Wolfgang Rihm

»Ich suche das pflanz­liche Wachstum«

von Christoph Schlüren

13. März 2022

Nein, der Komponist Wolfgang Rihm ist nicht zum Biologen mutiert, er sucht schlichtweg das Organische. Zu seinem 70. Geburtstag blickt er zurück und nach vorne.

Wahn­sinn, wie die Zeit vergeht. , irgendwie noch immer in unseren Köpfen als ‚der junge Wilde‘, der wie kein anderer die Avant­garde aus dem ästhe­ti­schen Elfen­bein­turm der verord­neten Disso­nanz, der sinn­li­chen Verwei­ge­rung heraus­nö­tigte – Wolf­gang Rihm ist 70! Wie oft hat man versucht, ihn zu verorten, seine stilis­ti­sche Entwick­lung in Phasen zu kate­go­ri­sieren, Ordnung in seine schöp­fe­ri­sche Unord­nung zu bringen. Hoff­nungslos! Rihm ist total unka­te­go­ri­sierbar, nie kann man wissen, was ihm als Nächstes einfliegt, zufällt, welche Volte sogleich folgt oder auch nicht. Auch eine schwere Krebs­er­kran­kung konnte ihn nur vorüber­ge­hend aus der Bahn werfen, und wich­tiger als sich davon zu erholen war ihm offen­kundig das Wieder­auf­greifen der krea­tiven Stränge seiner Imagi­na­tion. Das Kompo­nieren ist eine einsame Tätig­keit, die zurück­ge­zo­gene Diszi­plin fordert, doch für Rihm gehört der Austausch zum geis­tigen Leben wie die Luft zum Atmen. Ich traf ihn mit meinem Kollegen Florian Schuck in , wo die von Winrich Hopp konzi­pierte musica-viva-Reihe des Baye­ri­schen Rund­funks ihm an vier Abenden eine Hommage feinster Art ange­deihen ließ.

Wolf­gang Rihm: Die Suche endet nie. Das hat sich nie geän­dert. Selbst jetzt, wo ich seit Sommer letzten Jahres nichts schreiben konnte.

Aufgrund der Krank­heit, der Medi­ka­mente?

Natür­lich hat mein Durch­hal­te­ver­mögen dadurch abge­nommen. Ich kann nicht mehr so lange unun­ter­bro­chen arbeiten. Aber es war auch die Corona-Situa­tion, wo ich das Gefühl hatte, in eine Box hinein zu arti­ku­lieren, ohne Austausch. Alles war so mono­lo­gisch geworden, in dieser nach wie vor sich allge­mein verfins­ternden Welt­lage. Das ist momentan bei mir nicht schaf­fens­aus­lö­send. Aber ich bin zugleich zuver­sicht­lich, dass es mir gelingt – indem ich diesen Engpass annehme und seiner einge­denk zu gestalten versuche –, dass daraus etwas anderes, Neues entstehen kann, das ich noch nicht kenne. Das letzte waren vier Gedichte von Albert Vigo­leis Thelen, die Terzinen an den Tod, die ich für kompo­niert habe, die vorges­tern hier urauf­ge­führt wurden. Das ist das, was jetzt gerade noch gelungen ist.

»Wenn ich mich nicht einigele und abschotte, kann ich zu etwas gelangen, was ich noch nicht kenne.«

Wäre zu sagen, dass sich in Deinem Schaffen auf die lange Strecke gewis­ser­maßen auch die Welt­lage spie­gelt? Also, aus hiesiger Perspek­tive, Ereig­nisse wie der Jugo­sla­wien-Krieg, die deut­sche Wieder­ver­ei­ni­gung, 911 und im Nach­gang der soge­nannte ‚War on Terror‘?

Ich stehe nicht so über der Sache, dass ich das beur­teile als der Fach­mann für mein Wirken – auch im Rück­blick: Ich über­blicke das nicht, das Ganze ist subjek­tive Gewor­den­heit. Und heute brauche ich einfach mehr Zeit. Daran ist auch nichts Schlechtes. Ich nehme es an.

Wenn sich in Deiner Musik Tradi­tion und Neues in einer Weise treffen, die nicht als Collage oder stilis­ti­sche Fusion gelten kann, nicht als Fort­ent­wick­lung, sondern eher als ein Aufein­an­der­prallen, wie etwa in Deinem Vierten Streich­quar­tett als einem Beispiel von vielen, könnte man dies tref­fend als ein Prinzip von Über­schnei­dung bezeichnen.

