Samir Amarouch, Catherine Lamb & Francesca Verunelli
Wolfsgeheul, Hundegebell und das Schweigen der Sirenen
von Ruth Renée Reif
28. Februar 2020
Samir Amarouch, Catherine Lamb und Francesca Verunelli erhalten die Komponisten-Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung 2020.
Samir Amarouch, Catherine Lamb und Francesca Verunelli erhalten die Komponisten-Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung 2020.
Die Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung gehen an drei KomponistInnen, die mit ihren Werken an Schnittstellen, Kreuzungspunkten und Schwellen agieren. Samir Amarouch geht in seinen Kompositionen den zufällig und unbeabsichtigt auftretenden Klängen bei der Digitalisierung von Natur nach. Catherine Lamb untersucht in ihren Werken das Zusammenwirken von Klängen der urbanen Umgebung, des Publikums und der Komposition. Und Francesca Verunelli stellt in ihren Arbeiten die Frage, wie sich Klänge in die Zeitlichkeit einschreiben.
Klänge der Natur
Findet in der Natur seine Inspiration: Samir Amarouch
(Foto und Fotos oben: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Samir Amarouch lässt sich von der Natur inspirieren. Woran sich seine Fantasie entzündet, ist das Unvermögen, die Natur digital nachzubilden. Die Fehler die bei diesem Prozess auftreten, greift er auf für seine kompositorische Arbeit. So dienen ihm die Laute und Klänge, die bei der Digitalisierung von Natur zufällig und unbeabsichtigt zu hören sind und an etwas Anderes denken lassen als die ursprünglichen Klänge der Natur, als Ausgangsmaterial.
Vogelstimmen
Lauscht dem Gesang der Vögel und Zikaden: Samir Amarouch
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Sein Studium absolvierte Amarouch, der zudem ausgebildeter Konzertpianist ist, am Conservatoire national supérieur de musique et de danse in Paris. Für seine Komposition Appel für Cembalo und Elektronik, die 2017 uraufgeführt wurde, verwendete er die Aufnahmen von Vogelstimmen, die er mit Hilfe eines Computers bearbeitete.
Wolfsgeheul in den Glissandi
In der im selben Jahr entstandenen Komposition Analogies für 16 Musiker ahmen akustische Instrumente eine digitalisierte Natur nach. Dabei geschah es, dass aus den Glissandi von Horn und Fagott plötzlich Klänge zu vernehmen waren, die Amarouch an Wolfsgeheul erinnerten.
Wie ein Wolfsrudel umkreisen die Orchestergruppen das Quintett
Erinnert sich an das vertraute Geheul der Wölfe: Samir Amarouch
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Er hatte sich die Glissandi zunächst nur im Kopf vorgestellt. Beim Anhören aber nahmen sie eine ihm vertraute Klanggestalt an, und er hörte Wolfsgesänge. Dieses Klangerlebnis regte ihn 2018 zu seiner Komposition Area für Bläserquintett und Orchester an. Wie ein Wolfsrudel umkreisen darin die Orchestergruppen das solistische Quintett.
Elektronisches Funkeln oder Vogelstimmen
Die Fehler, die während des Digitalisierungsprozesses passierten, könne man als synthetische Klänge wahrnehmen oder als Zikaden, erläutert Amarouch. Als elektronisches Funkeln oder Vogelstimmen. Als Weißes Rauschen oder das Atmen eines Tieres. So nehmen Amarouchs Werke den Zuhörer mit auf die Reise durch virtuelle und zugleich reale Tierwelten.
Gemeinsam musikalische Welten schaffen
Angeregt von der Fähigkeit des Gehörs, seinen eigenen Klang zu produzieren: Catherine Lamb
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Catherine Lamb stützt sich bei ihren Werken auf eine erstaunliche Fähigkeit des menschlichen Gehörs. Wie die 2009 verstorbene Komponistin und Installationskünstlerin Maryanne Amacher feststellte, produziert das Gehör jeweils seinen eigenen Klang. Für Lamb bedeutet diese Erkenntnis, dass der Hörer teilhat am Werk. Hörer, Musiker und Komponisten schaffen gemeinsam musikalische Welten.
Im Zusammenspiel mit Geräuschen der Stadt und des Publikums
Studierte hindustanische Musik im indischen Pune: Catherine Lamb
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Mit ihren Arbeiten öffnet Lamb einen Hörraum, der das Publikum in einen Zustand der Des- und Neuorientierung versetzt. Ihr Studium absolvierte sie nach einer Ausbildung in hindustanischer Musik im indischen Pune an der Milton Avery School of Fine Arts am Bard College in New York.
Schafft mit Hörern und Musikern gemeinsame musikalische Welten: Catherine Lamb
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Prisma Interius IV entstand im Zusammenspiel einer Aufführung mit den Geräuschen der Stadt und des Publikums. Das Stück ist Teil eine Serie für Synthesizer, Instrumente und Stimmen, an der Lamb seit 2017 arbeitet.
