Wolfgang Rihm
»Ich suche das pflanzliche Wachstum«
13. März 2022
Nein, der Komponist Wolfgang Rihm ist nicht zum Biologen mutiert, er sucht schlichtweg das Organische. Zu seinem 70. Geburtstag blickt er zurück und nach vorne.
Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Wolfgang Rihm, irgendwie noch immer in unseren Köpfen als ‚der junge Wilde‘, der wie kein anderer die Avantgarde aus dem ästhetischen Elfenbeinturm der verordneten Dissonanz, der sinnlichen Verweigerung herausnötigte – Wolfgang Rihm ist 70! Wie oft hat man versucht, ihn zu verorten, seine stilistische Entwicklung in Phasen zu kategorisieren, Ordnung in seine schöpferische Unordnung zu bringen. Hoffnungslos! Rihm ist total unkategorisierbar, nie kann man wissen, was ihm als Nächstes einfliegt, zufällt, welche Volte sogleich folgt oder auch nicht. Auch eine schwere Krebserkrankung konnte ihn nur vorübergehend aus der Bahn werfen, und wichtiger als sich davon zu erholen war ihm offenkundig das Wiederaufgreifen der kreativen Stränge seiner Imagination. Das Komponieren ist eine einsame Tätigkeit, die zurückgezogene Disziplin fordert, doch für Rihm gehört der Austausch zum geistigen Leben wie die Luft zum Atmen. Ich traf ihn mit meinem Kollegen Florian Schuck in München, wo die von Winrich Hopp konzipierte musica-viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks ihm an vier Abenden eine Hommage feinster Art angedeihen ließ.
Wolfgang Rihm: Die Suche endet nie. Das hat sich nie geändert. Selbst jetzt, wo ich seit Sommer letzten Jahres nichts schreiben konnte.
Aufgrund der Krankheit, der Medikamente?
Natürlich hat mein Durchhaltevermögen dadurch abgenommen. Ich kann nicht mehr so lange ununterbrochen arbeiten. Aber es war auch die Corona-Situation, wo ich das Gefühl hatte, in eine Box hinein zu artikulieren, ohne Austausch. Alles war so monologisch geworden, in dieser nach wie vor sich allgemein verfinsternden Weltlage. Das ist momentan bei mir nicht schaffensauslösend. Aber ich bin zugleich zuversichtlich, dass es mir gelingt – indem ich diesen Engpass annehme und seiner eingedenk zu gestalten versuche –, dass daraus etwas anderes, Neues entstehen kann, das ich noch nicht kenne. Das letzte waren vier Gedichte von Albert Vigoleis Thelen, die Terzinen an den Tod, die ich für Georg Nigl komponiert habe, die vorgestern hier uraufgeführt wurden. Das ist das, was jetzt gerade noch gelungen ist.
»Wenn ich mich nicht einigele und abschotte, kann ich zu etwas gelangen, was ich noch nicht kenne.«
Wäre zu sagen, dass sich in Deinem Schaffen auf die lange Strecke gewissermaßen auch die Weltlage spiegelt? Also, aus hiesiger Perspektive, Ereignisse wie der Jugoslawien-Krieg, die deutsche Wiedervereinigung, 9⁄11 und im Nachgang der sogenannte ‚War on Terror‘?
Ich stehe nicht so über der Sache, dass ich das beurteile als der Fachmann für mein Wirken – auch im Rückblick: Ich überblicke das nicht, das Ganze ist subjektive Gewordenheit. Und heute brauche ich einfach mehr Zeit. Daran ist auch nichts Schlechtes. Ich nehme es an.
Wenn sich in Deiner Musik Tradition und Neues in einer Weise treffen, die nicht als Collage oder stilistische Fusion gelten kann, nicht als Fortentwicklung, sondern eher als ein Aufeinanderprallen, wie etwa in Deinem Vierten Streichquartett als einem Beispiel von vielen, könnte man dies treffend als ein Prinzip von Überschneidung bezeichnen.
