Anita Rachvelishvili
Mit der Stimme Bilder malen
von Stefan Sell
22. August 2021
Anita Rachvelishvili verfügt über ein Timbre, das unter die Haut geht. Ihr Gesang ist fordernd und vollmundig. Auf ihrem Album „Élégie“ stellt sie den georgischen Komponisten Otar Taktakishvili vor.
Mit 25 gab sie ihr Rollendebut an der Mailänder Scala, und das gleich bei Saisoneröffnung. Nicht in irgendeiner Rolle, nein, in der Rolle! Sie ist die Carmen, die auf einen Schlag alle begeistert. Sie ist die Carmen, die über Nacht berühmt wird. Sie ist die Carmen, von der man dachte, man kenne sie, nur um festzustellen, sie hat Facetten, die bislang unentdeckt geblieben waren. Unter der Leitung ihres „Entdeckers“ Daniel Barenboim zog sie 2009 an der Seite von Jonas Kaufmann mit Triumph in die Opernwelt ein. Von da an ging es nonstop an die Met und alle weiteren großen Häuser der Welt: Berlin, München, Dresden, San Francisco, Chicago, Turin, Verona, London, Paris, Wien…
Was wie ein Märchen klingt, verdankt sie ihrem Selbstvertrauen und ihrer tatkräftigen Entschiedenheit. Sie arbeitet mit einer Ernsthaftigkeit und Disziplin, die ihrer heiteren Seite, ihrer lebensfrohen Spielfreudigkeit, der Kunst zu experimentieren in nichts nachsteht. Von wem hier die Rede ist? Von der georgischen Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili.
»Otar Taktakishvili der Welt als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts vorzustellen, der sehr moderne Musik, aber auch sehr melodische Musik schrieb, das war ein Ziel.«
Ihr Album Élégie verhilft Liedern in Tieflage – zum Teil wurden sie für Bariton geschrieben – zu ungeahnten Höhenflügen. Ob die elegisch umwehte Melancholie eines Henri Duparc (Chanson triste) oder die vokalen Bravourstucke eines Francesco Paolo Tosti (Non t’amo più) – Rachvelishvili hat eine feinfühlige Auswahl getroffen, die sie mit vollkommener Stilsicherheit, in perfekter Diktion und Hingabe vorzutragen weiß.
In fünf Sprachen umkreist sie die Welt des Liedes mit dem deliziösen Farbspiel ihres zauberhaft empfindsam dunklen Timbres. Wie bei ihrem Erstling stellt sie uns mit Otar Taktakishvili wieder einen georgischen Komponisten vor. Sein Lied Mzeo Tibatvis („Sonne des Heumonds“) wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Aufnahmen. Für viele Neuland, das sie – von Rachvelishvili geführt – nur allzu gerne betreten sollten.
„Otar Taktakishvili der Welt als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts vorzustellen, der sehr moderne Musik, aber auch sehr melodische Musik schrieb, das war ein Ziel. Er komponierte auch Klavierkonzerte und Sinfonien. Dieses Lied ist Teil eines Liedzyklus, der vor vielen Jahren auf Russisch eingesungen wurde, aber in Georgisch gab es bisher noch keine Aufnahme. Es ein Gedicht eines bei uns in Georgien sehr bekannten Dichters, dessen Verse in die Tiefe gehen. Mit dem Auf und Ab der Sonne fand er ein unglaublich schönes Bild für unser Leben. Für meine Stimmlage ist das Lied sehr gut geeignet.“
Wie unter ein Motto gestellt, eröffnet das Album Tschaikowskis wundervolles Nur wer die Sehnsucht kennt, gefolgt von Rachmaninoffs Sing mir nicht, meine Schöne, die traurigen Lieder aus Georgien – die Sehnsucht wäre zu groß. Schließlich Manuel de Falla, der mit seinen berühmten Siete canciones populares españolas das exquisite Tableau vollendet. Wenn als letzter Gesang de Fallas Polo verklungen ist, hat man das Gefühl, soeben „cante jondo“, Flamenco pur gehört zu haben. Fordernd, vollmundig, dunkel, feurig und temperamentvoll. Man spürt, Rachvelishvili weiß stimmlich in allen Farben zu malen.