Inneres Prisma
Die urbane Klanglandschaft mit ihren Geräuschen wie Hundegebell oder Sirenen wird, vom Synthesizer live gefiltert, in den Aufführungsraum hineingespielt. Mit den Gesprächen des Publikums tritt sie in eine Interaktion. Und inmitten dieses Klangraums schafft Lamb singende und spielend ein „inneres Prisma“.
Francesca Verunelli: Die zeitliche Dauer des Klangs
Begreift den Klang als Werkzeug, um sich die Zeit einzuschreiben: Frencesca Verunelli
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Francesca Verunelli begreift den Klang als ein Werkzeug, um sich in die Zeit einzuschreiben. Der zeitlichen Dauer des Klangs könne man sich nicht entziehen, betont sie. Vernehme man einen Klang, höre man notwendigerweise auch seine zeitliche Form. Die klassische harmonische Syntax stellt für Verunelli lediglich einen Weg dar, um die Zeit durch ein System von Beziehungen zu strukturieren. Auch die Frage der Klangfarben existiere nicht außerhalb der Zeit.
Welche Richtung schlägt die Musik aus eigener Kraft ein?
Verunelli absolvierte ein Kompositionsstudium am Konservatorium „Luigi Cherubini“ in Florenz. Dem schloss sich ein Kompositionsmeisterkurs an der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom an. In ihrer Komposition Five Songs (Kafka’s Sirens) stellt sie, ausgehend von Kafkas Erzählung vom Schweigen der Sirenen, die Frage, was an vokalem Ausdruck bleibe, wenn keine Person mehr singe. Welche Richtung schlage die Musik aus eigener Kraft ein.
Das Weiterleben elektronischer Zeitlichkeit
Forscht nach, was von Elektronik bleibt ohne elektronische Klänge: Francesca Verunelli
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
In der Komposition Man Sitting at the Piano für Flöte, Klavier und Elektronik, die 2017 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde, geht es für Verunelli um die Frage, was die Elektronik ohne irgendwelche elektronischen Klänge sei. Sie habe der Elektronik all ihre Klänge abstreifen wollen, um nur ihre zeitliche Essenz zu behalten, erläutert sie. Was bleiben sollte, ist eine elektronische Zeitlichkeit, die in klassischen Klängen weiterlebt.
Extremes Tempo lenkt das Augenmerk auf die Zeit
Sowohl das Klavier als auch die Flöten werden auf klassische Weise gespielt. Das Augenmerk sollte völlig auf die Zeit gerichtet sein. Die Flöte spielt dichte mikrotonale Akkorde. Während aufgrund des extremen Tempos des Klavierspiels der Eindruck entsteht, als mische sich das Klavier in die Harmonien der Flöte.
Flüchtige harmonische Wahrnehmung
Versetzt den Zuhörer in eine sich ständig wandelnde Position: Francesca Verunelli
(Foto: © Rui Camilo / EvS Musikstiftung)
Zugleich ermöglicht die extreme Geschwindigkeit eine flüchtige harmonische Wahrnehmung. Als Zuhörer befindet man sich dadurch in einer sich ständig wandelnden Position. In der harmonischen Wahrnehmung lässt das Unbestimmtheiten und Zweideutigkeiten auftauchen. Das Werk ist Teil eines Zyklus. Beim Klangforum Wien kam im Februar 2020 der dritte Teil Wo.man Sitting at the Piano II zur Uraufführung.
Weiterwirken der Ideen des Visionärs John Cage
Zu erleben ist in den Arbeiten aller drei PreisträgerInnen ein wunderbares Weiterwirken der Ideen des Visionärs John Cage. Er war es, der mit dem Orakelbuch I Ging dem Zufall im Kompositionsprozess Raum gab. Er war es, der, angeregt von Robert Rauschenbergs Weißen Bildern, mit seinem Stück 4′ 33″ Verkehrsgeräusche, den Wind und das Gemurmel des Publikums zur Komposition werden ließ. Und er war es, der sich in seiner Auseinandersetzung mit Beethoven, Satie und Webern auf die Seite von Satie und Webern schlug und die Zeit anstelle der Harmonik als strukturbildendes Element der Musik hervorhob.
Aktuelle Aufführungstermine des Komponisten Samir Amarouch: www.samir-amarouch.com
Der Komponistin Catherine Lamb: https://sacredrealism.org/catlamb/
Und der Komponistin Francesca Verunelli: www.francescaverunelli.com
Den Ernst von Siemens Musikpreis 2020 erhielt Tabea Zimmermann Ein Gespräch mit ihr finden Sie auf crescendo.de
Alle PreisträgerInnen werden am 11. Mai 2020 im Münchner Prinzregententheater bei einem Festakt geehrt. Das Ensemble Resonanz spielt Analogies von Samir Amarouch, eine überarbeitete Fassung von Color residua von Catherine Lamb und einen Auszug aus Cinemaolio von Francesca Verunelli. Tabea Zimmermann spielt auf der Bratsche Werke von Luciano Berio, György Kurtág und Benjamin Britten.
Die Preisverleihung wird im Video-Livestream auf www.evs-musikstiftung.ch und auf www.br-klassik.de übertragen.