William Youn

Stiller Exeget

von Stefan Sell

24. Oktober 2021

William Youn veröffentlicht den zweiten Teil seiner Gesamteinspielung der Klaviersonaten Franz Schuberts und erläutert im Gespräch, was er an Neuem zeigen möchte.

Es ließe sich ein Feuer­werk zünden mit Kriti­ker­hymnen: „lyri­sches Talent“, „echter Poet“, „Tasten­phi­lo­soph“. Attri­bute der eher leisen Sorte – wie William Youn selbst. Fein­nervig setzt er die Einspie­lung der Schu­bert-Sonaten fort. Revo­lu­tion wäre wieder ein zu lautes Wort – aber man hat Schu­bert so noch nie gehört…

„Der schönste Schatz gehört dem Herzen an, das ihn erwi­dern empfinden kann.“ Hat Schu­bert diese Zeile Schil­lers auch nicht vertont, so ist es doch ein Satz, der wie kaum ein anderer die Wahr­haf­tig­keit von Gefühlen offen­bart. Dies trifft auf beson­derer Weise auf die Inter­pre­ta­tion der Klavier­so­naten Schu­berts von William Youn zu, der mit seinem neuen Doppel­album diesen seinen „schönsten Schatz“ mit uns teilt.

Sein bishe­riger Lebens­lauf ist im wahrsten Sinne ein roman­ti­scher: zeitiger Aufbruch, um in der Fremde das Ersehnte zu finden. Früh verließ er seine Heimat Südkorea, um nach zu gehen, kam dann nach an die Musik­hoch­schule zu Karl-Heinz Kämmer­ling und wurde Stipen­diat an der Inter­na­tional Piano Academy Lake in Dongo, . Seine gewählte Heimat ist , seine wahre: die Bühne. Um genau zu sein: Wirk­lich zu Hause ist er auf den großen Bühnen dieser Welt. Er besitzt nicht nur die außer­ge­wöhn­liche Gabe, mit wenig Tönen alles sagen zu können, sondern hat zudem eine Ausstrah­lung voller Sanftmut und Einfühl­sam­keit. Auf die Frage, ob er schüch­tern sei, zögert er lange, sagt dann aber ganz klar: ja. Dass jedoch schüch­terne Menschen, die eher zurück­hal­tend sind, für ihn zu den inter­es­san­teren zählen.

William Youn, an den Stamm eines Baumes gelehnt
Folgt seinem Verständnis von Franz Schu­berts Klavier­so­naten: William Youn

So anma­ßend es klingen mag: Wir haben in William Youn einen neuen Schu­bert-Exegeten gefunden, der uns den wohl sensi­belsten aller Früh­ro­man­tiker noch einmal auf eine bisher nicht gekannte Weise nahe­bringt. Hier erzählt der Pianist im Gespräch von den großen Erwar­tungen, denen er sich ausge­setzt fühlt. Und doch ist es ihm mehr als gelungen, diese Erwar­tungen zu über­treffen. Er hat sich frei gespielt und ist ganz seinem Verständnis von Schu­berts Klavier­so­naten gefolgt.

William Youn

»Die Einsam­keit in Schu­berts Musik hat mich sehr berührt.«

CRESCENDO: Spielen zu können wie Sie kann Gabe und Fluch glei­cher­maßen sein. Hat die Einspie­lung mehr von Ihnen gefor­dert, als Sie erwartet haben?

William Youn: Natür­lich, denn es gibt eine Erwar­tung, nachdem die Reso­nanz auf Album wirk­lich sehr gut war. Zunächst macht man ja alles mit großer Vorfreude – jetzt aber musste ich liefern. Zudem gibt es schon so viele gute Aufnahmen. Inso­fern werden sich viele fragen, was denn das Beson­dere sei, was ich mache? Warum es noch eine Aufnahme von der berühmten B‑Dur-Sonate braucht? Inner­lich zweifle ich immer, ob es genug ist. Jeden Tag sehe ich Schu­berts Musik ein biss­chen anders. Man entwi­ckelt sich so ja auch, und das ist gut so. Ich glaube, alle Musiker kennen diese Zweifel.