Hat sie Duende? Anita Rachvelishvili muss herzlich lachen, sagt sofort „Ja“, macht eine Pause und setzt immer noch lachend ein „vielleicht“ dazu. Duende ist im spanischen Flamenco ein Begriff, der letztlich unübersetzbar ist. Er meint die Fähigkeit, etwas ausdrucken zu können, was weit mehr als eine handwerklich richtige Ausführung ist. Duende bedeutet, wahrhaft besessen zu sein von dem, was man tut. Wer Duende hat, singt nicht, er wird zum Gesang. Es ist die Balance zwischen Enthusiasmus, Gefühl, Ausdruckskraft und absoluter Authentizität – und die verkörpert Rachvelishvili.
»Ich habe diese Stücke schon viele Male gesungen. Sie sind einfach wunderschön, fordern meine Stimme, und ihre Komponisten haben in die Musik das eingebracht, was mir wichtig ist.«
Auch im Gespräch zeigt sie sich voller Lebensfreude, sie ist offen und präsent, lacht gerne und ist, was ihren Gesang betrifft, einzigartig fokussiert in dem exakten Wissen, was und wohin sie will. Gleichzeitig verliert sie nie den Blick für das Ganze. All die Sprachen, die sie singt, spricht sie auch. „Das macht alles viel leichter. Man muss nicht während des Singens denken, was das eigentlich bedeutet, und konzentriert sich einzig auf die Musik, den Charakter und den Melodiefluss. Doch waren nicht die verschiedenen Sprachen der Grund für die Auswahl des Repertoires, sondern vielmehr meine Liebe zu all den Stücken. Ich habe sie schon viele Male gesungen. Sie sind einfach wunderschön, fordern meine Stimme, und ihre Komponisten haben in diese Musik tatsächlich das eingebracht, was mir wichtig ist.“
Von einem Star werden die Karrierestufen immer wieder hervorgehoben, die gewonnenen Preise, die großen Erfolge. Sie ist ein echter Star, vielleicht eine der wenigen Ausnahmestimmen, die Geschichte schreiben werden. Wie hat ihr Leben begonnen? „Ich bin in einer sehr armen Familie geboren, während des Krieges in Georgien, einer Zeit voller politischer Wirren. Das war eine schwere Zeit, ohne Essen, ohne Elektrizität, ohne Heizung – es gab einfach nichts. Das alles war sehr, sehr schwierig für ein Kind meiner Generation. Es war nicht leicht auszugehen. Wir saßen einfach fest in unseren Häusern, nicht in der Lage, irgendwo hinzukommen, einzig mit anderen Kindern vor der Tür zu spielen. Es gab keinerlei Transportmöglichkeiten, zudem war es extrem gefährlich, irgendwo in der Stadt unterwegs zu sein. Ich hatte eine Kindheit mit vielen finanziellen und sozialen Noten.
Wir trafen uns mit den Nachbarn, saßen zusammen, spielten miteinander und teilten das Essen, das irgendwer für diesen Abend zubereitet hatte. Wir sprachen über das Leben, machten aber auch Witze und sangen und tanzten. In gewisser Weise war es eine Werteschule für das Leben. Heute, nach all diesen Schwierigkeiten, spüre ich, dass ich ganz genau weiß, was ich für mein Leben möchte. Es gibt nichts, was mich mehr ängstigen kann, es kann nichts Schlimmeres kommen als das – hoffentlich. Ich bin für alles bereit.“
Gibt es etwas, was in ihrem Leben mindestens einmal passieren sollte? Sie lacht: „. Ich finde, Familie gehört dazu, und die habe ich. Und gerade bin ich schwanger – das ist zum Beispiel eine Sache, die auf jeden Fall sein muss. Du brauchst jemanden, der dich liebt und den du liebst, der dir folgt und dich unterstützt. Die Welt zu sehen, ist, wie ich finde, ebenfalls ein Muss, und das tue ich gerade auf meinen Reisen. Und einmal muss ich unbedingt die Tosca singen.“ Wieder lacht sie. „Ich würde gerne einmal Sopran singen, einfach nur so, aus reinem Spaß.“ Wieder lacht sie herzlich. Wenn jetzt ihr erstes Kind kommt – wie viele sollen es werden? Da muss sie noch einmal lachen: „Vielleicht fünf? In jedem Fall viele.“
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Anita Rachvelishvili unter: www.anitarachvelishvili.com