Das ist das Geheimnis, dem ich auf der Spur bin. Aber ist toll, dass sich das so von außen zeigt. Mit dieser Beschreibung fühle ich mich, um mit Morgenstern zu reden, „warm verstanden“. Ich freue mich, dass es so erkennbar ist. Und dabei kann ich nicht sagen: „Genau das war mein Projekt!“ Oder meine Arbeitshypothese… Es ist ‚Das‘ geworden, und offensichtlich teilt sich das mit. Und das stärkt wieder mein Vertrauen in die Schwerkräfte des Gegebenen. Das heißt: Wenn ich mich den Anforderungen des Moments nicht verschließe, wenn ich mich nicht einigele und abschotte gegen das, was an Anforderungen der Zeit und meiner Kenntnis der Geschichte auf mich einstürmt, wenn ich mich dem nicht verschließe, dann kann ich da auch – ich sage jetzt ein unbedachtes Wort – unbeschadet durchgehen und zu etwas gelangen, was ich noch nicht kenne.
»Ich habe noch nie die Erfahrung gemacht, dass ein Wissen um historische Verfasstheiten mich in irgendeiner Weise lähmt.«
Florian Schuck: Arbeiten Sie bewusst mit historischem Material, haben Sie ein Gefühl von der Bewusstheit Ihrer Arbeit, oder überlassen Sie sich dabei dem spontanen Einfall und der Wirkung, die das historische Material, das historische Vorbild – also beispielsweise Brahms – auf Sie hat?
Es ist so, dass Spontaneität nicht Bewusstheit ausschließt. Bewusstheit und Spontaneität, finde ich, sind im Gegenteil einander bedingend. Wenn ich sage: intuitives Vorgehen auf der einen Seite und auf der anderen Seite historisches Aufarbeiten, dann bin ich auf der falschen Spur, das geht ineinander. Da ist keine Trennung, als arbeite ein Philologe im Nebenzimmer und als arbeite sozusagen ein ‚wilder Künstler‘, der mit Farben um sich schmeißt, und jetzt bringen wir die zusammen. Das ist alles in einem zu verstehen. Und Spontaneität ist für mich kein Widerspruch zu Kenntnis und Erfahrung historischer Voraussetzungen. Ich habe noch nie die Erfahrung gemacht, dass ein Wissen um historische Verfasstheiten mich in irgendeiner Weise lähmt. Sondern es hat mich immer in meiner Subjektivität gesteigert.
Man kann am Phänomen Rihm gut sehen, wie die grundsätzliche Ausrichtung die Geister ruft, die die Vision wahr werden lassen können. Von jung an hatte er die Neigung, sich als Universalist zu verwirklichen, also musikalisch möglichst alles zur Verfügung zu haben und benutzen zu können. Rihm schließt nicht aus, sondern ein, und das unterscheidet ihn. Nicht immer wurde dies als eine förderliche Anlage gesehen. Und nach wie vor, die damit Hand in Hand gehende Unvorhersehbarkeit führt so ganz ins Offene. Ich ertappe mich selbst im Konzert des BR-Symphonieorchesters unter Ingo Metzmacher dabei, wie die zersplitternde Faktur der Stücke des Sängers für Harfe und Ensemble mir komplett sinnlos erscheint. Ich komme gar nicht hinein, wogegen mir der so ganz gegenständlich gefasste Wahnsinn der Wölfli-Lieder oder die durchbrochene Faktur der In-Schrift mit ihren melodischen Bögen spontan mitvollziehbare Orientierung vermitteln. Wo sieht Rihm sich heute hingehen? Was schwebt ihm vor? Was hat er Wesentliches noch nicht ausdrücken können in seiner Musik?
