Benjamin Appl & Reinhard Goebel
Absolutes Schönheitsideal
von Roland H. Dippel
30. September 2020
Benjamin Appl und Reinhard Goebel widmen sich mit den Berliner Barock Solisten den Kantaten Bachs und seiner Söhne.
Benjamin Appl und Reinhard Goebel widmen sich mit den Berliner Barock Solisten den Kantaten Bachs und seiner Söhne.
Reinhard Goebel hüllt zwei geistliche und eine weltliche Kantate sowie zwei Orchesterstücke in milde und berückende Klänge von himmlischen Längen. Aus der maßvoll und deshalb höchst wirkungsvoll gesteigerten musikalischen Verzückung vernimmt man Todessehnsucht und lebensbejahende Freude als inneren Jubel.
Suche nach Gemeinsamkeiten
Die Einspielung dieser fünf Werke – inklusive der von Peter Wollny im Archiv der Johanneskirche in Mügeln entdeckten und hier als Ersteinspielung vorgelegten Kantate Ich bin vergnügt mit meinem Stande von Carl Philipp Emanuel Bach – sucht die Gemeinsamkeiten, weniger die Unterschiede zwischen dem Thomaskantor und seinen Söhnen: dem in Hamburg zum Nachfolger Telemanns gewordenen Carl Philipp Emanuel, dem „Bückeburger Bach“ Johann Christoph Friedrich und dem die letzten Jahre seines unsteten Lebens freischaffenden Wilhelm Friedemann – hier mit seiner ebenfalls von Wollny entdeckten Sinfonie B‑Dur.
Das letzte Wort für Vater Bach
Am Ende hat Vater Bach das letzte Wort mit der Kantate Ich habe genug, nicht in der alten Wortgestalt „genung“. Das ist programmatisch für dieses Album: Goebel fordert alle gesicherten Erkenntnisse des historisch informierten Musizierens für ein Spiel auf neuen Instrumenten, aber er vermeidet Archaismen. Damit nivellieren sich auch die akustischen Unterschiede zwischen den Komponisten-Generationen, allerdings zur großen Freude der Hörer: Benjamin Appl gleitet durch die pastellfarbenen Schaumperlen dieses Cremebads und zeigt dabei eine deutlich modellierende Diktion, die mehr der musikalischen Kontur, als dem inhaltlichen Sinn der Worte gilt.
Zärtlicher Hedonismus
Zwei emotional aufgeladene Höhepunkte setzt er: Der erste ereignet sich über den Streicherlinien des Rezitativs, in dem Pygmalion nach den Versen Karl Friedrich Ramlers die erste Bewegung von Augen und Büste der von ihm geschaffenen und durch die Götter belebten Statue entdeckt. Die Freude auf den Tod ist in der „Genu(n)g“-Kantate bereits durch das bewegte Tempo figuriert. Goebel, Appl und die Berliner Barock Solisten entfalten in diesem berühmten Werk einen zärtlichen Hedonismus, der die Grenzen von Anlass und Wirkung der letzten Arie verschwinden lässt. Diese Berückung befreit vom dramatisch-metaphysischen Kontext und feiert ein fast absolutes Schönheitsideal.