkung und vor allen Dingen: um sich in ihrem Glauben zu bestätigen. Vor der Pandemie traf man sich im Palazzo Vendramin in Venedig, dem heutigen Casino der Stadt – einst letzter Wohnort des Komponisten. Dieses Jahr treffen sich die Wagnerianer der weltweiten Wagnerverbände in München – in jener Stadt, in der unter anderem sein Tristan uraufgeführt wurde und aus der Wagner auf Geheiß Ludwigs II. ausziehen musste, um seinen Tempel in Bayreuth zu errichten. Wie kann es sein, dass Wagners Welt so gegensätzliche Kulturen zusammenführt, Menschen, deren Religionen oder Regierungen sich andernorts bekriegen? Wie kann es sein, dass ein Moslem und ein Jude Wagner vollkommen unterschiedlich lesen – und sich trotzdem über ihn verständigen können?
Kevin Maynor stammt aus Newark, wurde in einer farbigen Kirchen-Community sozialisiert, hat den Gesang entdeckt und Karriere als Bariton gemacht. Er sang in den USA und in europäischen Häusern wie Straßburg. Mitten in der Pandemie hat er den ersten Ring des Nibelungen in Newark aufgeführt, gesungen von einem Ensemble aus farbigen Sängerinnen und Sängern – auf dem Sportplatz einer Schule, mitten in einem Orkan und mit reduzierter Besetzung. Es gibt YouTube-Videos dieser absurden Aufführung. Längst nicht alles ist perfekt, aber jede Note erklingt voller Leidenschaft. „Weißt du“, sagt Kevin Maynor, „wir farbigen Menschen kennen die Themen, die Wagner in seinen Opern bespricht, nur zu gut: das Spiel zwischen den mächtigen Göttern, die immer mächtiger werden, und den armen Alben, die in der Dunkelheit leben und immer wieder aufs Neue getreten werden. Ganz zu schweigen von all den zutiefst menschlichen Themen wie Liebe, Hass und Eifersucht.“ Für Kevin Maynor ist es überhaupt nicht absurd, dass ausgerechnet die Musik von Hitlers Lieblingskomponisten die heutigen Lebensverhältnisse der Person of Color-Community von Newark widerspiegelt. „Hör doch einfach Tristan und Isolde an“, sagt Kevin Maynor, „danach weißt du, was Liebe und Lust bedeuten – für alle Menschen!“
Auf der anderen Seite der Welt sitzt einer der reichsten Menschen Japans in einem Probensaal im Finanzdistrikt Tokios und beobachtet, wie Katharina Wagner den Parsifal als Kinderoper probt. Eigentlich verdient Koichi Suzuki Millionen mit der Technik für Mobiltelefone. Aber seine wahre Leidenschaft gehört Richard Wagner. „Ich habe die Musik Wagners als Kind im Radio gehört“, sagt er, „und seither war es um mich geschehen. Meine Familie und meine Freunde verstehen meine Leidenschaft nicht wirklich. Aber für mich ist Wagners Musik eine Offenbarung.“ Suzuki reist regelmäßig nach Bayreuth und will durch Katharina Wagners Inszenierung des Parsifal japanische Kinder für den Komponisten begeistern. „Ehrlich gesagt habe ich den Parsifal selber noch nicht richtig verstanden“, beichtet Suzuki in einer Probenpause, „aber man kann ahnen, dass es in dieser Musik einfach um alles geht.“ Die Wagner-Begeisterung der Japaner hat übrigens im letzten Jahrhundert begonnen, als der preußische Staat als Vorbild bei der Staatsgründung des ostasiatischen Landes diente. Wagner und sein Werk waren das kulturelle Pendant dazu.