Das ist das Geheimnis, dem ich auf der Spur bin. Aber ist toll, dass sich das so von außen zeigt. Mit dieser Beschrei­bung fühle ich mich, um mit Morgen­stern zu reden, „warm verstanden“. Ich freue mich, dass es so erkennbar ist. Und dabei kann ich nicht sagen: „Genau das war mein Projekt!“ Oder meine Arbeits­hy­po­these… Es ist ‚Das‘ geworden, und offen­sicht­lich teilt sich das mit. Und das stärkt wieder mein Vertrauen in die Schwer­kräfte des Gege­benen. Das heißt: Wenn ich mich den Anfor­de­rungen des Moments nicht verschließe, wenn ich mich nicht einigele und abschotte gegen das, was an Anfor­de­rungen der Zeit und meiner Kenntnis der Geschichte auf mich einstürmt, wenn ich mich dem nicht verschließe, dann kann ich da auch – ich sage jetzt ein unbe­dachtes Wort – unbe­schadet durch­gehen und zu etwas gelangen, was ich noch nicht kenne.

»Ich habe noch nie die Erfah­rung gemacht, dass ein Wissen um histo­ri­sche Verfasst­heiten mich in irgend­einer Weise lähmt.«

Florian Schuck: Arbeiten Sie bewusst mit histo­ri­schem Mate­rial, haben Sie ein Gefühl von der Bewusst­heit Ihrer Arbeit, oder über­lassen Sie sich dabei dem spon­tanen Einfall und der Wirkung, die das histo­ri­sche Mate­rial, das histo­ri­sche Vorbild – also beispiels­weise Brahms – auf Sie hat?

Es ist so, dass Spon­ta­neität nicht Bewusst­heit ausschließt. Bewusst­heit und Spon­ta­neität, finde ich, sind im Gegen­teil einander bedin­gend. Wenn ich sage: intui­tives Vorgehen auf der einen Seite und auf der anderen Seite histo­ri­sches Aufar­beiten, dann bin ich auf der falschen Spur, das geht inein­ander. Da ist keine Tren­nung, als arbeite ein Philo­loge im Neben­zimmer und als arbeite sozu­sagen ein ‚wilder Künstler‘, der mit Farben um sich schmeißt, und jetzt bringen wir die zusammen. Das ist alles in einem zu verstehen. Und Spon­ta­neität ist für mich kein Wider­spruch zu Kenntnis und Erfah­rung histo­ri­scher Voraus­set­zungen. Ich habe noch nie die Erfah­rung gemacht, dass ein Wissen um histo­ri­sche Verfasst­heiten mich in irgend­einer Weise lähmt. Sondern es hat mich immer in meiner Subjek­ti­vität gestei­gert.

Man kann am Phänomen Rihm gut sehen, wie die grund­sätz­liche Ausrich­tung die Geister ruft, die die Vision wahr werden lassen können. Von jung an hatte er die Neigung, sich als Univer­sa­list zu verwirk­li­chen, also musi­ka­lisch möglichst alles zur Verfü­gung zu haben und benutzen zu können. Rihm schließt nicht aus, sondern ein, und das unter­scheidet ihn. Nicht immer wurde dies als eine förder­liche Anlage gesehen. Und nach wie vor, die damit Hand in Hand gehende Unvor­her­seh­bar­keit führt so ganz ins Offene. Ich ertappe mich selbst im Konzert des BR-Sympho­nie­or­ches­ters unter dabei, wie die zersplit­ternde Faktur der Stücke des Sängers für Harfe und Ensemble mir komplett sinnlos erscheint. Ich komme gar nicht hinein, wogegen mir der so ganz gegen­ständ­lich gefasste Wahn­sinn der Wölfli-Lieder oder die durch­bro­chene Faktur der In-Schrift mit ihren melo­di­schen Bögen spontan mitvoll­zieh­bare Orien­tie­rung vermit­teln. Wo sieht Rihm sich heute hingehen? Was schwebt ihm vor? Was hat er Wesent­li­ches noch nicht ausdrü­cken können in seiner Musik?