Zweifel wirft Schatten – Schatten, in denen sich Schu­bert schon verloren hat. Er hatte diese Verlo­ren­heit, diese Verletz­lich­keit, das Heimat­lose, das Finden des Trostes in der Musik. Finden diese Dinge bei Ihnen Reso­nanz?

Ja, absolut. Dieses Verlas­sen­sein kenne ich gut von mir selbst. Wegen meiner Konzerte reise ich viel und muss mir entspre­chend immer eine neue Heimat suchen. Zugleich muss ich aber auch nach mir suchen: Wer bin ich, was möchte ich machen? Diese Thematik in Schu­berts Biografie und in seiner Musik spricht mich an. Die Einsam­keit in seiner Musik hat mich sehr berührt und mir beson­ders jetzt, während der Corona-Zeit, auch sehr geholfen.

William Youn

»Schu­berts Musik ist viel größer als das, was man in einem Moment verwirk­li­chen kann.«

Die zweite der beiden CDs eröffnet die schwe­bend traum­wand­le­ri­sche Fantasie der G‑Dur-Sonate D 894, deren Charakter – bis auf den heraus­bre­chenden dritten Satz – als Grund­stim­mung durch alle Sätze weht. Hatten Sie bei der Einspie­lung auch mal das Gefühl, mit Schu­bert sei ob all dem Facet­ten­reichtum nie fertig­zu­werden?

Ja, denn seine Musik ist viel größer als das, was man in einem Moment verwirk­li­chen kann. Die letzte Aufnahme habe ich vor zwei Jahren gemacht, und wenn ich sie heute höre, denke ich „Oh, das könnte ich jetzt besser“. Ich glaube, tatsäch­lich war sich Schu­bert selbst nicht bewusst, was er da schreibt. Ich habe die G‑Dur- und c‑Moll-Sonate in einer CD aufge­nommen. Das sind zwei Welten, die wirk­lich sehr unter­schied­lich sind, und trotzdem hat er sie inner­halb von ein paar Monaten nach­ein­ander geschrieben. Kann das möglich sein, dass jemand so extreme Welten in sich hat? Ja, ich glaube, Schu­bert hat diese Extreme erlebt. Aber er wusste es nicht, und er hat das so auch nicht geplant. Ich würde behaupten, das kann man in einem Leben nicht noch mal erleben, so wie er es erlebt hat, was er durch­ge­macht hat.

In der c‑Moll-Sonate D 958 findet sich unter anderem ein Anklang an Beet­ho­vens Pathé­tique. Gibt es noch mehr Beispiele, in denen man hören kann, wer oder was Schu­bert inspi­riert hat?

Unend­lich viele. Was wirk­lich überall durch­schim­mert, sind die Spuren von Beet­hoven. Er wollte ja tatsäch­lich so schreiben wie Beet­hoven. Es gibt viele Beispiele, da fängt er auch so an und folgt dann seinem ganz eigenen Weg. So entsteht eine ganz eigen­wil­lige Mischung – man findet sie vor allem in den früheren Werken Schu­berts. Denn natür­lich hat er eigent­lich von Anfang an nach seinem eigenen Stil gesucht. Will man Schu­bert als ersten Roman­tiker sehen, so ist es ja die Schnitt­stelle von der Klassik zur Romantik. Viel­leicht kann man diese Zeit mit einer Art Pubertät verglei­chen – mit dem Prozess der Verwand­lung.

William Youn im Wald
Das Spiel lässt ihn alles vergessen: der Pianist William Youn

Die a‑Moll-Klavier­so­nate D 537 eröffnet Ihre neue Einspie­lung. Einigen ist diese Sonate erst durch den Film Zimmer mit Aussicht vertraut geworden. Der zweite Satz stellt ein wunder­volles, gera­dezu medi­ta­tives Thema vor, das Schu­bert elf Jahre später, kurz vor seinem Tod, im letzten Satz seiner eben­falls in a‑Moll verfassten Klavier­so­nate D 959 wieder aufge­griffen hat. Mit dem Adagio D 612 bauen Sie eine Brücke zwischen den beiden Sonaten – was absolut stimmig klingt. Mit dem Allegro ma non troppo der Klavier­so­nate D 537 schließ­lich gelingt Ihnen ein äußerst empfind­samer Auftakt, dessen freier Umgang mit den Tempi weniger von Schüch­tern­heit als von Entschie­den­heit zeugt. Wie war das, als Sie in Schloss Elmau vor dem Flügel saßen? Über­wogen die Erwar­tungs­ängste, oder war der Sog der Musik stark genug, frei und von allem gelöst spielen zu können?

