Alexander Krichel
Der Mafioso mit den blauen Augen
21. November 2021
Alexander Krichel ist Pianist, und gefährlich sieht er wirklich nicht aus. Im Gegenteil. An den Tasten aber wird er kühn, angriffslustig, geradezu draufgängerisch. Dabei von extrem hoher Sensibilität.
Kaum ein Monat ist vergangen, seit Alexander Krichel für die Aufnahme von Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung im Sendesaal Bremen war, da spielt er Anfang Juni 2021 im kleinen, feinen Kulturzentrum Bosco in der Nähe von München nach vorausgegangenem Lockdown zum zweiten Mal live vor Publikum – eben jenen Zyklus. Und als ersten Programmpunkt: die Sturm-Sonate Ludwig van Beethovens. Nein, das sei kein Zufall, den gäbe es nicht, man dürfe sie jedoch nicht seine Corona-Sonate nennen. Immerhin aber spielte er sie im August 2020 beim weltweit ersten klassischen Konzert in einem Autokino, am Seilersee in Hochheim, begleitet von allerlei Vogelgezwitscher und Beifall per kollektivem Hupen, dann Anfang September in der Hongkonger Hotel-Quarantäne, danach in Bonn, im Dezember in Essen – und schließlich eben in Gauting.
Es war eine der ersten Sonaten, die Krichel im Alter von 14 oder 15 gespielt hatte. Und weil Beethoven – um ihn intellektuell und emotional zu pushen – einen Schüler aufgefordert hatte, den Sturm zu lesen, hat er sich Shakespeares Stück vorgenommen und versucht, darin die Musik zu finden: „Den rezitativischen Anfang könnte man ‚Die Ruhe vor dem Sturm‘ nennen. Er hat etwas von Licht im Klang und eine große Präsenz, das zweite Thema ist dann die Antizipation von Sturm ganz allgemein. Und der beherrscht schließlich das Finale.“
»Die Arbeit der Menschen, die immer wieder eine todgeweihte Beziehung aufbauen, finde ich unglaublich bewundernswert.«
Im April 2021 spielte Krichel einmal mehr in einem Hospiz in Rumänien ein Benefizkonzert – was er schon häufig getan hatte. Zum ersten Mal mit 13, dann immer wieder, denn „schon in jungen Jahren ist mir der Tod oft begegnet: Ich war 17, als mein erster Agent starb. Meinen ersten wichtigen Lehrer, Wladimir Krainew, habe ich noch wenige Stunden vor seinem Tod gesehen, da war ich 22. All diese Menschen konnten aus eigener Kraft Lebewohl sagen. Später habe ich oft erlebt, dass bei alten Menschen der Gedanke aufkommt: ‚Ich sollte jetzt sterben, damit ich meinen Kindern nicht zur Last falle.‘ Dieser Idee wirkt das Hospiz entgegen, weil es den Angehörigen hilft. Die Arbeit dieser Menschen, die immer wieder eine todgeweihte Beziehung aufbauen, sich selbst ausliefern und durchlässig sein müssen, das finde ich unglaublich bewundernswert. Es ist vielleicht die wichtigste Arbeit, die es gibt!“
Wir kommen auf die Aufnahmesitzungen des jüngsten Albums zu sprechen, auf der die fast halbstündige Suite Nummer zwei von George Enescu die perfekte Hinführung zu Mussorgsky ist: „Ich war nach zwei Tagen durch und am dritten Tag komplett frei, gelöst und ganz in der Musik. Aus diesem Take haben wir das Allermeiste genommen. Essenziell sind die jeweiligen Pausen zwischen Bild und Promenade, also ob man ‚attacca‘ spielt, ob man den Puls weiter spürt oder kontrastiert. Der Energiefluss oder ‑wechsel innerhalb von ein paar Sekunden, das geht mit kleinen Takes nicht. Gerade weil ich so eine starke Verbindung mit dem Stück habe, wollte ich, dass es so authentisch wie möglich wird.“ An einem Tag spielte er dreimal komplett durch, hörte zwischendurch in der Kabine ab, wiederholte das ein oder andere rein Technische, um schließlich am letzten Tag nur eine einzige Version am Vormittag einzuspielen, obwohl der Rest des Tages noch übrig war. Aber „da spürte ich, dass es nicht besser wird – technische Perfektion hin oder her. Der Flow während der ganzen Aufnahme war wunderbar. Wenn ich eine Stelle sechsmal hintereinander spiele, und es kommt vielleicht Version fünf auf die CD, dann ist das nur ein Zufallstreffer. Da ist nichts von mir drin, nichts Philosophisches, kein Gedanke.“
»Melancholie ist eine Form des Glücks – in der Trauer, im Leid. Da spürt man die eigene Existenz wie sonst nie.«
Schon lange hat Krichel den Zyklus im Repertoire, aber jetzt war die Zeit reif: „Wenn ich Das Heldentor in der alten Hauptstadt Kiew höre, dann überläuft mich ein Schauer und ich habe Tränen in den Augen. Vielleicht hat das auch mit meiner Hospizarbeit zu tun und damit, wie oft mir der Tod in meinem Leben begegnet ist. Die Baba-Jaga kann ja auch eine Metapher für eine Krankheit sein, die man vor dem Tod durchleidet. Das Ende ist das einer Reise, und das kann auch der Tod sein. Die Promenade erklingt in den Glocken das letzte Mal. Da ist man frei. Es steckt so viel in dem Stück: Lustiges wie in Die spielenden Kinder im Streit oder ganz dunkle Momente wie in Die Katakomben. Am Ende löst sich alles auf und die Summe ist wieder null. Das ist wie bei einer Nahtoderfahrung.“