Ich sage ganz offen: Ich habe kein Projekt, ich sehe nur Möglichkeiten und ich sehe, ich rede ganz offen, wenn es jetzt aufhören würde, dann würde nicht ein Projekt verhindert, sondern es würden schlicht viele Möglichkeiten ungenutzt bleiben. Es ist immer wieder der Doppelpunkt: Da kommt sicher noch etwas, ich glaube und spüre es auch, da kommt sicher noch etwas, aber ich könnte nicht sagen: Das wird kommen, und wenn ich daran verhindert bin, dann fehlt das in der Welt. Ich erlebe mich als eine generative Einheit. Ich bringe etwas hervor und da sind noch Möglichkeiten. Es sind auch Möglichkeiten für andere noch da, das wahrzunehmen.
»Ich kann durch vieles zum Klingen gebracht werden, das mir widerfährt.«
Florian Schuck: Ich muss gerade an Peter Altenberg denken, der ein Buch schrieb mit dem Titel: Was der Tag mir zuträgt. Ist das auch eine Haltung, die Sie als Künstler einnehmen?
Peter Altenberg schätze ich sehr, aber ich bin nicht nur an dieser Zufälligkeit des sich Gestaltenden, sondern auch an meinem Zutun als Gestalter interessiert. Altenberg hat das natürlich auch bezogen auf seine vielen Liebschaften, die alle durchweg schmetterlingsartig durch die Cafés gelebt wurden. Das ist eine Lebensform, die ich mit einem gewissen Lächeln bewundern darf, aber nicht selber einnehmen kann, denn ich bin, wenn ich es einmal so sagen darf, schwerlebiger. Ich bin nicht so melancholisch wie Altenberg, aber ich bin auch nicht so flatterhaft.
Du sprichst von Dir als Einheit…
Ja, es ist natürlich eine Hoffnung…
Und Du sprichst natürlich von Vielfalt der Perspektiven. Es würde mich interessieren, was darin die Grundweltsicht ist: „Ich gehe als Einheit durch eine Welt voller Vielfalten“?
Ich kann durch vieles zum Klingen gebracht werden, das mir widerfährt. Ich kann vieles auch beantworten, nicht nur mit ja und nein, sondern auch mit differenzierterer Sichtweise. Ich sehe mich nicht als den Träger eines Prinzips, sondern als eine durchlässige, für die Eindrücke empfängliche Figur. Jetzt fällt mir ein, wie einmal ein Lehrer, ein Geistlicher, ein Kaplan meinen Eltern gesagt hat: Der Wolfgang ist so begabt, aber er lässt sich so leicht beeinflussen. Da waren sie so beunruhigt. Daran erinnere ich mich gerade im Moment. Ich konnte nicht sagen: „Das stimmt doch gar nicht, mich interessiert gar nichts, ich gehe geradeaus.“ Aber da war ich noch sehr klein, ungefähr acht Jahre alt.
Florian Schuck: Es ist interessant, wie die Persönlichkeit eines Menschen sich schon in jungen Jahren zeigt und von der Umwelt sehr wohl bemerkt wird.
Andererseits hat man mir immer nachgesagt, dass ich sehr willensbetont sei und immer alles durchsetze, was ich will.
Vielleicht hast Du einfach als Aufnehmender einen starken Verdauungsapparat.
Das hoffe ich sehr!
Es ist schon auffällig, dass Du Dich als Komponist tatsächlich viel mit anderer Musik beschäftigt hast, was man von vielen Kollegen nicht sagen kann.
Das tun die auch, die sagen es nur nicht!
Ja, aber sie beschäftigen sich fast alle eher mit den „normalen“ Komponisten, mit populärer Musik vielleicht, aber dass man sich so hineinbegibt und die Ränder des Bekannten erforscht, das ist ungewöhnlich.
An den Rändern des Bekannten zeigt sich immer etwas, was im Bekannten verborgen ist, was niemand dort wahrnimmt. Wenn Du zum Beispiel Musik von Heinrich Kaminski hörst, kannst Du natürlich sagen: Er hat einen relativ begrenzten Sprachduktus, aber darin zeigt sich eine unglaubliche Tiefe der polyphonen Durchdringung.
Was heißt relativ begrenzt?