Die D 537 ist eine Sonate wie eine Impro­vi­sa­tion, es gibt ganz viele Pausen. Beson­ders im dritten Satz finden sich viele Frag­mente, plötz­liche Pausen. Und dann kommt ein neuer Charakter, eine neue Idee – als würde Schu­bert träumen. Wenn ich das spiele, dann mache ich – so hoffe ich zumin­dest – genau dieselben Prozesse durch wie Schu­bert selbst. In dem Moment vergesse ich alles: dass aufge­nommen wird, für wen ich das aufnehme, wo ich spiele…

Genau das hört man, diese Selbst­ver­ges­sen­heit, dieses zu 100 Prozent der Musik verpflichtet sein.

Bei Schu­bert ist es tatsäch­lich so, dass ich meine Konzepte habe. Und die möchte ich bei der Aufnahme trans­por­tieren. Ich will etwas Neues zeigen, das die Leute entde­cken sollen. Aber wenn ich dann spiele, vergesse ich das oft. Mitunter sind die Ideen von Schu­bert – ja, man könnte sagen, fast unlo­gisch, wie Träume. Das muss man im wahrsten Sinne des Wortes erleben, sogar richtig durch­leben, dann kommen die erar­bei­teten Konzepte von allein. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb es so unter­schied­liche Aufnahmen von Schu­bert gibt. Natür­lich spielt Radu Lupu ganz anders als , aber wir akzep­tieren die unter­schied­li­chen Inter­pre­ta­tionen.

William Youn

»Ich brauche einen Moment der Ruhe, bevor ich anfange zu spielen. In diesem Moment der Ruhe spüre ich die Wahr­neh­mung.«

In Ihrer Inter­pre­ta­tion beginnt der lang­same Satz der Klavier­so­nate D 959 so zart, so sanft, dass die berühmten cis-Moll-Akkorde umso brachialer wirken. Wollten Sie den Kontrast poten­zieren?

Ich finde diesen Satz groß­artig. Er ist eines der stärksten Stücke der Klavier­li­te­ratur. So etwas, glaube ich, gibt es nicht noch einmal. Ich spüre da, dass Schu­berts Tod sehr nahe ist. Das sind regel­rechte Ausraster. Es geht dabei um seine Gefühle, einen Teil von ihm, den er nicht oft gezeigt hat. Er wird hier so persön­lich – er spürt, dass es einfach nicht mehr geht. Da bekomme ich immer Gänse­haut, wenn dieser vehe­mente Teil kommt.

Gibt es Dinge außer­halb der Musik, die Ihnen in der Vorbe­rei­tung helfen, sich zu fokus­sieren, sich zu konzen­trieren?

(hält inne, macht eine lange Pause) Ruhe finde ich sehr wichtig. Ich brauche einen Moment der Ruhe, bevor ich anfange zu spielen, einen Moment der Wahr­neh­mung. Ich bin – wenn man so will – ein Mediator. Ein Schau­spieler, der erst einmal beob­achtet, was passiert. In diesem Moment der Ruhe spüre ich die Wahr­neh­mung. Wie soll ich das beschreiben? Ich vergesse, was ich gerade getan habe oder was ich zu tun habe. Und ich lasse es einfach auf mich zukommen.

Wie findet sich dieser Moment der Ruhe?

(zögert erneut) Ich glaube durch Hören. Einfach zu hören, das hilft mir.

>

Auftrittstermine und weitere Informationen zu William Youn unter: www.williamyoun.com 

William Youn im Gespräch zum ersten Album seiner Gesamteinspielung der Klaviersonaten von Franz Schubert unter: CRESCENDO.DE

Fotos: Irène Zandel