Yannick Nézet-Séguin
Elektrisch aufgeladen
9. September 2022
Yannick Nézet-Séguin leitet das Chamber Orchestra of Europe bei den neun Sinfonien Ludwig van Beethovens und schafft eine elektrisierende Interpretation.
Manchmal klingt es, als würden geradezu elektrische Funken sprühen: Beim Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin liegt in diesen Live-Aufnahmen das Stimmengeflecht der Beethoven-Sinfonien nackt und bloß, lauter unisolierte Drähte unter Hochspannung, zwischen denen es blitzt, dass man zuweilen zurückschrecken möchte vor der schieren Menge an gefährlicher Energie. Und dennoch lässt niemals ein Kurzschluss alles dunkel werden. Eine überschaubare, stets transparent klingende Besetzung agiert in historisch informiertem Klangbild, hält frische, aber nie forcierte Tempi ein und überrascht immer wieder mit nuancierten Farben und Artikulationsarten.
Nézet-Séguin will offenbar möglichst jedem Detail zu seinem Recht verhelfen, verzichtet aber dennoch auf bloß plakative Superlativismen. Als Basis fungiert eine genaue Lektüre des Notentexts auf aktuellem Forschungsstand. Da gilt keineswegs ein „Schneller, Greller, Lauter“, ein beständiges Überbieten allen Bisherigen: Gerade dynamische Rückstufungen vom Fortissimo zum bloßen Forte sind deutlich hörbar, etwa am Ende des Stirnsatzes der Zweiten, und machen dort merkwürdig ironischen Effekt. Überhaupt kommt der grimmige Humor nicht zu kurz. Die Aufnahme ist, natürlich, kein Beethoven der romantischen Einhegung, sondern des unablässig revolutionären Untertons – sofern der Appell zum Umsturz nicht ohnehin lautstark und beinah atemlos verkündet wird. Im Stirnsatz der Fünften führt das zu den vermutlich kürzesten Fermaten der Plattengeschichte: Rastlos, wie in einem Taumel zieht das Werk vorüber, und wer will, kann noch im Kontrafagott, das im tiefsten Klanggrund des Finales röhrt, das unstillbare revolutionäre Brodeln vernehmen. Gewöhnlich stoßen Originalklangkonzepte in der Neunten an ihre Grenzen. Hier reagiert Nézet-Séguin, wenn man so will, am konservativsten, und das im guten Sinne: Er lässt sich vor allem mehr Zeit, vermittelt zwischen der Strenge der Metronomzahlen und der Tiefe der Musik – zu deren Vorteil.
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Dirigenten und Pianisten Yannick Nézet-Séguin auf: yannicknezetseguin.com