Christian Thielemann

Klang gewor­dene Noblesse

von Walter Weidringer

18. Oktober 2022

Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker nützten den Pandemie-Lockdown, um alle Sinfonien Anton Bruckners einzuspielen.

Ihre erste Aufnahme aller Bruckner-Sinfo­nien mit einem einzigen Diri­genten, nämlich , für Bild und Ton fest­ge­halten im Wiener Musik­verein und in Salz­burgs Großem Fest­spiel­haus: Auch im 21. Jahr­hun­dert sind die noch für Novi­täten im herkömm­li­chen Reper­toire gut. Die leeren Termin­ka­lender während des Lock­downs machten es möglich, auch die Nullte und die Studi­en­sin­fonie zu inklu­dieren, weshalb die Unter­neh­mung nun unter „Bruckner 11“ firmiert.

Aufnahme von Anton Bruck­ners Erster Sinfonie im Goldenen Saal des Wiener Musik­ver­eins und der Siebten Sinfonie im Salz­burger Fest­spiel­haus: Chris­tian Thie­le­mann am Pult der Wiener Phil­har­mo­niker

Bei der Ersten, im Februar 2021 im leeren Goldenen Saal des Musik­ver­eins aufge­nommen, hat sich Thie­le­mann für die 18901891 vorge­nom­mene Wiener Über­ar­bei­tung des Werks entschieden, eine heute viel­leicht über­ra­schende Wahl. Denn waren lange Zeit eher die Versionen letzter Hand maßgeb­lich, bei der Dritten und der Vierten beson­ders, hat sich das Inter­esse mitt­ler­weile auf die meist kühneren, raueren Erst­fas­sungen verla­gert. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert nach der Entste­hung der Ersten hört man jeden­falls in der Conclusio des Finales den späten Bruckner, der viel stärker auf Verklä­rung und Monu­men­ta­lität zielt, während der mit Anfang 40 zwar nicht mehr blut­junge, aber doch unbe­küm­mert-toll­kühne Kompo­nist sozu­sagen auf schnau­bendem Ross im Galopp durch die Flammen ins C‑Dur-Ziel geritten ist. Aller­dings hat Thie­le­mann hier so etwas wie die Quadratur des Kreises im Sinn. Ohne dass er sich mit Mittel­wegen und Kompro­missen abgeben würde, will er einfach beides: Er kehrt an der Über­ar­bei­tung das Aufmüp­fige, Wider­bors­tige, Krasse hervor, schärft die Kanten und die extremen, aufein­an­der­pral­lenden Gegen­sätze, selbst wenn diese hier eigent­lich schon etwas geglättet sind – und animiert das Orchester dennoch zu einer geschmei­digen Innig­keit der Tonge­bung und einer Ausdrucks­tiefe, als ginge es um die Achte. Und wirk­lich, nament­lich das Adagio zele­brieren die wendigen, hinge­bungs­voll aufein­ander lauschenden Phil­har­mo­niker mit einer Innig­keit, die der Sinfonie sonst nicht zuteil­werden kann mit ihrer Über­fülle an Themen und Gestalten, ihren teils monu­men­talen Blöcken, teils genia­lisch verschro­benen Orna­menten. Unge­achtet der Stei­ge­rungen des Kopf­satzes, des Höhe­punkts im fantas­ti­schen Adagio und des bedroh­lich spukenden Scherzos arbeitet Thie­le­manns Drama­turgie zuerst auf den über­ra­schenden, elek­tri­sie­renden E‑Dur-Durch­bruch im Finale hin, der die Wende bringt und den strah­lenden Schluss in C‑Dur ermög­licht.

Schon dadurch ergibt sich eine Verbin­dung zur Sinfonie Nummer sieben E‑Dur, die auf der zweiten Scheibe als Mitschnitt von den Salz­burger Fest­spielen 2021 mitzu­er­leben ist. Erneut zielt Thie­le­mann mit eher gemes­senen, in Summe aber auch stets flexi­blen Tempi ins Große, ja Mythi­sche. Genießen und auskosten, die Über­gänge betont zärt­lich und sanft model­lieren, die Kontraste im Rahmen der Schön­heit schärfen, im Ganzen stei­gern und noch mehr stei­gern: So ließe sich seine Inter­pre­ta­ti­ons­ma­ximen zusam­men­fassen. Auch Canta­bile kann man ins Monu­men­tale über­höhen. Die Wiener folgen ihm dabei auf Schritt und Tritt, setzen noch den kleinsten Wink des Diri­genten um – und agieren dennoch völlig frei, suhlen sich in Klang gewor­dener Noblesse, scheinen sich am eigenen Sound zu berau­schen. Auf den Unter­schied zwischen dem Bruckner der Staats­ka­pelle Dresden und jenem der Wiener Phil­har­mo­niker ange­spro­chen, meinte Thie­le­mann einmal, die Wiener seien halt das katho­li­sche Orchester im Gegen­satz zu den protes­tan­ti­schen Dresd­nern, in Wien gebe es mehr Weih­rauch. Wenn dem so ist, zele­briert Thie­le­mann hier als Bruckner-Kardinal in Prun­kornat ein Hochamt im Dom.