Ich sage ganz offen: Ich habe kein Projekt, ich sehe nur Möglich­keiten und ich sehe, ich rede ganz offen, wenn es jetzt aufhören würde, dann würde nicht ein Projekt verhin­dert, sondern es würden schlicht viele Möglich­keiten unge­nutzt bleiben. Es ist immer wieder der Doppel­punkt: Da kommt sicher noch etwas, ich glaube und spüre es auch, da kommt sicher noch etwas, aber ich könnte nicht sagen: Das wird kommen, und wenn ich daran verhin­dert bin, dann fehlt das in der Welt. Ich erlebe mich als eine gene­ra­tive Einheit. Ich bringe etwas hervor und da sind noch Möglich­keiten. Es sind auch Möglich­keiten für andere noch da, das wahr­zu­nehmen.

»Ich kann durch vieles zum Klingen gebracht werden, das mir wider­fährt.«

Florian Schuck: Ich muss gerade an Peter Alten­berg denken, der ein Buch schrieb mit dem Titel: Was der Tag mir zuträgt. Ist das auch eine Haltung, die Sie als Künstler einnehmen?

Peter Alten­berg schätze ich sehr, aber ich bin nicht nur an dieser Zufäl­lig­keit des sich Gestal­tenden, sondern auch an meinem Zutun als Gestalter inter­es­siert. Alten­berg hat das natür­lich auch bezogen auf seine vielen Lieb­schaften, die alle durchweg schmet­ter­lings­artig durch die Cafés gelebt wurden. Das ist eine Lebens­form, die ich mit einem gewissen Lächeln bewun­dern darf, aber nicht selber einnehmen kann, denn ich bin, wenn ich es einmal so sagen darf, schwer­le­biger. Ich bin nicht so melan­cho­lisch wie Alten­berg, aber ich bin auch nicht so flat­ter­haft.

Du sprichst von Dir als Einheit…

Ja, es ist natür­lich eine Hoff­nung…

Und Du sprichst natür­lich von Viel­falt der Perspek­tiven. Es würde mich inter­es­sieren, was darin die Grund­welt­sicht ist: „Ich gehe als Einheit durch eine Welt voller Viel­falten“?

Ich kann durch vieles zum Klingen gebracht werden, das mir wider­fährt. Ich kann vieles auch beant­worten, nicht nur mit ja und nein, sondern auch mit diffe­ren­zier­terer Sicht­weise. Ich sehe mich nicht als den Träger eines Prin­zips, sondern als eine durch­läs­sige, für die Eindrücke empfäng­liche Figur. Jetzt fällt mir ein, wie einmal ein Lehrer, ein Geist­li­cher, ein Kaplan meinen Eltern gesagt hat: Der Wolf­gang ist so begabt, aber er lässt sich so leicht beein­flussen. Da waren sie so beun­ru­higt. Daran erin­nere ich mich gerade im Moment. Ich konnte nicht sagen: „Das stimmt doch gar nicht, mich inter­es­siert gar nichts, ich gehe gera­deaus.“ Aber da war ich noch sehr klein, ungefä acht Jahre alt.

Florian Schuck: Es ist inter­es­sant, wie die Persön­lich­keit eines Menschen sich schon in jungen Jahren zeigt und von der Umwelt sehr wohl bemerkt wird.

Ande­rer­seits hat man mir immer nach­ge­sagt, dass ich sehr willens­be­tont sei und immer alles durch­setze, was ich will.

Viel­leicht hast Du einfach als Aufneh­mender einen starken Verdau­ungs­ap­parat.

Das hoffe ich sehr!

Es ist schon auffällig, dass Du Dich als Kompo­nist tatsäch­lich viel mit anderer Musik beschäf­tigt hast, was man von vielen Kollegen nicht sagen kann.

Das tun die auch, die sagen es nur nicht!

Ja, aber sie beschäf­tigen sich fast alle eher mit den „normalen“ Kompo­nisten, mit popu­lärer Musik viel­leicht, aber dass man sich so hinein­be­gibt und die Ränder des Bekannten erforscht, das ist unge­wöhn­lich.

An den Rändern des Bekannten zeigt sich immer etwas, was im Bekannten verborgen ist, was niemand dort wahr­nimmt. Wenn Du zum Beispiel Musik von Hein­rich Kaminski hörst, kannst Du natür­lich sagen: Er hat einen relativ begrenzten Sprach­duktus, aber darin zeigt sich eine unglaub­liche Tiefe der poly­phonen Durch­drin­gung.