Staatspolitisch aufgeladen ist die Musik Wagners auch bei den Wagnerianern in Riga. Ihr Vorsitzender ist der ehemalige lettische Ministerpräsident Māris Gailis. Das Land hat eine große Anzahl von Weltklassemusikern hervorgebracht: Dirigenten wie Mariss Jansons oder Andris Nelsons und den Bayreuth-Sänger Eglis Silins, der heute das Opernhaus in Riga leitet. „Eine große Rolle spielt dabei die Chortradition der Letten“, erklärt Gailis, „und natürlich auch Richard Wagner.“ Wagner war Musikdirektor in Riga, musste aufgrund seiner Schulden aber fliehen (auf der Flucht komponierte er übrigens Der fliegende Holländer). Gailis und seine lettischen Wagnerianer-Freunde wollen Wagners Wohnhaus zum Museum umbauen und sammeln Geld, unter anderem mit einem Wagner-Chor-Flashmob in Riga. „Wagner gehört zu unserer Geschichte“, sagt Gailis, „während der sowjetischen Besatzung spielte er keine Rolle, umso wichtiger ist es, ihn nun wiederzuentdecken.“
Nirgends verbindet Wagner die Weltanschauungen intensiver als im Nahen Osten. Lange war es verboten, die Musik des Komponisten in Israel zu spielen – aufgrund der nationalsozialistischen Wagner-Tradition. Der Dirigent Daniel Barenboim hat als Erster mit diesem ungeschriebenen Gesetz gebrochen, und inzwischen gibt es auch in Israel lebendige Wagner-Verbände. Einer wird vom Rechtsanwalt Jonathan Livny geleitet. Sein Vater war vor Hitler nach Israel geflohen – lediglich mit einigen Fotos, Uni-Diplomen und Wagner-Schallplatten im Gepäck. „Ich sehe es nicht ein, Wagner hassen zu müssen, nur weil Hitler ihn geliebt hat“, sagt Livny. „Das beliebteste Auto in Israel ist ein VW, ausgerechnet der Wagen, der von Hitler gefördert wurde. Durch unser Land fahren deutsche Züge – Züge, die früher Juden in die Konzentrationslager gebracht haben. Mit all dem haben wir kein Problem mehr, weil ‚Made in Germany‘ für Qualität steht. Warum“, fragt Livny, „sollen wir dann ausgerechnet weiterhin Wagner boykottieren? Das macht keinen Sinn!“ Der Rechtsanwalt fährt regelmäßig nach Bayreuth, „das erste Mal, als die Türen des Festspielhauses geschlossen wurden, fühlte ich mich eingesperrt“, sagt er, aber heute ist Bayreuth für mich ein idealer Ort, um Wagners Musik zu hören.
Einheit von Text und Musik wie in den Gebeten von Juden, Christen und Moslems
Auch Scheich Zaki Anwar Nusseibeh kommt regelmäßig nach Bayreuth. Als Moslem in Jerusalem geboren, war er an der Gründung von Abu Dhabi beteiligt und hier auch als Kulturminister tätig. In seiner Villa stapeln sich westliche Kunstwerke und Bücher. Die antisemitische Vergangenheit seines Landes relativiert er – und dabei hilft ihm ebenfalls: Richard Wagner. „Ich habe großes Verständnis für Barenboim und für die Schwierigkeiten der Juden mit der Rezeptionsgeschichte Wagners“, sagt Nusseibeh. Er selbst hört in Wagners Musik etwas, was vielleicht alle Religionen verbindet: „die Einheit von Text und Musik, so wie sie Juden, Christen und Moslems aus ihren Gebeten kennen. Musik, die über uns Menschen hinausführt in das Überzeitliche“.
Am Ende einer Wagner-Weltreise bleibt die Frage offen, was eigentlich der Grund dafür ist, dass Menschen mit vollkommen unterschiedlichen Weltanschauungen und Religionen sich in dieser Musik wiederfinden. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Wagner zu egoistisch war, um ideologisch zu sein, dass er eine Art Privatreligion gegründet hat, die er immer wieder flexibel seiner eigenen Situation angepasst hat: Half ihm ein König, war er Monarchist, enttäuschte ihn die Monarchie, stieg er als Anarchist auf die Barrikaden, im Christentum fand er die Schönheit des Leidens, im Buddhismus die Achtung vor den Tieren, im Judentum die großen Geschichten des Ahnvaters und des Alten Testaments. Richard schneiderte sich sein Weltbild nach persönlicher Lage zurecht. Diese Anpassungsfähigkeit öffnet vielleicht auch seine Werke für die persönlichen Befindlichkeiten seiner Anhänger, für alle Wagnerianer – weltweit.
Axel Brüggemann im Gespräch zu seinem Film Wagner Bayreuth und der Rest der Welt unter: CRESCENDO.DE