Florian Schuck:Da sind wir wohl beim „Fuchs“ und beim „Igel“: „Der Fuchs kennt“, laut antikem Sprichwort, „viele Dinge, der Igel aber eine große Sache.“
Kaminski ist insofern ein Igel, absolut. Ich bin lieber ein Fuchs, der sich einigelt.
Bei Kaminski geht es ja auch um das fortwährende Strömen, das Außer-Kraft-Setzen der metrischen Dominanz. Da ist ein klarer Anknüpfungspunkt. In der Tradition artikulierte sich das Unregelmäßige als Gegensatz zum Regelmäßigen. Bei Dir ist schon der Ausgangspunkt irregulär, da bist Du natürlich Kind Deiner Zeit. Was ist Deine intuitive Sicht dieser Sache?
Ich suche das Organische, letztlich suche ich das pflanzliche Wachstum. Und da ist der Begriff des Regulären bzw. Irregulären sowieso problematisch. Im pflanzlichen Wachstum gibt es, selbst wenn es „regulär“ ist, nichts Getaktetes im Sinne einer nicht-abweichenden Regularität.
»Die Möglichkeit einer leichteren Sicht, die will ich mir erarbeiten.«
Du hast Dir über die ganze Zeit der Krisen hinweg, fast bis zuletzt, Dein Schreiben erhalten. Diese Kontinuität zeigt ja die Vitalkräfte, aber auch die innere Ausrichtung. Jetzt stelle ich mir angesichts dessen die Frage: Was ist bei Dir das Natürliche, das, was leicht fallen würde?
Das suche ich.
Wie ist es, wenn wir jetzt an einen Punkt der Überschneidung kommen: Überschneidung ist ja vielleicht auch „Verrückung“. Vielleicht gibt es einen befreienden Weg darin.
Genau das ist, was ich für eine nächste Arbeit suche.
Eine Ausrückung?
Ich möchte eine Ausrückung. Ich möchte aus mir und dem Bild, das ich selber habe, ausrücken: eine Ausfahrt, exakt das ist das Projekt! Aber es lässt sich so schwer realisieren. Ich habe vor, ein Orchesterstück zu machen für ein ganz normales Orchester, also keine große Besetzung. Aus Luzern haben sie mich schon lange danach gefragt, Riccardo Chailly will es auch dirigieren. Aber ich komme nicht dazu. Natürlich kann ich Dinge, die mir bereits gelungen sind, in gewisser Weise erneut darstellen, aber das will ich nicht. Genau das, was Du soeben gesagt hast: Die Möglichkeit einer leichteren Sicht, die will ich mir erarbeiten.
Wäre das nicht mit einer Vorstudie in kleiner Besetzung möglich?
Ja, daran bin ich ständig. Ich versuche ständig, ein Werk in kleiner Besetzung „loszuschicken“. Aber die Gedanken kommen ständig zurück und verlangen nach schwerer Kost. Zurzeit klappt es einfach nicht. Ich habe ja am Anfang unseres Gesprächs gesagt, dass ich zuversichtlich bin. Ich kriege es irgendwann einmal in einer Gestalt geformt. Was dann herauskommt ist eben das, was ich noch nicht kenne. Aber es ist exakt diese andere Gangart, diese „durchlüftete“ Gangart, die ich suche!
Wolfgang Rihm: „Sphäre nach Studie, Stabat Mater, Male über Male 2“, Christian Gerhaher, Tabea Zimmermann, Jörg Widmann, Mitglieder des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Stanley Dodds (BR Klassik)
Weitere Informationen zu dem Album unter: CRESCENDO.DE
Wolfgang Rihm: „Jagden und Formen“, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Franck Ollu (BR Klassik)
Weitere Informationen zu dem Album unter: CRESCENDO.DE
Eleonore Büning: „Wolfgang Rihm. Über die Linie. Die Biographie“ (Benevento Verlag)
Weitere Informationen zur Biografie unter: CRESCENDO.DE