Der Tod sei in unserer Kultur so negativ besetzt, bedauert Krichel und betont: „Ich musste eine Vorstellung davon entwickeln, was mit den geliebten Menschen, die mich verlassen haben, geschehen ist, wo die jetzt sind. Das große Tor, die letzte Promenade, die mit dem Bild verschmilzt, das ist der Abschied. Ich verlasse die Ausstellung, aber nicht durch den Haupteingang!“ Dass die Welt hier zusammenbreche, lehnt er vehement ab: „Nein! Es geht um die Vereinigung von Gegensätzen wie ‚Der Weg ist das Ziel‘ oder ‚Lachen unter Tränen‘. Melancholie ist auch nichts Negatives, sondern eine Form des Glücks – in der Trauer, im Leid. Da spürt man die eigene Existenz wie sonst nie.“
Faszinierend vor diesem Hintergrund ist auch das digitale Hongkong-Quarantäne-Tagebuch: Krichel zwei Wochen lang täglich im Hotel am Klavier, spielend und redend, im Hintergrund immer die Skyline der Stadt, mal im Regen, mal in der Sonne, mal tagsüber, mal nachts. Je regelmäßiger man zuhört, desto perfekter wird die Optik, desto mehr wird man neben dem „Roommate Quarantino“, also dem Klavier, auch selbst zu Alexander Krichels virtuellem Mitbewohner. Ein guter Freund von ihm gab eines Abends zu bedenken: „Du hast da heute ein paar Sachen gesagt, so richtig Tiefgründiges, da fragt man sich schon: Schaffst du das noch eine Woche?“
Weil man im Gespräch so schnell ins kontemplativ Philosophische gerät, kann man kaum glauben, wie umtriebig der 32-Jährige einst war: Trilingual aufgewachsen mit einer italienischen Mutter, einem deutschen Vater und einem Großvater, der in Rumänien Botschafter war, studierte er lange in London. Weil er dort einen großen, vorwiegend französischen Freundeskreis hatte, lernte er eben Französisch. Und Spanisch gleich noch dazu – in Venezuela. Er weiß um sein Talent für Sprachen: „Ein, zwei Tage höre ich zu, und dann fange ich an zu sprechen!“ Als Jungstudent war er in Mathematik, Biologie und Physik eingeschrieben, heute leitet er neben seiner pianistischen Tätigkeit auch zwei kleine Festivals: „Kultur rockt!“ in einer Scheune im Sauerland und „Kammermusik am Hochrhein“ an der deutsch-schweizerischen Grenze.
»Tschaikowsky geht in die französische Richtung, bei Rachmaninow badet man im pathetischen Klang, während bei Prokofjew das Perkussive im Vordergrund steht.«
Es liegt wohl nicht nur an seinen beiden russischen Lehrern, dass Krichel zu Tschaikowsky, Rachmaninow oder Prokofjew eine so enge Beziehung hat, auch wenn sie für ihn sehr unterschiedlich sind: „Tschaikowsky geht eher in die französische Richtung, bei Rachmaninow badet man im pathetischen Klang, aber er hat auch was Amerikanisches, während Prokofjew total trocken ist – bei ihm steht das Kriegerische und Perkussive im Vordergrund.“ Auch das fasziniert Krichel, der selbst viele Facetten hat: „Krainew, der mein Feuer zum Leuchten gebracht hat, sagte zu mir: ‚Bei anderen muss ich reichlich gießen, damit die Pflanze wächst, dich eher stutzen. Du siehst so unschuldig norddeutsch mit deinen blauen Augen und blonden Haaren aus, spielst aber wie die italienische Mafia.‘“ Und lachend ergänzt Krichel: „Ich bin ja auch Halb-Sizilianer!“ Dmitri Alexejew, bei dem er anschließend in London studierte, war dagegen „very British“, weshalb für ihn die Abfolge der beiden russischen Lehrer genau die richtige war.
Vielleicht war ihm, weil das Klavier ein so perkussives Instrument ist, „der singende Klang, den Rachmaninow braucht“, immer besonders wichtig: „Das wollte ich auf die Spitze treiben. Ich spiele Lieder, die für Gesang komponiert sind, und – singe!“ Deshalb hat er auch zwei seiner Alben Liedbearbeitungen gewidmet: In „Frühlingsnacht“ (2013) wandelt er auf den Spuren von Schubert, Schumann und Mendelssohn, meist in Klavierbearbeitungen von Franz Liszt. Unter dem Titel „An die ferne Geliebte“ (2019) steht der gleichnamige Beethoven-Zyklus im Vordergrund. Isoldes Liebestod beschließt die CD. Mit Juliane Banse und der von ihr gesungenen und getanzten Schubert’schen Winterreise tourt Alexander Krichel nach wie vor als Liedpianist durch die Lande.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Alexander Krichel unter: alexanderkrichel.de
Weitere Informationen zum Sommerfestival Kultur rockt unter: www.kultur-rockt.com
Weitere Informationen zur Kammermusik am Hochrhein unter: www.kammermusik-am-hochrhein.de