Was heißt relativ begrenzt?

Florian Schuck:Da sind wir wohl beim „Fuchs“ und beim „Igel“: „Der Fuchs kennt“, laut antikem Sprich­wort, „viele Dinge, der Igel aber eine große Sache.“

Kaminski ist inso­fern ein Igel, absolut. Ich bin lieber ein Fuchs, der sich einigelt.

Bei Kaminski geht es ja auch um das fort­wäh­rende Strömen, das Außer-Kraft-Setzen der metri­schen Domi­nanz. Da ist ein klarer Anknüp­fungs­punkt. In der Tradi­tion arti­ku­lierte sich das Unre­gel­mä­ßige als Gegen­satz zum Regel­mä­ßigen. Bei Dir ist schon der Ausgangs­punkt irre­gulär, da bist Du natür­lich Kind Deiner Zeit. Was ist Deine intui­tive Sicht dieser Sache?

Ich suche das Orga­ni­sche, letzt­lich suche ich das pflanz­liche Wachstum. Und da ist der Begriff des Regu­lären bzw. Irre­gu­lären sowieso proble­ma­tisch. Im pflanz­li­chen Wachstum gibt es, selbst wenn es „regulär“ ist, nichts Getak­tetes im Sinne einer nicht-abwei­chenden Regu­la­rität.

»Die Möglich­keit einer leich­teren Sicht, die will ich mir erar­beiten.«

Du hast Dir über die ganze Zeit der Krisen hinweg, fast bis zuletzt, Dein Schreiben erhalten. Diese Konti­nuität zeigt ja die Vital­kräfte, aber auch die innere Ausrich­tung. Jetzt stelle ich mir ange­sichts dessen die Frage: Was ist bei Dir das Natür­liche, das, was leicht fallen würde?

Das suche ich.

Wie ist es, wenn wir jetzt an einen Punkt der Über­schnei­dung kommen: Über­schnei­dung ist ja viel­leicht auch „Verrü­ckung“. Viel­leicht gibt es einen befrei­enden Weg darin.

Genau das ist, was ich für eine nächste Arbeit suche.

Eine Ausrü­ckung?

Ich möchte eine Ausrü­ckung. Ich möchte aus mir und dem Bild, das ich selber habe, ausrü­cken: eine Ausfahrt, exakt das ist das Projekt! Aber es lässt sich so schwer reali­sieren. Ich habe vor, ein Orches­ter­stück zu machen für ein ganz normales Orchester, also keine große Beset­zung. Aus haben sie mich schon lange danach gefragt, will es auch diri­gieren. Aber ich komme nicht dazu. Natür­lich kann ich Dinge, die mir bereits gelungen sind, in gewisser Weise erneut darstellen, aber das will ich nicht. Genau das, was Du soeben gesagt hast: Die Möglich­keit einer leich­teren Sicht, die will ich mir erar­beiten.

Wäre das nicht mit einer Vorstudie in kleiner Beset­zung möglich?

Ja, daran bin ich ständig. Ich versuche ständig, ein Werk in kleiner Beset­zung „loszu­schi­cken“. Aber die Gedanken kommen ständig zurück und verlangen nach schwerer Kost. Zurzeit klappt es einfach nicht. Ich habe ja am Anfang unseres Gesprächs gesagt, dass ich zuver­sicht­lich bin. Ich kriege es irgend­wann einmal in einer Gestalt geformt. Was dann heraus­kommt ist eben das, was ich noch nicht kenne. Aber es ist exakt diese andere Gangart, diese „durch­lüf­tete“ Gangart, die ich suche!

Wolf­gang Rihm: „Sphäre nach Studie, Stabat Mater, Male über Male 2“, , , , Mitglieder des Sympho­nie­or­ches­ters des Baye­ri­schen Rund­funks, Stanley Dodds (BR Klassik)

Weitere Infor­ma­tionen zu dem Album unter: CRESCENDO​.DE

Wolf­gang Rihm: „Jagden und Formen“, , Franck Ollu (BR Klassik)

Weitere Infor­ma­tionen zu dem Album unter: CRESCENDO​.DE

Eleo­nore Büning: „Wolf­gang Rihm. Über die Linie. Die Biogra­phie“ ( Verlag)

Weitere Infor­ma­tionen zur Biografie unter: CRESCENDO​.DE

Fotos: Astrid Ackermann, Universal Edition / Picasa